"Eine kleine Revolution" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Die nordrhein-westfälische Schulministerin Barbara Sommer erklärte zum Auftakt des Schuljahrs 2009/2010, der flächendeckende Ausbau der Ganztagsschule sei ein "Paradigmenwechsel, vergleichbar mit der Einführung der Schulpflicht".

Online-Redaktion: Frau Ministerin, Ihren Worten zu Folge verabschiedet sich Nordrhein-Westfalen vom Halbtagsschulsystem. Wie lange wird dieser Prozess dauern, bis im Land flächendeckend Ganztagsschulen die Halbtagsschulen ersetzen können?

Schulministerin Barbara Sommer
Barbara Sommer

Barbara Sommer: Ich will nicht den Halbtag abschaffen. Ich kämpfe dafür, dass die Eltern in Nordrhein-Westfalen eine echte Wahlfreiheit haben, ob ihr Kind auf eine Halbtags- oder eine Ganztagsschule geht. Deshalb soll es überall erreichbare Ganztagsangebote geben. Bei meinem Amtsantritt 2005 gingen rund 70.000 Grundschulkinder in eine Ganztagsschule. Jetzt können das fast 205.000, und nächstes Jahr schaffen wir noch einmal 20.000 Plätze. Dann wird jedes dritte Kind im Grundschulalter einen Ganztagsplatz haben.

Bei den weiterführenden Schulen war der Ganztag in Nordrhein-Westfalen lange Zeit ein Privileg der Gesamtschulen. Wir geben nun auch Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien diese Möglichkeit. Vor fünf Jahren besuchten nur 16 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen eine Ganztagsschule. Inzwischen sind es 29 Prozent, 2010 werden es 34 Prozent sein. Da die Schulen den Ganztag in den unteren Klassen starten und das bereits bestehende Angebot mit den Kindern mitwächst, werden 2015 mindestens 43 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine Ganztagsschule besuchen. Die Landesregierung will den Ausbau des Ganztags aber auch in der nächsten Legislaturperiode bedarfsgerecht fortsetzen.

Online-Redaktion: In mancher Nachbarschaft ist im Zusammenhang mit Ganztagsschule immer noch von "Rabenmüttern" und "Auffangbecken für schwierige Kinder" die Rede. Sehen Sie die Akzeptanz in der Bevölkerung für diesen Prozess der Umwandlung in ein Ganztagsschulsystem gegeben?

Sommer: Die Akzeptanz ist da, denn alle merken: Die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen die Art und Weise, wie Menschen leben und arbeiten. Es ist heute selbstverständlich, was früher die Ausnahme war: Immer mehr Mütter und Väter wollen Beruf und Familie vereinbaren. Zudem ist die Arbeitswelt flexibler geworden. Die Schulen können nicht mehr davon ausgehen, dass jemand zu Hause ist und wartet, wenn die Schule mittags zu Ende ist. Der Wandel der Gesellschaft, der Arbeitswelt und der Lebenswelt konfrontiert die Schulen mit neuen Herausforderungen. Der Ganztag ist eine mögliche Antwort darauf.

Was den Vorwurf des "Auffangbeckens für schwierige Kinder" angeht - das macht mich ärgerlich. Es gibt keine schwierigen Kinder. Es gibt Kinder, die in einem schwierigen Umfeld aufwachsen, und dies hat ihr Verhalten beeinflusst. Diese Kinder besonders zu fördern und zu unterstützen, sollte selbstverständlich sein. Tatsächlich können sich die Lehrkräfte und die Fachleute aus Sportvereinen, Jugendhilfe oder Kultureinrichtungen in einer Ganztagsschule sowohl begabten Schülerinnen und Schülern intensiver widmen als auch denen, die es schwerer haben als andere. Sie haben schlicht mehr Zeit dazu. Außerdem bekommen die Schülerinnen und Schüler in der Ganztagsschule Anregungen, die sie vielleicht zu Hause nicht bekämen. So verwirklicht der Ganztag mehr Chancengerechtigkeit.

Online-Redaktion: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund haben es oft schwerer als andere Schüler. Welche zusätzlichen Maßnahmen im Rahmen des Ganztags können ihre Chancen verbessern?

Sommer: Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte profitieren besonders von guten Lernbedingungen. In der Hauptschule, wo erfahrungsgemäß mehr Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte lernen, haben wir ein erweitertes Ganztagsangebot mit mehr Lehrerstellen pro Klasse. Hinzu kommt das Fachpersonal aus Sportvereinen, Jugendhilfe oder Kultureinrichtungen, das im Ganztag mitarbeitet. All dies trägt zur Integration viel bei.

Unabhängig vom Ganztag ist es bei Kindern mit Zuwanderungsgeschichte das Wichtigste, dass sie ohne sprachliche Nachteile in die Schule starten. Deutsch zu sprechen und zu verstehen, ist die Grundlage für alle Schulfächer, für einen guten Abschluss und für einen erfolgreichen Lebensweg. Deshalb haben wir dafür gesorgt, dass zwei Jahre vor der Einschulung verbindliche Sprachtests durchgeführt werden. Werden dort Defizite erkannt, ermöglichen wir eine gezielte Sprachförderung. Ich bin mir sicher, dass dies langfristig dafür sorgen wird, dass wir deutlich weniger Bildungsverlierer an unseren Schulen haben. Unser Ziel bleibt: Kein Kind darf verloren gehen.

