Berufsorientierung im Ganztag: wichtiger denn je : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Das Netzwerk SCHULEWIRTSCHAFT unterstützt Ganztagsschulen und Unternehmen bei der Berufsorientierung. Wie und warum sagt Dr. Donate Kluxen-Pyta von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.

Online-Redaktion: Auf die Frage, welchen Beruf sie mit 30 Jahren ausüben wollen, nennen 15-Jährige in erster Linie traditionelle Berufsbilder. So das Ergebnis einer weltweiten, vor wenigen  Jahren veröffentlichten Untersuchung der OECD. Neue Berufsfelder werden deutlich seltener angegeben. Ein Grund für SCHULEWIRTSCHAFT, sich für die Berufsorientierung zu engagieren?

Donate Kluxen-Pyta: Das Engagement von SCHULEWIRTSCHAFT ist schon deutlich älter. Seit Jahrzehnten arbeiten Schule und Betrieb am besten partnerschaftlich zusammen, um den Schülerinnen und Schülern praxisnah berufliche Perspektiven aufzuzeigen. Für die Schulen gehört Berufliche Orientierung zum Bildungsauftrag, für die Unternehmen sind die Schülerinnen und Schüler der künftige Nachwuchs.

Online-Redaktion: Wie schätzen Sie den Stellenwert der Berufsorientierung ein?

Kluxen-Pyta: Die Kultusministerien haben der Berufsorientierung inzwischen einen größeren Stellenwert gegeben, allerdings hat die Pandemie die Praxisphasen zuletzt erschwert. Sicherlich besteht, auch wenn man das von Ihnen erwähnte Studienergebnis sieht, Ausbaubedarf an den Schulen – z. B. welche Aufstiegsperspektiven es mit dualer Ausbildung gibt, wie sich die Digitalisierung auswirkt oder auch in Richtung einer klischeefreien Berufswahl. Mit dem jüngsten Programm Digital Insights bieten wir virtuelle Kennenlerntage bei SAP, Siemens und Microsoft und damit topaktuelle Einblicke in die Berufswelt der IT- und Tech-Branche.

Lernen am Sicherungskasten
Jugendlichen praxisnah berufliche Perspektiven aufzeigen © Florian Freund, SCHULEWIRTSCHAFT

Online-Redaktion: Was können Sie auf Bundesebene und ihre Arbeitskreise SCHULEWIRTSCHAFT dazu beitragen?

Kluxen-Pyta: Unser bundesweites Netzwerk SCHULEWIRTSCHAFT mit seinen regionalen Arbeitskreisen bietet Schulen, Unternehmen und anderen Akteuren konkrete und praxisnahe Unterstützung bei der Berufsorientierung durch Informationen, Austauschtreffen und Veranstaltungen, durch Expertengespräche und Fortbildungen, durch Arbeitsmaterialien, Musterverträge und Checklisten sowie durch die gemeinsame „Marke“. Viele Angebote richten sich vor allem an die Lehrkräfte. Im Gespräch mit Unternehmen, häufig auch Schulverwaltungen und den weiteren Akteuren, die sich die Berufsorientierung auf ihre Fahnen geschrieben haben, können sie beispielsweise viel über neue Berufsbilder erfahren und dies an ihre Schülerinnen und Schüler weitergeben.

Online-Redaktion: Unterscheiden sich die Angebote?

Kluxen-Pyta: Die Angebote haben dabei von Land zu Land und je nach Region unterschiedliche Schwerpunkte. Entscheidender Pluspunkt ist immer die Vernetzung aller Beteiligten, die beim Übergang Schule – Beruf zusammenwirken (sollen), um den Jugendlichen den Weg zu ebnen. Mit dem SCHULEWIRTSCHAFT-Preis werden jedes Jahr besonders gelungene Kooperationen ausgezeichnet.

Online-Redaktion: Die Unterschiedlichkeit spiegelt sich auch in den Schulen wider. Häufig hängt es vom Engagement einzelner Lehrkräfte ab, ob und wie ausgeprägt Berufsorientierung gelingt. Das wirkt für die Schülerinnen ein wenig wie Lotterie…

Kluxen-Pyta: Nun, die Schulen haben zum einen Vorgaben durch die Kultusministerien, zum anderen gibt es immer auch Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort. Es macht die Leistung der Schule aus, im Blick auf ihre Schülerinnen und Schüler wie im Blick auf Bedingungen und Umfeld eine gute Berufsorientierung zu gestalten. Dafür gibt es mit dem Berufswahl-SIEGEL übrigens ein hilfreiches Instrument, das Qualitätsstandards festhält und die jeweiligen Landesvorgaben aufgreift. Die für Berufsorientierung verantwortlichen Lehrkräfte müssen oft das Kollegium erst motivieren, das Thema auch in ihrem Unterricht oder in ihrer Klasse aufzugreifen. Dazu benötigen sie Kommunikations- und Koordinationskompetenzen sowie persönliche Überzeugungskraft. Wir haben daher auch schon Kommunikationsseminare veranstaltet und setzen dieses Angebot demnächst fort.

