Ganztagsangebote sind ein wichtiger Baustein der Bildung : Datum: Autor: Autor/in: Redaktion

„Es geht um das Aufstiegsversprechen in unserem Land.“ Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger im Interview über die Qualität der Bildung und gute Ganztagsangebote.

Online-Redaktion: Frau Bundesministerin, schon eine Woche nach Ihrer Ernennung im Dezember 2021 haben Sie sich im Deutschen Bundestag dafür ausgesprochen, dass der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung zügig kommt. Warum?

Bettina Stark-Watzinger: In Deutschland sind die Bildungschancen viel zu ungleich verteilt. Wir wollen mit bester Bildung mehr Aufstiegschancen schaffen – unabhängig vom Einkommen oder der Abiturquote des Elternhauses und des Wohnortes. Um gute Bildungschancen zu haben, ihr Leben gut zu bewältigen und an der Gesellschaft teilzuhaben, müssen Kinder früh gefördert werden. Wir brauchen schon in der Grundschule die besten Bildungsangebote. Der bundesweite Rechtsanspruch auf Ganztagsbildung im Grundschulalter ab 2026 ist ein richtiger Weg, und wir müssen ihn gut vorbereiten.

Das BMBF in Berlin
Das BMBF in Berlin © Bernadette Grimmenstein

Deswegen haben wir auch die Beschleunigungsmittel für den Ganztag um ein ganzes Jahr verlängert. Denn Investitionen brauchen ihre Zeit. Und jetzt wird in diesem Jahr das Investitionsprogramm Ganztagsausbau starten. Mehr als die Hälfte der Länder haben bereits unterzeichnet. Insgesamt stellt der Bund 3,5 Milliarden Euro für den Umbau und die Ausstattung von Gebäuden, Schulhöfen oder Sportanlagen für den Ganztag bereit. Doch es geht auch um die Qualität der Bildungsangebote. Der Ganztagskongress am 26. und 27. April stellt die Bedingungen einer kindgerechten Ganztagsbildung in den Vordergrund. Das finde ich sehr wichtig.

Online-Redaktion: Was heißt für Sie Qualität von Bildung?

Stark-Watzinger: Bildung hat dann eine hohe Qualität, wenn sie Kinder beim Lernen unterstützt, ihnen Selbstvertrauen, Kompetenzen und Motivation auf den Weg gibt, die sie zum Weiterlernen ermutigen und ihre Fähigkeiten zur Lebensbewältigung stärken. Zur Bildung gehört auch Beteiligung, Einübung in die Demokratie und Teilhabe an der Gesellschaft. Qualitätsstandards oder Qualitätsrahmen in den Ländern nennen viele konkrete Indikatoren für gute Schulen. Für Ganztagsangebote aber fehlen ähnlich ausgefeilte Standards. Der Ganztagskongress soll den Austausch darüber ermöglichen, auch zwischen unterschiedlichen Bereichen und Trägern.

Qualität der Bildung heißt für mich zudem Professionalität des Personals. Unsere Weiterbildungsinitiative für Erzieherinnen und Erzieher bezieht solche Fragen ein. Mit dem Aufstieg des digitalen Lernens werden wir zudem Qualität in der Bildung noch einmal neu beschreiben müssen. Lernen mit digitalen Medien bietet ganz neue Chancen des personalisierten Lernens und schülerorientierten Lehrens, also bessere individuelle Förderung – und genau das brauchen wir.

Vergessen möchte ich eins nicht: Die einzelne Schule ist für die Bildungsqualität entscheidend, das wissen wir schon lange aus der Schulqualitätsforschung. Nicht alles ist für alle gleich gut. Die Schulen selbst wissen am besten, was ihre Schülerinnen und Schüler brauchen. Daher heißt Qualität für mich auch, die Selbständigkeit der Schulen zu stärken.

Online-Redaktion: Warum sind Ganztagsangebote wichtig?

Schulhof Hüning
© Britta Hüning

Stark-Watzinger: Kürzlich haben uns Studien wie der IQB-Bildungstrend für den Primarbereich oder eine Studie über Jugendliche ohne Hauptschulabschluss erneut sehr deutlich gezeigt, wie viele Kinder und Jugendliche in unserem Land die Mindeststandards verfehlen. Jedes fünfte Kind, jeder fünfte Jugendliche kann nicht ausreichend lesen, schreiben oder rechnen. Damit kann ich mich nicht abfinden. Denn wem basale Kompetenzen fehlen, der hat weniger Chancen in der Gesellschaft. Ich erinnere an Ralf Dahrendorfs berühmte Schrift „Bildung ist Bürgerrecht“. Das war 1965. Das Buch hat in einer ähnlichen Umbruchsituation, wie wir sie jetzt erneut haben, einen Aufschrei verursacht. Unsere Gesellschaft hat eine Verpflichtung, das Bürgerrecht auf Bildung für alle zu sichern.

Ganztagsangebote lösen nicht das ganze Problem, aber sie sind ein Baustein in der Bildung von Kindern und Jugendlichen. Wenn es so ist, wie uns die Bildungsforschung sagt, dass gute Ganztagsangebote mehr Zeit und Gelegenheit für die individuelle Förderung bieten und die Motivation zum Lernen stärken können, sollten sie auch Grundkompetenzen stärken. Ganztagsangebote bieten ein Umfeld, in dem Bildung nicht Pauken heißt, sondern wirklich Bildung. Wer in einer Theater-AG mitmacht, wird auch zum Lesen motiviert. Wer ein Plakat in der Kunst-AG gestaltet, wird motiviert, zu schreiben. Wer in der Schulgarten-AG Verantwortung übernimmt oder mit der Schülerfirma sogar wirtschaftlich in der Region aktiv ist, lernt Fachliches und zugleich etwas für sein Leben. Immer wieder hören wir, dass Lehrkräfte überrascht sind, was Schülerinnen und Schüler, die sie als „schwach“ eingeschätzt haben, in AGs oder Projekten leisten. Genau darum geht es.

