Berufsorientierung im Ganztag – nicht nur Wissen über Berufe : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Potenziale herausfinden, sich praktisch ausprobieren und den besten Bildungsweg finden. Guido Kirst vom Bundesinstitut für Berufsbildung erläutert im Interview das Berufsorientierungsprogramm (BOP).

Online-Redaktion: Herr Kirst, Sie verantworten seit 2014 im BIBB, dem Bundesinstitut für Berufsbildung, das Berufsorientierungsprogramm. Welche Aufgaben hat das BIBB?

Guido Kirst
Guido Kirst © BIBB

Guido Kirst: Das BIBB hat drei grundsätzliche Aufgaben: einmal die Forschung im Bereich der beruflichen Bildung, dann Politikberatung und als drittes das Ordnungsgeschäft, also die Abstimmung und Moderation von Ausbildungsinhalten zwischen den verschiedenen Sozialpartnern. Darüber hinaus legt das BIBB verschiedene Programme auf, wie zum Beispiel für das BMBF das Berufsorientierungsprogramm, abgekürzt BOP, und setzt weitere Dienstleistungen um.

Online-Redaktion: Sie sind von Hause aus Diplom-Pädagoge. Haben Sie schon in Ganztagsschulen gearbeitet, und gibt es im Berufsorientierungsprogramm Berührungspunkte?

Kirst: Ich habe zu Beginn meiner Berufstätigkeit in Ganztagsschulen medienpädagogische Projekte für das Landesmedienzentrum Rheinland-Pfalz durchgeführt. Das Berufsorientierungsprogramm macht keinen Unterschied zwischen Ganz- und Halbtagsschule. Vor zwei Jahren gab es allerdings eine Studie im Rahmen der Berufsforschungsinitiative des BMBF, in der die Frage nach dem Unterschied der Organisationsform für die Berufsorientierung gestellt wurde. Dort kam wenig überraschend heraus, dass an Ganztagsschulen mehr Zeit besteht, Berufsorientierungsprogramme zu integrieren. Diese zeitliche Ressource steht den Halbtagsschulen oft nicht zur Verfügung.

Online-Redaktion: Welches Angebot unterbreiten Sie den Schulen im Berufsorientierungsprogramm?

Kirst: Das Berufsorientierungsprogramm läuft seit 2008. Wir fördern derzeit deutschlandweit rund 300 Bildungseinrichtungen, überbetriebliche Bildungszentren oder Zentren, die über eine vergleichbare Werkstattausstattung verfügen. Bundesweit sind etwa 3.000 Schulen als Kooperationspartner am BOP beteiligt. Der Anspruch ist, dass diese Einrichtungen den Schülerinnen und Schülern einen sehr realitätsnahen Einblick in die Ausbildung erlauben. Die überbetrieblichen Bildungsstätten sind da prädestiniert, weil sie obligatorisch im Handwerk einen Teil der Ausbildung abdecken. Dort gibt es echte Auszubildende und Maschinen.

Die von uns geförderten Zentren bieten den Schulen dann ein Angebot, das aus einer Potenzialanalyse besteht, in der berufsübergreifende Kompetenzen erfasst werden: soziale Kompetenzen, personale Kompetenzen und Methodenkompetenzen. Darauf aufbauend sollen die Schülerinnen und Schüler aus mindestens fünf verschiedenen Berufsfeldern drei auswählen, die sie dann in sogenannten Werkstatttagen praktisch erproben können. Der Grundgedanke dabei ist, dass die Jugendlichen im pädagogisch geschützten Rahmen der Werkstatt ganz praktisch Berufsfelder ausprobieren können, ohne dass da ein Kundenauftrag oder Zeitdruck dahinterstehen. Und man kann auch mal was kaputt machen.

Online-Redaktion: Richtet sich das Angebot an bestimmte Jahrgänge?

Beruf
© ANNEGRET HULTSCH Photography

Kirst: Die Potenzialanalyse sollte in der 7. Klasse stattfinden, die Werkstatttage in Klasse 8 oder 9. Beides dient als Vorbereitung zum Betriebspraktikum. In manchen Bundesländern führen Lehrerinnen und Lehrer die Potenzialanalyse in der Schule durch. Wir wünschen uns allerdings, dass diese möglichst außerhalb stattfindet, um aus dem üblichen Setting des Schulalltags herauszukommen. Den Schülerinnen und Schülern wird so signalisiert, dass es hier nicht um Noten oder um Lernstandserhebungen geht, sondern darum, dass mit einem Blick von außen darauf geschaut wird, wo meine Stärken liegen. Muss es in der Schule stattfinden, wäre es besser, wenn ein Lehrer die Potenzialanalyse durchführt, der die Schülerin oder den Schüler nicht kennt, um einen objektiveren Blick zu erhalten.

Online-Redaktion: Was geschieht mit den Ergebnissen der Analyse?