Online-Redaktion: SCHULEWIRTSCHAFT hat eine Handreichung zur Berufsorientierung mit dem Schwerpunkt Ganztagsschulen herausgegeben. Warum?

Kluxen-Pyta: Die Zahl der allgemeinbildenden Schulen im Ganztagsbetrieb steigt bekanntlich stetig, ebenso die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die diesen nutzen. Wir greifen auf, dass der Ganztag schlicht und ergreifend alleine schon durch das Mehr an Zeit viel größere Gestaltungsmöglichkeiten bietet, um die Berufsorientierung auszubauen und vor allem die Praxiselemente einfacher und umfassender in den Schulalltag zu integrieren. Ganztag erhöht die Chance, Betriebsbesuche zu organisieren, Unternehmensvertreter in die Schulen zu holen, Arbeitsgemeinschaften zu spannenden Berufsbildern auf die Beine zu stellen, mit dem Handwerksmeister vor Ort in der Schulwerkstatt zu arbeiten oder eine eigene Schülerfirma zu gründen.

Technisches Gerät
"Der Ganztag bietet größere Gestaltungsmöglichkeiten" © Florian Freund, SCHULEWIRTSCHAFT

Online-Redaktion: Eignen sich dafür gebundene Ganztagsschulen in besonderem Maße?

Kluxen-Pyta: Sicherlich ist es dort am einfachsten, Praxisphasen und Zusatzangebote der Berufsorientierung einzubauen. Der gebundene Ganztag ermöglicht das sogar flexibel und kurzfristig, und man erreicht alle Schülerinnen und Schüler. Doch auch im offenen und teilgebundenen Ganztag kann man es sehr gut hinkriegen. Dort wird es dann eher ein Zusatzangebot, das über den Teil, den die Schule für alle organisiert, hinausgeht. Der Ganztag eröffnet in jedem Fall die große Chance, noch mehr Einblicke in die Praxis zu bieten und Themen rund um die Berufsorientierung gründlicher und konkreter zu verfolgen.

Online-Redaktion: Stichwort Praxis. Schülerinnen und Schüler bedauern mitunter, dass sie nur sporadisch Einblick in ein Unternehmen, einen Betrieb gewinnen können. Ein Tagespraktikum bringt nichts, besser ein Wochenpraktikum, sagen sie...

Kluxen-Pyta: Die Schülerinnen und Schüler möchten auf jeden Fall gerne sehr viel mehr Praxiserfahrungen machen als oft üblich. Das hören wir immer wieder als sehr deutlichen Wunsch. Die Erfahrungen der Schulen, ob denn ein Tages- oder ein Wochenpraktikum geeigneter ist, fallen unterschiedlich aus. Auf der einen Seite sind jene, die viel davon halten, dass die Schülerinnen und Schüler über einen längeren Zeitraum, wenn nicht ein Schuljahr, an einem festen Tag pro Woche im Betrieb sind. Sie spüren dann einen größeren Verpflichtungscharakter. So sieht es z.B. Jörg Fröscher, Rektor der Theodor-Heuglin-Schule in Ditzingen, Baden-Württemberg. Andere Schulen und Betriebe bevorzugen das Wochenpraktikum. Beim Tagespraktikum müssen die Betriebe jedes Mal von vorne anfangen und sich etwas für den Tag einfallen lassen; das beschert einen höheren Aufwand und passt nicht immer, andererseits bietet es eine längere Kontinuität und es lässt sich eine Entwicklung des Jugendlichen beobachten. Insgesamt gilt: Viel Praxis ist gut.

Online-Redaktion: Gibt es den Königsweg der Berufsorientierung?

Kluxen-Pyta: Das Erfolgsrezept ist eine systematische, früh startende und nachhaltig aufbauende und vor allem praxisnahe Berufsorientierung, die mit einem Netzwerk an betrieblichen Partnern kooperiert und die Eltern einbezieht. Besonders wichtig, ja das Herzstück sind sicherlich die Schülerbetriebspraktika. Diese müssen aber auch gut vorbereitet, gut umgesetzt und gut nachbereitet werden, damit sie den gewünschten Orientierungseffekt erzielen. SCHULEWIRTSCHAFT hat genau deswegen Checklisten fürs Schülerbetriebspraktikum erstellt, die den Lehrkräften, den Jugendlichen, Eltern und Betrieben zeigen, worauf es ankommt. Übrigens sind Praktika auch Maßnahmen, die zum sogenannten Klebeeffekt führen: Ausbildungsverantwortliche, Schülerinnen und Schüler lernen sich kennen und im besten Fall schätzen. Das ist oft wichtiger als das Zeugnis.

