Ganztagsschule im Saarland: „Vom Ganztag profitieren alle“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Fast alle allgemeinbildenden Schulen im Saarland haben Ganztagsangebote. Über deren hohen Stellenwert für die Förderung der Schülerinnen und Schüler und elterliche Wahlfreiheit spricht Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot im Interview.

Christine Streichert-Clivot
Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot © MBK/T. Wieck

Online-Redaktion: Frau Ministerin, das Saarland steht beim Ausbau der Ganztagsschulen bundesweit sehr gut da. Wie schätzen Sie den derzeitigen Stand ein?

Christine Streichert-Clivot: Der Ausbau von Ganztagsangeboten hat für mich einen hohen Stellenwert. Bildung im Ganztag besitzt viele Vorteile für alle Beteiligten und sorgt insgesamt für mehr Bildungsgerechtigkeit, das ist sehr wichtig für mich. Schülerinnen und Schüler können im Ganztag besser individuell und entsprechend ihrer Bedürfnisse gefördert werden – das gilt sowohl für Schülerinnen und Schüler, die an manchen Stellen vielleicht nicht so gut mitkommen, als auch für Schülerinnen und Schüler, die anderen voraus sind. Am Ende profitieren alle, auch die Eltern. Denn Bildung im Ganztag erleichtert insbesondere für viele Frauen, die nach wie vor einen großen Teil der Sorgearbeit übernehmen und häufiger beruflich zurückstecken, ganz erheblich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Insofern sind ganztägige Bildungs- und Betreuungsangebote immer auch ein Beitrag zur tatsächlichen Gleichstellung von Männern und Frauen.

Deshalb bin ich sehr froh, dass wir an fast allen allgemeinbildenden Schulen im Saarland inzwischen ein Ganztagsangebot haben. Entweder in Form einer gebundenen, ich würde auch sagen einer „echten“ Ganztagsschule mit Unterricht am Nachmittag oder in einer Freiwilligen Ganztagsschule. Letztere sind Halbtagsschulen mit einem freiwilligen Nachmittagsangebot, das in aller Regel über externe Partner der Schulen organisiert wird. Der Ganztag wird insgesamt stark nachgefragt, wobei ich mehr Wahlfreiheit für Eltern befürworten würde. Dafür brauchen wir landesweit noch mehr „echten“ Ganztag an unseren Schulen.

Im Schuljahr 2021/2022 wird außerdem eine Europäische Schule in Saarbrücken – als erste öffentliche Schule überhaupt – zunächst mit Schülerinnen und Schülern der Jahrgänge 1 und 5 jeweils in einer deutschen und einer englischen Sprachsektion starten und in den folgenden Jahren „hochwachsen“. Die Schülerinnen und Schüler werden an fünf Tagen pro Woche von 8.00 bis 16.00 Uhr unterrichtet.

Aula
„Aula Lebach“ des Geschwister-Scholl- und des Johannes-Kepler-Gymnasiums © Britta Hüning

Online-Redaktion: Wenn gebundene Ganztagsschulen als „echte Ganztagsschulen“ gelten: Wie sehen Sie die Frage von Freiwilligkeit und Verpflichtung?

Streichert-Clivot: „Echte“ Ganztagsschulen bieten gegenüber den Halbtagsschulen wegen der zeitlichen Ausweitung des Schulbetriebs deutlich bessere Möglichkeiten für individuelles fachliches und soziales Lernen. Auch für Lehrkräfte und sozialpädagogisches Personal ergeben sich im „echten“ Ganztag neue Möglichkeiten des Zugangs zu den Schülerinnen und Schülern. Die damit einhergehende veränderte Lehr- und Lernkultur erleichtert die Entwicklung von modernen Unterrichtsformen und unterstützt die Schülerinnen und Schüler in der Selbstorganisation ihres Lernens und in ihrer sozialen Entwicklung.

Das sind sehr gewichtige Vorteile gegenüber den freiwilligen Angeboten, die aber natürlich auch ihre Berechtigung haben. Wie gesagt, Eltern sollten eine echte Wahl haben. Auf der Grundlage einer landesweiten Schulentwicklungsplanung will die saarländische Landesregierung deshalb auch in den nächsten Jahren das Angebot an „echten“ Ganztagsschulen weiter ausbauen. Damit werden Eltern erst tatsächlich in die Lage versetzt, zwischen Halbtags- und unterschiedlichen Ganztagsschulen für ihre Kinder zu wählen.

Online-Redaktion: Gibt es regionale Unterschiede, zum Beispiel zwischen Städten und ländlichen Regionen?

Saarufer
Stadt am Fluss: Die Saar ist das Markenzeichen der Stadt. © Landeshauptstadt Saarbrücken

Streichert-Clivot: Grundsätzlich gibt es in allen Landkreisen und im Regionalverband sowohl „echte“ Ganztagsschulen als auch Freiwillige Ganztagsschulen. Gegenüber den eher ländlichen Regionen verfügen die saarländischen Städte, allen voran die Landeshauptstadt Saarbrücken, über ein deutlich größeres Angebot an gebundenen Ganztagsschulen. Kleinere Kommunen in eher ländlichen Regionen haben sich bislang mehr auf eine freiwillige Nachmittagsbetreuung an Halbtagsschulen konzentriert. Wir nehmen aber wahr, dass es ein deutliches Bestreben der kleineren Kommunen gibt, ihr Bildungsportfolio um den „echten“ Ganztag zu erweitern, mit dem Ziel, den Eltern eine Wahlfreiheit anbieten zu können. Dabei unterstützen wir die Kommunen natürlich, insbesondere bei der Planung, Antragstellung und Umsetzung. Land und kommunale Familie ziehen hier also an einem Strang.

