Baden-Württemberg: „Gute Praxis an Ganztagsschulen weitergeben“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Ein an hohen Qualitätsstandards orientiertes flächendeckendes und wohnortnahes schulisches Ganztagsangebot mit individueller Förderung ist Ziel in Baden-Württemberg. Kultusministerin Theresa Schopper über aktuelle Entwicklungen im Interview.

Online-Redaktion: Frau Ministerin, wie ist der derzeitige Stand des Ausbaus der Ganztagsschulen in Baden-Württemberg?

Theresa Schopper
Seit Mai 2021 Ministerin für Kultus, Jugend und Sport: Theresa Schopper © Staatsministerium Baden-Württemberg

Theresa Schopper: Im Schuljahr 2020/2021 haben von unseren 4.633 allgemeinbildenden Schulen 2.018 Schulen ein Ganztagsangebot nach mindestens KMK-Definition, also den Mindestanforderungen, die die Kultusministerkonferenz für Ganztagsschulen vereinbart hat, eingerichtet. Dies entspricht einer Ganztagsquote von 43,6 Prozent in Baden-Württemberg.

Online-Redaktion: Im neuen Koalitionsvertrag ist auch die Weiterentwicklung der Ganztagsschule verankert. Wo setzen Sie Schwerpunkte?

Schopper: Ganztagsschulen sind eine wesentliche Säule im Bildungssystem, denn sie unterstützen nicht nur Eltern darin, Familie und Erwerbstätigkeit besser zu vereinbaren. Sie leisten vor allem auch einen wertvollen Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit. Durch die Umsetzung eines ganzheitlichen Bildungsangebots, das auf die Bedarfe und Bedürfnisse von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien abgestimmt ist, ermöglichen sie vielfältige Lernerfolge und Kompetenzentwicklung für alle Schülerinnen und Schüler.

Wir wollen ein an hohen Qualitätsstandards orientiertes flächendeckendes und wohnortnahes schulisches Ganztagsangebot. Perspektivisch wollen wir die Ganztagsschulangebote in der Sekundarstufe I auch im Schulgesetz verankern. Daneben soll es weiterhin die flexiblen Betreuungsangebote geben, welche in der Zuständigkeit der Kommunen sind. Das Land wird diese Angebote der Kommunen auch weiterhin mit einem Landeszuschuss unterstützen. Den notwendigen Qualitätsrahmen für die Betreuungsangebote an den Schulen werden wir im Dialog mit allen Beteiligten weiterentwickeln.

Online-Redaktion: Gibt es noch regionale Unterschiede in der Nachfrage nach Ganztagsangeboten?

Schopper: Die Nachfrage nach Ganztagsangeboten ist regional unabhängig. Der flächendeckende und bedarfsgerechte Ausbau von Ganztagsangeboten in allen Schularten ist ein vorrangiges Ziel unserer Landesregierung und stellt einen wesentlichen Beitrag zur zukunftsorientierten Weiterentwicklung des Bildungswesens dar. Dies trägt zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber vor allem auch zur individuelleren Förderung der Schülerinnen und Schüler bei.

Unterricht
„Ein qualitativ hochwertiges Bildungsangebot zur Verfügung stellen“ © Britta Hüning

Der wesentliche Auftrag der Ganztagsschule liegt meiner Ansicht nach darin, ein qualitativ hochwertiges Bildungsangebot zur Verfügung zu stellen: Sie hat zum Ziel, die fachlichen, personalen und sozialen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu fördern. An der Ganztagsschule steht ein Mehr an Zeit zur Verfügung, das in einem rhythmisierten Schulalltag zur Förderung und Unterstützung unterschiedlicher Stärken und Talente genutzt werden soll. Die Förderung von Begabungen und Talenten ist der Ausgangspunkt, um allen Schülerinnen und Schülern vielfältige Lernerfolge zu ermöglichen.

Online-Redaktion: Wie lassen sich Elternwünsche nach Flexibilität von Ganztagsangeboten und das Anliegen der pädagogischen Qualität der Angebote vereinbaren?

Schopper: In Baden-Württemberg soll die Ganztagsbetreuung Kinder in ihrer Vielseitigkeit und Begabung individuell unterstützen und eine ganztägige Förderung beziehungsweise flexible Betreuungsmöglichkeit sicherstellen. Hierfür stehen verschiedene Angebote der Ganztagsbetreuung vor Ort zur Verfügung.

