Talentscouts in NRW: „Hörsäle mit Talenten füllen“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Wenn Schülerinnen und Schüler großes Potenzial haben, aber an mangelnder Unterstützung zu scheitern drohen, kommen in NRW die Talentscouts ins Spiel. Sie beraten, sprechen Mut zu und begleiten während des Studiums und der Ausbildung.

Der Chef hat die Messlatte hochgelegt. Den Satz „Du schaffst es nicht“, darf es nicht geben. Sagt Suat Yilmaz. Er ist einer der „Väter“ eines inzwischen von der nordrhein-westfälischen Landesregierung geförderten Projekts. Der 42-Jährige ist Talentscout und stellvertretender Leiter im NRW-Zentrum für Talentförderung in Gelsenkirchen. Seit vielen Jahren bahnt der Sozialwissenschaftler, der als kleines Kind 1978 aus Tercan in der Türkei nach Oberhausen kam, Jugendlichen, denen die Unterstützung in der Familie fehlt, Wege zum Studium. Das „Satzverbot“ meint er durchaus ernst: Verstößt einer der inzwischen knapp 70 Talentscouts dagegen, droht ihm im Extremfall eine Abmahnung.

Alles andere als glatte Karrieren

Eine solche muss Serhat Demir wahrlich nicht fürchten. Der 37-Jährige zählt zum Team der Talentförderer an der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Präzise: Gemeinsam mit Mira Stepec war er der erste Talentscout der RUB. Mittlerweile wuchs das Team auf fünf Personen an. Die biografischen Parallelen zu Suat Yilmaz sind verblüffend. Die Familien beider Wissenschaftler kamen einst aus der Türkei, ihre Väter verdienten den Lebensunterhalt mit harter Arbeit im Ruhrgebiet. Suats und Serhats eigene Karrieren verliefen alles andere als glatt.

Serhat Demir beim TalentTreffen der RUB
Serhat Demir beim TalentTreffen der RUB © RUB, Kramer

Serhat konnte auf intensive Förderung der Eltern nicht bauen. „Meinen Vater habe ich oft tagelang nicht gesehen. Er war auf Schicht in der Hütte. Vorgelesen wurde bei uns zu Hause nicht“, erinnert er sich. Dennoch machte er Abitur. Er studierte Wirtschaftswissenschaft, arbeitete als Studentische Hilfskraft und kümmerte sich später um die Informationstechnik der Uni. Parallel jobbte er, mal in Promotionjobs, mal an der Tankstelle oder in Textilgeschäften. Und nicht zuletzt engagierte er sich nach dem Tod seines Vaters, so wie dieser es getan hatte, bei der IG Metall. Im Ehrenamt betreute er Schülerinnen und Schüler an Berufsschulen.

„Durch meinen eigenen Lebensweg, besonders aber durch die Gespräche mit den Berufsschülern habe ich erfahren, wie unwissend junge Menschen häufig sind, was ihre Rechte und Pflichten betrifft, nicht nur im Studium, sondern auch in der Ausbildung“, erinnert er sich. Seine ursprüngliche Studienwahl ordnet er genau dort ein: „Ich habe Wirtschaft studiert, weil ich glaubte, ich würde so Manager und könne so viel verdienen.“ Dass die Realität anders aussieht, erfuhr er im Laufe des Studiums durch Praktika bei Unternehmensberatungen. Er beendete sein Studium erfolgreich – wissend, dass er kein Manager in der Wirtschaft werden wollte. In der Folge wurde er IT-Leiter der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft. Doch sein Herz schlug weiter für junge Menschen.

Tempo und Druck reduzieren

Das Angebot, als Talentscout an der RUB zu arbeiten, kam da 2015 gerade recht. Serhat Demir: „So kann ich das, was ich ehrenamtlich bei der Gewerkschaft getan habe, zu meinem Beruf machen.“ Er nimmt sich Schülerinnen und Schülern an, macht ihnen Mut, zeigt Möglichkeiten finanzieller Unterstützung auf, berät bei Studien- und Ausbildungswahl. Rund 300 Jugendliche – allesamt aus der Oberstufe von Gymnasien, Gesamtschulen und weiterführenden Berufskollegs – nutzten in den vergangenen zweieinhalb Jahren seine „Sprechstunde“.

Die hält er – wie seine Kolleginnen und Kollegen auch – jeweils in den Schulen ab. Die meisten der von den Talentscouts Beratenen stammen aus Nicht-Akademikerfamilien und haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Nicht wenige sind bei Bildungsfragen auf sich alleine gestellt und oft fehlt zudem die Finanzkraft. Gleichzeitig wünschen sich die Eltern, dass ihre Kinder möglichst schnell einen guten Abschluss haben und gut verdienen.