Kirst: Wenn eine Schülerin oder ein Schüler zum Beispiel gezeigt hat, dass sie oder er teamfähig ist oder besonders gut feinmotorisch arbeiten kann, besprechen die Lehrkräfte oder Ausbilder mit ihnen, welche Berufsfelder in Frage kommen und welche Berufe für sie interessant sein könnten. An den Werkstatttagen können die Schülerinnen und Schüler dann ganz konkret und praktisch ausprobieren, ob ihnen der Beruf liegt. Wenn man eine solche Erfahrung sammelt, ist die Gefahr geringer, möglicherweise später ein Berufspraktikum auszuwählen, das einem überhaupt nicht liegt – oder nur, weil Onkel Werner sowieso die Firma besitzt. Wir sehen das Ganze als Prozess, in dem die Potenzialanalyse als Initialzündung dient.

Online-Redaktion: Was folgt auf die Werkstatttage?

Kirst: Idealerweise werden in der Schule die Erlebnisse in den Werkstätten reflektiert und dann besprochen, welche nächsten Berufsorientierungsschritte anstehen. Dieses Sprechen darüber ist ganz wichtig. Jede Schule hat Angebote wie den Berufsberater, der an die Schule kommt. Oder die Schülerinnen und Schüler besuchen das Berufsinformationszentrum. Oder sie stellen in Projekten etwas her oder bauen etwas auf, woran verschiedene Gewerke beteiligt sein können. Das BOP soll all diese Maßnahmen auf eine solide Basis stellen.

Online-Redaktion: Das BOP ist in die Initiative „Bildungsketten“ eingebettet. Was hat es damit auf sich?

Kirst: Die Initiative will die unterschiedlichen Maßnahmen, die zu so einem Berufsorientierungsprozess dazugehören, sinnvoll verbinden. Insbesondere soll der Übergang von der Schule in den Beruf sichergestellt werden, zum Beispiel mit den Berufseinstiegsbegleitern oder mit der assistierten Ausbildung, bei der Jugendliche mit schlechten Zeugnissen oder ohne Schulabschluss unterstützt werden. Neben dieser inhaltlichen gibt es noch eine systemische Ebene: Die verschiedenen Angebote der Berufsorientierung auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene sollen so verbunden werden, dass es keine Doppelungen gibt und sich die Angebote gut ergänzen.

Online-Redaktion: Was sind Gelingensbedingungen für eine gute Berufsorientierung?

Schüler unterhalten sich in der Aula
© Britta Hüning

Kirst: Wir stellen fest – und das wird durch Studien bestätigt –, dass die Eltern eine ganz große Rolle spielen. Ein Gelingensfaktor besteht darin, dass die Eltern sich in diesen Prozess einbringen, Interesse zeigen und ihre Kinder unterstützen. Auch wenn das bedeutet, einen Bildungsweg zu unterstützen, der nicht auf ein Studium hinausläuft oder den man in der Familie bisher so nicht kannte.

Zum zweiten ist wichtig, dass die Berufsorientierung in der Schule fest verankert ist. Sie muss als Prozess verstanden werden, der mit der Persönlichkeitsentwicklung zu tun hat. Es geht nicht nur darum, Informationen anzuhäufen, sondern auch darum, aus Informationen richtige Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen für den eigenen Lebensweg zu treffen. Diese Kompetenzen muss man erlernen – Berufsorientierung heißt nicht nur, zu erfahren, welche Tätigkeiten mit bestimmten Berufen verbunden sind. Und diese Kompetenzen wird man immer wieder im Leben benötigen.

Online-Redaktion: Wurde das Programm schon einmal evaluiert, um Stärken und Schwächen zu kennen?

Kirst: Wir haben das Programm über fünf Jahre evaluieren lassen, und der Abschlussbericht liegt uns gerade seit Anfang November vor. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Instrumente unseres Programms funktionieren. Als wesentlich erweist sich das Aufarbeiten der Maßnahmen in den Schulen. Reflexion und Feedback sind sehr wichtig. Wo sie durchgeführt werden, läuft das BOP besonders gut. Wo nicht über die Werkstatttage gesprochen wird, besteht die Gefahr, dass das Erlebte ohne Nachhaltigkeit verpufft. Zwei Wochen sind in einem Schülerleben ja auch nicht besonders viel.

Was sich mit der Evaluation nicht feststellen lässt, ist, ob unser Programm besser funktioniert als andere Maßnahmen. Uns fehlt für diesen Vergleich schlicht die Kontrollgruppe. Denn es gibt weder Schülerinnen und Schüler, die nur im Berufsorientierungsprogramm mitmachen, noch solche, die gar keine Angebote der Berufsorientierung wahrnehmen.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Guido Kirst ist Diplom-Pädagoge. Studium der Erziehungswissenschaft (Erwachsenenbildung und Sozialpädagogik) an der Universität Koblenz-Landau, 2001 Mitarbeiter in der Pädagogischen Servicestelle der Handwerkskammer Koblenz, 2002 bis 2003 Mitarbeiter im Modellprojekt SCOUT zur beruflichen Orientierung Jugendlicher, 2003 bis 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Landesmedienzentrum Rheinland-Pfalz (heute Pädagogisches Landesinstitut), seit 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) für die Förderprogramme STARegio und JOBSTARTER, seit 2014 Leiter der Programmstelle des Berufsorientierungsprogramm (BOP) des BMBF.

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