Die Ganztagsschule ist ein verlässliches Bildungsangebot des Landes mit einer ausgeprägten inhaltlichen Qualität; das „Mehr an Zeit“ steht für mehr Möglichkeiten und ein pädagogisch, fachlich ausgereiftes Konzept mit erweiterter Bildungs- und Fördermöglichkeit. Daneben gibt es das Angebot der flexiblen Betreuung; dieses ist ein bedarfsorientiertes, flexibles und qualitätsvolles Angebot der Kommune mit verschiedenen Neigungsangeboten wie zum Beispiel kreativen oder sportliche Aktivitäten, das wertvollen Erfahrungsraum für soziales Miteinander ermöglicht. Das Betreuungsangebot bietet Eltern eine optimale Unterstützung zu den Erfordernissen der Arbeitswelt.

Online-Redaktion: Die Alemannenschule Wutöschingen hat 2019 einen Deutschen Schulpreis nach Baden-Württemberg geholt. Sie steht für individualisiertes Lernen und digitales Lernen im Ganztag und zugleich für Leistung. Wie wichtig sind diese Stichworte?

Team Alemannenschule
Die Alemannenschule Wutöschingen erhielt 2019 einen Deutschen Schulpreis. © Alemannenschule Wutöschingen

Schopper: Die Alemannenschule Wutöschingen ist ein Beispiel dafür, wie sich eine Schule auf den Weg gemacht hat, die Art des Lernens und Lehrens zu verändern. Gemeinsam mit der Gemeinde wurde ein umfassender Schulentwicklungsprozess in Gang gesetzt. Dabei kam der Alemannenschule zugute, dass sie eine Gemeinschaftsschule ist. Diese werden in der Sekundarstufe I als verbindliche Ganztagsschulen an vier oder drei Tagen in einem Umfang von acht Zeitstunden pro Tag geführt. Das ist eine gute Voraussetzung für die Einbeziehung außerschulischer Lernorte und unterschiedlicher Kooperationspartner in das pädagogische Konzept der Schule.

Eine weitere Grundlage ist das individualisierte Lernen. Es ermöglicht, auf die Stärken und Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler besser eingehen zu können. Die Schülerinnen und Schüler gestalten ihren Lernprozess – mit Unterstützung der Lehrkräfte und der Lerncoaches – eigenverantwortlich und entscheiden frei, in welchem Fach und Thema sie arbeiten wollen. Das führt zu einer höheren Motivation bei den jungen Menschen, denn sie übernehmen eine größere Verantwortung für ihre Lernentwicklung. Das wirkt sich nicht nur positiv auf die Lernzufriedenheit aus, sondern auch auf den Lernerfolg.

Ein wichtiger Pfeiler für das individualisierte Lernen sind digitale Lerninhalte, denn digitale Lerninhalte lassen sich gut an unterschiedliche Leistungsniveaus anpassen. So können den Schülerinnen und Schüler die Lerninhalte bereitgestellt werden, die ihrem persönlichen Lernstand entsprechen. Und die Lehrkräfte können die Schülerinnen und Schüler beim Lernen individuell begleiten – unabhängig von Raum und Zeit. Das digitale Lernen ist also kein Selbstzweck, sondern ein gezielt einzusetzendes Werkzeug.

Das Beispiel Alemannenschule zeigt: Ein qualitativ hochwertiges Ganztagskonzept, ein intelligenter Mix verschiedener Lernphasen wie Phasen des Von- und Miteinanderlernens, lehrerzentrierte Phasen und eigenständige Lernphasen und der zielgerichtete Einsatz von digitalen Lernarrangements führen zu einer höheren Zufriedenheit bei allen Beteiligten und zu besseren Lernergebnissen. Das gilt unabhängig von der Schulart.

Online-Redaktion: Welche Unterstützungsangebote erhalten Ganztagsschulen in Baden-Württemberg für ihre Qualitätsentwicklung?