Online-Redaktion: In den Freiwilligen Ganztagsschulen sind häufig der Arbeiter-Samariter-Bund und die Arbeiterwohlfahrt aktiv. Wie arbeiten Sie mit den Trägern zusammen, zum Beispiel in Fragen der Qualitätsentwicklung?

Streichert-Clivot: Durchgeführt wird die Nachmittagsbetreuung in den Freiwilligen Ganztagsschulen von einer Vielzahl von Maßnahmeträgern. Das sind beispielsweise die Träger der öffentlichen und freien Jugendhilfe oder andere in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erfahrene Träger. ASB und AWO sind da natürlich wichtige Partner für uns. Rechtliche Grundlage ist das Förderprogramm „Freiwillige Ganztagsschule“, in dem der Qualitätsrahmen etwa für die personelle, sächliche und räumliche Ausstattung oder für den zeitlichen Umfang des Angebots festgelegt ist. Um das Ganztagsangebot am jeweiligen Schulstandort umsetzen zu können, braucht es ein auf diesem Qualitätsrahmen aufbauendes pädagogisches Konzept, das gemeinsam von Schule und Maßnahmeträger erarbeitet wird.

Schüler und Lehrer bei der Hausaufgabenbetreuung
Hausaufgabenbetreuung in der Aula Lebach (Landkreis Saarlouis) © Britta Hüning

Es enthält unter anderem Angaben zur inhaltlichen Ausgestaltung, zu Ziel- und Schwerpunktsetzung des Angebotes. Dieses Konzept wird dann vom Ministerium für Bildung und Kultur geprüft. Außerdem soll das pädagogische Konzept mindestens zweimal im Jahr durch die Steuerungsgruppe, der beispielsweise Schulleitung, Vertreterinnen und Vertreter des Maßnahmeträgers und des Schulträgers angehören, überprüft werden und Empfehlungen zur Fortschreibung des Konzeptes erörtert werden. Eine enge und vertrauensvolle Kooperation mit unserem Fachreferat im Ministerium für Bildung und Kultur in allen Belangen, auch im Bereich der Personalisierung, ist hier ganz wichtig. Zusätzlich bekommen Schulen und Maßnahmeträger durch externe Evaluation Rückmeldungen zur Durchführung ihrer Ganztagsangebote. Unser Ziel ist eine stetige Weiterentwicklung in der Qualität.

Online-Redaktion: Welche Bedeutung hat aus Ihrer Sicht die Kooperation mit außerschulischen Partnern für Ganztagsschulen?

Streichert-Clivot: Unter den Aspekten Bildung, Erziehung und Betreuung entwickeln sich Ganztagsschulen für die Schülerinnen und Schüler mehr und mehr zu einem Ort des Lebens und Lernens. Wie wichtig der Ort Schule für viele Kinder und Jugendliche tatsächlich ist, sehen wir gerade in der Corona-Krise. Denn längst nicht alle haben zu Hause gute Lernbedingungen. Da geht es noch nicht einmal um die technische Ausstattung, sondern oft schlicht um Fragen wie: Habe ich einen Schreibtisch? Habe ich ein eigenes Zimmer, in dem ich in Ruhe lernen kann? Hinzu kommt, dass persönliche Beziehungen für die Entwicklung sehr wichtig sind. Die habe ich als Schülerin oder Schüler natürlich vor allem in der Schule selbst – nicht nur zu anderen Kindern und Jugendlichen und Lehrkräften, sondern im multiprofessionell arbeitenden Team etwa auch zu Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern, zu Förderschul- und Sprachförderlehrkräften oder zu anderen pädagogischen Fachkräften.

Titelbild Broschüre
© OGS Nalbach

Externe Partner spielen für die Arbeit im multiprofessionellen Team eine sehr wichtige Rolle. Das Angebot von Ganztagsschulen beinhaltet ja nicht nur Unterricht, Lernzeit und Mittagessen, sondern auch weitere sportliche, musisch-kulturelle und soziale Aktivitäten. Diese Aktivitäten können auch von außerschulischen Partnern innerhalb der Ganztagsschulen angeboten werden. Die zusätzlichen Angebote außerschulischer Partner sorgen für eine gute Vernetzung der Schule mit benachbarten Vereinen und Organisationen und steigern so die Qualität und Attraktivität des ganztägigen Angebots. Gerade in einer Zeit der Bewältigung der coronabedingten Belastungen der Schülerinnen und Schüler kommt diesen zusätzlichen Angeboten eine besondere Rolle zu – etwa bei den zusätzlichen Ferienangeboten. Sie wären ohne externe Partner in dem Ausmaß gar nicht möglich.

Online-Redaktion: Welche Unterstützungsangebote erhalten Ganztagsschulen für ihre Qualitätsentwicklung?

Streichert-Clivot: Den Schulen werden über das Landesinstitut für Pädagogik und Medien Beraterinnen und Berater zur Verfügung gestellt, die ihre Unterstützung bei der Ganztagsschulentwicklung anbieten. In der Regel erfolgt dies durch Beratungen, pädagogische Tage, Zukunftswerkstätten, Fortbildungen und Schulbesuche.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Seit 2009 haben auf www.ganztagsschulen.org regelmäßig Bildungsministerinnen und Bildungsminister in Interviews die Entwicklungen beim Ausbau der Ganztagsangebote in ihrem Land erläutert. Alle Interviews finden Sie in der Rubrik „Bildungspolitik: Interviews“.

 

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