Online-Redaktion: Wie steht es um die Akzeptanz der Ganztagsschule bei Gymnasien und deren Eltern?

Sommer: Das Ganztagsangebot der Gymnasien ist speziell auf diese Schulform abgestimmt, was auch bei den Eltern gut ankommt. Es ist besonders flexibel, weil die Gymnasien ohnehin schon mehr Nachmittagsunterricht haben als andere Schulen: Fünft- und Sechstklässler an einem Tag, Siebt- und Achtklässler an zwei Tagen. Wenn sie auf ein Ganztagsgymnasium gehen, haben sie mindestens an drei Tagen im Umfang von jeweils mindestens sieben Zeitstunden ganztags Schule, alles andere - ein vierter Tag oder Kurse nach 15 Uhr - ist freiwillig.

Bis 2010 werden wir 216 neue Ganztagsgymnasien und Ganztagsrealschulen schaffen. Die Schulen konnten Anträge dafür stellen. Die Mehrzahl der Bewerber sind Gymnasien. Sie haben starkes Interesse am Ganztag.
 
Online-Redaktion: Wird sich Nordrhein-Westfalen um ein Nachfolgeprogramm zum IZBB bemühen oder eigene Initiativen entwickeln?

Sommer: Wenn der Bund beim Ausbau des Ganztages hilft, wäre uns das auch in Zukunft willkommen. Das Konjunkturprogramm II ist bereits ein wichtiger Beitrag für den Umbau der Schulgebäude für den Ganztag. Weil der Bedarf hier groß ist, stellt Nordrhein-Westfalen im so genannten 1.000-Schulen-Programm bis 2010 insgesamt 100 Millionen Euro für Mensen, Klassenzimmer und Aufenthaltsräume bereit. Außerdem haben wir die für die Gemeinden bereitgestellte Bildungspauschale seit 2007 von 460 Millionen Euro auf 600 Millionen Euro erhöht. Das Ziel eines flächendeckenden Ganztags erreichen wir am besten, wenn sich Bund und Länder gemeinsam engagieren.

Online-Redaktion: Sie sprachen im Zusammenhang mit der Einführung der Ganztagsschule von einem Paradigmenwechsel im Schulsystem, vergleichbar mit der Einführung der Schulpflicht. Welche Elemente und Ebenen müssen zusammen wirken, um langfristig eine bessere Bildung und mehr Chancengleichheit für alle Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten?

Sommer: Den Ganztag in die Fläche zu bringen, das ist tatsächlich eine kleine Revolution. Sie läuft friedlich ab, weil das Modell in der Sache überzeugt. Wir ziehen da mit den Eltern und Schulen an einem Strang. Auch viele Bürgermeister und Unternehmen wissen heute, dass ein attraktives Ganztagsangebot ein wichtiger Standortfaktor ist. Aber natürlich reicht es nicht, den Ganztag einfach quantitativ auszubauen. Wir müssen auch die Qualität sicherstellen. Ganztagsangebote müssen pädagogisch und fachlich passen. Deshalb haben wir Rahmenbedingungen gesetzt, Qualitätszirkel eingerichtet und fördern die Fortbildung der Lehr- und Fachkräfte. Die Landesregierung stellt zusätzliche Lehrerstellen und Personalkostenzuschüsse bereit.

Darüber hinaus können beim Ganztag alle zusammenwirken. Ganztagsschulen sind offene Schulen. Sie sind eingebettet in das Leben der Stadt oder der Gemeinde. Die Schulen werden zu sozialen Orten, wo Sport- und Musikvereine, Jugendhilfe und Jugendarbeit, Künstler und Betriebe, Handwerk, Kirchen und die vielen Ehrenamtlichen höchst willkommen sind, sich in das Bildungsangebot und das Leben der Schule einzubringen. Konzepte, Qualifizierung und Fortbildung bekommen sie von unserer Serviceagentur "Ganztägig Lernen" in Münster, die auch der Bund unterstützt.

Ab diesem Jahr können auch erstmals alle Schulen ein Drittel des Geldes, das sie als Ganztagszuschlag bekommen, für die Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern verwenden. Damit können sie die externen Partner für ihre Leistungen finanzieren. Dies alles wird dazu beitragen, unsere Kinder bestmöglich zu fördern und ihre Potenziale zur Entfaltung zu bringen.

Barbara Sommer, geboren 1948 in Bielefeld. Nach dem Abitur und dem Studium an der Pädagogischen Hochschule des Saarlandes ab 1971 als Lehrerin in Saarbrücken und Bielefeld tätig. Ab 1979 Konrektorin an einer Grundschule. Ab 1980 Schulleiterin. 1992 Schulrätin für den Kreis Herford, ab 1995 für den Kreis Gütersloh. 1997 Ernennung zur Schulamtsdirektorin. Seit 2005 Ministerin für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen.

Seit 2009 haben auf www.ganztagsschulen.org regelmäßig Bildungsministerinnen und Bildungsminister in Interviews die Entwicklungen beim Ausbau der Ganztagsangebote in ihrem Land erläutert. Alle Interviews finden Sie in der Rubrik „Bildungpolitik: Interviews“.

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