Online-Redaktion: Das BMBF kooperiert bei der Vorbereitung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung mit dem BMFSFJ. Welchen Part hat das BMBF?

Stark-Watzinger: Der Einstieg in den Ganztag verdankt sich oft dem Anliegen der Betreuung für Kinder berufstätiger Eltern, besonders in den alten Ländern. In den neuen Ländern ist das ein bisschen anders, dort hatten Ganztagsangebote immer auch selbstverständlich eine Bildungsfunktion, dort erwarten das die Eltern bis heute. Als Bundesbildungsministerium unterstützen wir die Bildung durch Ganztagsangebote.

Das können wir, weil wir inzwischen sehr viel Wissen über die Qualität des Ganztags erlangt haben. Denn wir haben viele Jahre lang die begleitende Forschung zum Ganztagsausbau gefördert. Auch das Ganztagsschulportal sorgt dafür, das länderübergreifende praktische Wissen aufzubereiten. Zuletzt haben wir Ergebnisse der Ganztagsschulforschung im „Qualitätsdialog“ zwischen Bildungsforschung, Bildungsverwaltung und Bildungspraxis zusammengetragen. All das bringen wir jetzt in diesen Prozess ein.

Online-Redaktion: Welche Herausforderung sehen Sie für eine gute Bildung für alle Kinder und Jugendlichen?

Sitzgruppe
© Britta Hüning

Stark-Watzinger: Kurz kann ich sagen: Wir brauchen mehr Chancengerechtigkeit, bessere Integration und schnellere Digitalisierung. Die Bereiche greifen ineinander. Schnellere Digitalisierung und mehr digitale Bildung sind auch eine Frage der Chancengerechtigkeit und befördern die Integration, vor allem für diejenigen, die bisher davon ausgeschlossen sind. Von digitaler Bildung müssen alle Kinder und Jugendlichen profitieren, nicht nur diejenigen, die schon als Digital Natives mit einer guten Ausstattung im Elternhaus aufwachsen. Während der Corona-Pandemie haben wir es ja gesehen: Manche Kinder konnten vom digitalen Unterricht profitieren. Andere waren nicht einmal erreichbar oder mussten sich zu fünft ein Gerät teilen.

Es scheint manchmal, als wären alle Jugendlichen nur noch digital unterwegs, doch längst nicht alle verfügen über digitale Endgeräte, erst recht solche, die zum Lernen nutzbar sind. Ein Drittel der Jugendlichen verfügt nur über niedrige digitale Kompetenzen, sie können eigentlich nur „klicken und wischen“, wie es die Leiterin der ICILS-Studie Prof. Dr. Birgit Eickelmann bezeichnet hat. Das dürfen wir nicht unterschätzen. Hier gilt es auch inhaltlich digitale Kompetenzen zu vermitteln.

Online-Redaktion: Sie haben mehr „Hand-in-Hand“ von Bund, Ländern und Kommunen gefordert. Wie lässt sich das realisieren?

Stark-Watzinger: Es geht um keine Kleinigkeit, sondern um die Bildung unserer Kinder und Jugendlichen, da müssen alle an einem Strang ziehen. Das heißt für mich auch, dass wir künftig von einem Kooperationsgebot sprechen und das Wort Kooperationsverbot aus dem Sprachgebrauch verschwindet. Durch ein Kooperationsgebot aller Ebenen streben wir eine engere, zielgenauere und verbindliche Kooperation in der Bildung an.

Der Bund steht bereit und hilft, wo er dies kann. Etwa mit dem DigitalPakt Schule, mit dem wir die Länder mit insgesamt 6,5 Milliarden Euro bei der Digitalisierung der Schulen unterstützen. Oder den jetzt anlaufenden Kompetenzzentren für digitales und digital gestütztes Unterrichten in Schule und Weiterbildung. Aktuell stellen wir die Weichen für das Startchancen-Programm, das im kommenden Jahr starten und mit dem insgesamt 4.000 Schulen in schwierigen sozialen Lagen massiv unterstützt werden sollen. Wir wissen, dass der Bildungserfolg in unserem Land zu stark von der sozialen Herkunft abhängt. Das muss sich ändern.

Eingang Hüning
© Britta Hüning

Für mich ist wichtig, das habe ich mehrmals gesagt: Wenn der Bund Extrageld gibt, muss auch Extraqualität bei Kindern und Jugendlichen ankommen. Dies ist der Wille der Eltern, das wollen Schulleitungen, das wollen Lehrerinnen und Lehrer und auch die außerschulischen Partner, die sich alle heute in Schulen engagieren. Bund, Länder und Kommunen müssen ihre Kräfte bündeln, denn es sind gewaltige Aufgaben zu stemmen. Die Bildung bewegt heute fast alle Bürgerinnen und Bürger, denn es geht um das Aufstiegsversprechen in unserem Land, um die Zukunft der kommenden Generationen. Das sollten wir immer im Blick haben. Und dann bei den Finanzen schauen, welche Investitionen genau wo gebraucht werden und wer was leisten kann und muss.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Seit 2009 haben auf www.ganztagsschulen.org regelmäßig die Bildungsministerinnen und Bildungsminister der Länder in Interviews die Entwicklungen beim Ausbau der Ganztagsangebote in ihrem Land erläutert. Alle Interviews finden Sie in der Rubrik „Bildungspolitik: Interviews“.

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