Gerade, wenn es ums Tempo der Ausbildung geht, tritt Serhat Demir auf die Bremse. „Man kann auch einmal nach links und rechts gehen, sich auch Irrtümer leisten. Man muss nicht mit 18 wissen, was man sein Leben lang tun wird“, ist er überzeugt. Und fügt hinzu: „Wenn ich das den Schülerinnen und Schülern sage, ihnen dann meinen Lebensweg mit vielen Umwegen schildere, nimmt ihnen das die Angst und Sorge, sich möglichst früh und endgültig entscheiden und festlegen zu müssen.“

Serhat Demir im Gespräch mit einer Schülerin
Serhat Demir: „Mein Lebenslauf ist alles andere als klassisch und soll als Beispiel dienen.“ © RUB, Kramer

Er räumt ein, dass diese Perspektive manche Mütter und Väter nicht teilen. Hin und wieder hört er vom Druck, der aus dem Familienhaus kommt: „Dein Bruder ist auch schon fertig und verdient.“ Der Talentscout erwidert dann gerne: „Ja, stimmt. Aber vielleicht wird Ihr Kind etwas später mit Studium und Ausbildung fertig, hat dann aber einen Beruf erlernt, für den es wirklich brennt und verdient eventuell sogar mehr.“

Manche Eltern lassen sich überzeugen – ihren Kindern machen die Haltung und die Unterstützung Mut. So wie im Falle einer Schülerin, die mit Müh und Not die Qualifikation fürs Abitur geschafft, die Schule mit einem guten Durchschnitt verlassen hat und eine Ausbildung machen will. „Da liefern wir manchmal Argumente für die Diskussion im Elternhaus“, berichtet Demir.

Ganztag bietet mehr Zeitfenster für die Beratung

Natürlich sollen die Talentscouts der RUB auch dazu beitragen, die eigenen Hörsäle mit Talenten zu füllen. „Doch wir beraten wie alle anderen aus unserem Team an den 17 beteiligten Hochschulen im Land neutral“, garantiert Demir. „Es geht um jeden Einzelnen, seine Ziele, Wünsche und Vorstellungen“, erläutert er. Er ist überzeugt, dass sich das zwischen den Hochschulen ohnehin ausgleicht und fragt: „Warum soll ich einem jungen Menschen von einem Studium abraten, nur weil wir es an der RUB nicht anbieten?“

Gute Beratung sorgt, da ist er fest überzeugt, fast automatisch für einen Rückgang der Abbrecherquote. Für eine solche nehmen sich die Talentscouts beim Erstgespräch rund 30 Minuten Zeit. In Gesamtschulen und jenen Gymnasien, die sich ebenfalls für den Ganztag entschieden haben, finden sie diese in besonderem Maße. „Wir finden einfach leichter Zeitfenster fürs Gespräch“, weiß Serhat Demir. Beispiele für eine solche Kooperation sind die Erich-Kästner-Schule in Bochum oder die Gustav-Heinemann-Gesamtschule Alsdorf, die mit der RWTH und FH Aachen kooperiert.

Hilfreiche Netzwerke

Die Entscheidung, sich beraten zu lassen, treffen die Schülerinnen und Schüler freiwillig. In der Mehrzahl jedenfalls. Manchmal führt sie auch sanfter Druck eines Lehrers oder einer Lehrerin ins Beratungszimmer. Schon immer gab es Lehrerinnen und Lehrer, die Talente ihrer Schüler erkannt und deren Bildungsweg befördert haben. Solcher Zuspruch ist oft entscheidend, doch reicht er nicht aus.

Schilder "Schulen im NRW-Talentscouting"
Am Talentscouting beteiligen sich 17 Hochschulen in NRW. © RUB, Marquard

„Wieso bist du hier?“, lautet daher stets Demirs erste Frage. Folgt als Antwort der Hinweis auf den Lehrer, forscht der Scout weiter, aus welchem Grund dieser wohl den Wunsch geäußert hat. „So tasten wir uns langsam voran. Stets mit dem Ziel, dass sich die Schülerinnen und Schüler eigene Gedanken über ihre Ziele machen“, lautet die Strategie. Bedeutet das am Ende die Wahl einer Ausbildung, endet die Unterstützung nicht. Im Gegenteil. Dann nutzt Serhat Demir häufig auch seine Kontakte zur IG Metall oder das durch sein dortiges Engagement entstandene Netzwerk.

Apropos Netzwerk: Ein solches wächst aktuell auch im Kontext von Stiftungen. „Viele Schülerinnen und Schüler wissen gar nicht, welche Möglichkeiten eines Stipendiums hier schlummern“, berichtet der Talentförderer. Und viele gehen davon aus, dass sie ohnehin keine Chance auf ein solches haben. Zu Unrecht, wie sich häufig herausstellt. So wie bei jener Schülerin, die gute Noten erreichte, auf materielle Unterstützung oder begleitende Ausbildungsangebote angewiesen war und dennoch glaubte, nicht ausreichend qualifiziert für ein Stipendium zu sein. Demir: „Als ich sagte, welchen Stellenwert ihre langjährige ehrenamtliche Tätigkeit bei der Kirchengemeinde für die Bewerbung um ein Stipendium habe, konnte sie es kaum glauben.“ Sie bewarb sich mit Erfolg.

Wege aufzeigen, Mut machen

Erlebnisse wie diese bestätigen Serhat Demir immer wieder, mit seiner späten eigenen Berufswahl die richtige getroffen zu haben. „Was gibt es Schöneres, als Jugendliche zu unterstützen, ihnen Wege aufzuzeigen, ihnen Mut zu machen, sie bei der Stange zu halten, wenn es einmal schwieriger wird, und gleichzeitig die vielfältigen Möglichkeiten aufzuzeigen, die trotz ihrer Ausgangslage existieren?“, fragt er.

Er freut sich über Schülerinnen und Schüler, die nur einmal vorbeischauen und sich Rat holen. Und er freut sich über all jene, zu denen eine langfristigere und damit durchaus auch persönliche Bindung entstanden ist. So wie zu jener Studentin, die unbedingt an die RUB wollte, obwohl ihr Studienfach auch in ihrer Heimatstadt Wuppertal angeboten wird. Ihre Begründung: „Dann kann ich immer wieder zu dir kommen.“

 

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