Online-Redaktion: Sie sprechen das Thema Qualität an. Wie können Schulen, vor allem aber die Schülerinnen und Schüler sicher sein, dass die Berufsorientierung hochwertig ist?

Kluxen-Pyta: Unsere Netzwerke SCHULEWIRTSCHAFT vor Ort tragen zur Qualitätssicherung und -steigerung bei, die Zusammentreffen und runden Tische führen alle Akteure zusammen. Wichtiger Partner ist dabei immer auch die Berufsberatung der Arbeitsagenturen, die jeder weiterführenden Schule zur Verfügung steht. Im Netzwerk werden Erfahrungen ausgetauscht, Stolpersteine benannt und Wege diskutiert, wie man diese überwinden kann. Hier erfährt man etwas von gelungenen Konzepten anderer, aber auch, welche Angebote der Berufsorientierung sich z.B. besonders für Leistungsstärkere oder -schwächere bewährt haben. Für Schulen mit vorbildlicher Berufsorientierung gibt es in vielen Regionen das Berufswahl-SIEGEL, das die Qualität der Beruflichen Orientierung evaluiert und der Schule konkretes Feedback gibt.

Online-Redaktion: Welchen Beitrag leistet die Bundesebene von SCHULEWIRTSCHAFT Deutschland?

Gespräch in der Pause
Berufswahl-SIEGEL für vorbildliche Schulen © Florian Freund, SCHULEWIRTSCHAFT

Kluxen-Pyta: Wir haben unterstützende, verstärkende und koordinierende Funktion. Zweimal jährlich treffen wir uns mit den Landesvertreterinnen und -vertretern. Da kommt Relevantes auf den Tisch: Was beschäftigt die Schulen, was die Betriebe, was tut sich in der Berufsorientierung? Und hier erfahren wir auch, was gebraucht wird, was wir auf den Weg bringen können. Bei einem solchen Treffen wurde auch die Idee geboren, die erwähnte Handreichung zur Berufsorientierung in der Ganztagsschule zu entwickeln. Auf Bundesebene fördern wir also die Themen, auch in anderen Netzwerken z.B. eben beim Berufswahl-SIEGEL, mit dem SCHULEWIRTSCHAFT-Preis, mit Webinaren und dem SW-Talk, mit dem Schülerfirmenprogramm IW Junior und der bewährten Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit. SCHULEWIRTSCHAFT wird auf Bundesebene getragen von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und dem Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), auf Landesebene von den Dachverbänden und Bildungswerken der Arbeitgeber in Kooperation mit Landesministerien.

Online-Redaktion: Worauf sollten Ganztagsschulen und Betriebe achten, wenn sie sich für eine Kooperation entscheiden?

Kluxen-Pyta: Wichtig sind klare Absprachen zwischen den an einer Kooperation Beteiligten. Jede Seite muss z.B. wissen, wer auf der anderen Seite als Ansprechperson fungiert und was man voneinander erwartet, wie man sich austauscht und das gemeinsame Vorhaben weiter entwickelt. Kooperationsvereinbarungen halten die Ziele fest, auch die Art und Weise der Zusammenarbeit bis hin zur Evaluation und Weiterentwicklung. Verlässlichkeit, Verbindlichkeit und Vertrauen müssen für Schulen wie Betriebe gesichert sein. Das Netzwerk SCHULEWIRTSCHAFT ist bei alldem eine gute Unterstützung. Übrigens haben wir im Netzwerk ein Leitbild, zu dem die Verpflichtung auf den Beutelsbacher Konsens gehört, sprich es gibt keine Werbung in den Schulen.

Online-Redaktion: Wie haben sich das Bedürfnis und das Interesse der Betriebe und Unternehmen, sich in Ganztagsschulen zu engagieren, verändert?

Kluxen-Pyta: Eine Statistik zur Zahl der Kooperationen zwischen Unternehmen und Schulen gibt es nicht, aber wir haben im vergangenen Jahr deutlich mehr Anfragen von Unternehmen erhalten, die mit Schulen in der Berufsorientierung zusammenarbeiten wollen. Angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels spüren wir den Wunsch, ja die Not der Arbeitgeber, sich frühzeitig um Auszubildende, aber auch um junge Menschen mit Studienabschluss zu bemühen. Der Stellenwert der Berufsorientierung kann gar nicht hoch genug eingestuft werden. Heute mehr als je zuvor. Und zwar für alle Seiten.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Dr. Donate Kluxen-Pyta ist seit 1997 bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) tätig, seit 2005 als stellvertretende Leiterin der Bildungsabteilung. Sie gehört zum Team SCHULEWIRTSCHAFT Deutschland und Berufswahl-SIEGEL. Davor hat sie nach dem Studium der Philosophie und Geschichte in Bonn und München für einen Bundestagsabgeordneten gearbeitet.

Kategorien: Service - Kurzmeldungen

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