Schopper: Vom Schuljahr 2019/ 2020 an ist der Qualitätsrahmen Ganztagsschule Baden-Württemberg verbindliche Grundlage für Schulen, die sich auf den Weg zur Ganztagsschule machen oder schon schulgesetzlich verankerte Ganztagsschule sind. Eindeutige Rahmenbedingungen wurden dafür formuliert, was eine leistungsstarke Ganztagsschule für die Schülerinnen und Schüler erbringen soll. Der Qualitätsrahmen bietet bereits in der Phase der Konzeption beziehungsweise Antragsstellung den Schulleitungen, Schulen und externen Partnern im anstehenden Veränderungsprozess Orientierung und Unterstützung. Er gibt den Schulen wertvolle Hinweise und Anregungen, wie sie im Alltag Unterricht und Ganztagsangebote besser verknüpfen und in diesem Zusammenspiel für die Schülerinnen und Schüler wirksamer machen können. Bei dieser schulinternen Qualitätsentwicklung bietet der Qualitätsrahmen die notwendige Orientierung.

Lernatelier
Lernateliers mit individuellen Arbeitsplätzen für Schülerinnen und Schüler. © Alemannenschule Wutöschingen

Die Entwicklung hin zu einer qualitativ hochwertigen Ganztagsbildung ist ein herausfordernder Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozess. Im Zusammenhang mit der Umsetzung gibt der Qualitätsrahmen hilfreiche Impulse für die Schul- und Unterrichtsentwicklung und benennt Meilensteine auf dem Weg zur institutionalisierten Ganztagsbildung. Wir unterstützen die Schulleitungen beziehungsweise die Schulen bei diesem herausfordernden Prozess mit der Bereitstellung eines breiten Unterstützungssystems. Besonders hervorzuheben ist hier die Zusammenarbeit von Schulaufsicht und Fachberatung Schulentwicklung, um die Schulen individuell in ihrer Weiterentwicklung zu unterstützen, beispielsweise mit Fortbildungen für Schulleitungen und Schulteams, Vernetzungstreffen, Vorträgen, Fachtagen und Foren von und mit Expertinnen und Experten.

Online-Redaktion: Wie können Ganztagsschulen diese individuelle Fachberatung erhalten?

Schopper: Fachberaterinnen und Fachberater Schulentwicklung können auf Wunsch der Schule zur Prozessbegleitung angefordert werden und unterstützen die Schulen mit ihrer Expertise in ihrer Qualitätsentwicklung. Statusgespräche zwischen Schulaufsicht und Schulleitungen sollen die Schulen bei der Fokussierung und zeitlichen Planung des Prozesses flankierend begleiten und eine passgenaue Unterstützung, die auf die nächsten Entwicklungsschritte hin ausgerichtet ist, ermöglichen.

Wir haben im Land auch sogenannte Stützpunktschulen aufgebaut, die ihre gute Praxis sowie ihre Erfahrung an andere Ganztagsschulen weitergeben und Austausch- und Hospitationsmöglichkeiten bieten. Im Rahmen der Weiterentwicklung der Ganztagsschule wurde im Schuljahr 2018/2019 in einem Pilotprojekt mit fünf Kommunen erprobt, in welchem Maße eine kommunale Koordinierungsstelle die Ganztagsschulen bei der Organisation und finanziellen Abwicklung der außerschulischen Partner im Ganztagsbetrieb unterstützten und entlasten kann. Die Evaluation der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl bestätigte eine wirksame Entlastung der Ganztagsschulen.

In einem Transferprojekt wurden die im Pilotprojekt erkannten Handlungsmuster und Erfolgsfaktoren zur erfolgreichen Koordination der Ganztagsbetreuung im Primarbereich dann auf weitere fünf Kommunen übertragen. Wir haben neue lmpulse für eine gute Koordination von den neu hinzugekommenen Kommunen übernommen und weiterentwickelt. Daraus wurde schließlich ein Handlungsleitfaden mit definierten und optimierten Geschäftsprozessen zur Einrichtung einer kommunalen Koordinierungsstelle mit dem Ziel der Unterstützung erarbeitet.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Seit 2009 haben auf www.ganztagsschulen.org regelmäßig Bildungsministerinnen und Bildungsminister in Interviews die Entwicklungen beim Ausbau der Ganztagsangebote in ihrem Land erläutert. Alle Interviews finden Sie in der Rubrik „Bildungpolitik: Interviews“.

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