"Abbrüche vermeiden, Perspektiven schaffen" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Viele Jugendliche fühlen sich nicht ausreichend über berufliche Möglichkeiten informiert. Das Berufswahl-Siegel für Schulen kennzeichnet eine exzellente Berufs- und Studienorientierung. Geschäftsführerin Yvonne Kohlmann stellt es im Interview vor.

Online-Redaktion: Frau Kohlmann, was ist die Geschichte hinter dem Berufswahl-Siegel?

Porträtfoto Yvonne Kohlmann
Yvonne Kohlmann © Schulewirtschaft

Yvonne Kohlmann: Das Projekt ist 1999 aus einer regionalen Initiative in Ostwestfalen-Lippe entstanden und hat sich von dort aus in die Regionen verbreitet. 2005 fasste die Bertelsmann-Stiftung die verschiedenen Regionen in einem Netzwerk „Berufswahl-Siegel“ zusammen und weitete das Projekt weiter aus. Stiftungen stoßen gerne an, entwickeln weiter, aber ab einem gewissen Zeitpunkt müssen sich Projekte dann alleine behaupten. Und so wurden wir angesprochen, ob wir die Koordination des Netzwerks übernehmen könnten.

Wir sind eine Initiative der Arbeitgeberverbände, die Schule und Unternehmen vor Ort zusammenbringen und die Berufs- und Studienorientierung verbessern will. Seit 2010 koordinieren wir nun das Netzwerk, das inzwischen 450 verschiedene Trägerinstitutionen umfasst. In zwölf Ländern wird das Berufswahl-Siegel flächendeckend vergeben und in vier Ländern – Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz – in einzelnen Regionen.

Online-Redaktion: Wer sind die Träger vor Ort?

Kohlmann: Von Verbänden über Kammern, Gewerkschaften, die Arbeitsagentur, Bildungswerke der Wirtschaft, Stiftungen, Kommunen bis zu den Kultusministerien arbeiten ganz unterschiedliche Akteure zusammen. Vor Ort gibt es jeweils eine Ausschreibung, die die Träger oft zusammen mit den Kultusministerien erarbeiten.

Online-Redaktion: Welche Motivation stand hinter der Entwicklung des Berufswahl-Siegels?

Kohlmann: Wir möchten eine sehr gute Berufs- und Studienorientierung an den Schulen sichtbar machen und letztlich jungen Menschen helfen, ihre Startchancen zu erhöhen. Wenn Schulen ihre Berufs- und Studienorientierung systematisch und in einer guten Zusammenarbeit mit den Unternehmen vor Ort entwickeln, gelingt der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt für die Jugendlichen besser. Abbrüche werden vermieden, und gerade für leistungsschwächere Schüler werden bessere Perspektiven geschaffen. Das Siegel ist ein Instrument, alle Akteure der Berufs- und Studienorientierung zu vernetzen. Insgesamt gibt es inzwischen 1.562 Siegel-Schulen.

Online-Redaktion: Warum machen Schulen mit?

schülerin mit einer Bohrmaschine
© Rosa-Parks-Schule

Kohlmann: Ich habe einige Gespräche mit Schulen in Berlin geführt, wo es das Berufswahl-Siegel noch nicht so lange gibt. Dort haben die Träger die Schulen eingeladen, die das Siegel ein Jahr lang besitzen. Die Vertreterinnen und Vertreter dieser Schulen haben uns gesagt, dass sie ihren internen Prozess in der Qualitätsentwicklung von Schule und Berufsorientierung sehr gut voranbringen konnten und viel mehr Interesse von Unternehmen erfahren haben. Auch die Außenwirkung bei den Eltern ist gestiegen.

Online-Redaktion: Die Schulen schaffen ihre Angebote aber selbst, ohne Hilfe ihrerseits, und die Vernetzungs- und Beratungstätigkeit setzt erst danach ein?

Kohlmann: Letztendlich ist das Siegel ein freiwilliges Angebot an Schulen, von außen auf das Konzept und die abgestimmten Instrumente der Studien- und Berufsorientierung schauen zu lassen. Die Schulen bewerben sich mit einem Kriterienkatalog, in dem sie ihre Aktivitäten aufschlüsseln. Dieser wird dann in einem ersten Schritt von einer Jury bewertet, die aus Akteuren der Agentur für Arbeit, der Wirtschaft, Schulen, Verbänden und Schulewirtschaft besteht.

Ist die Bewerbung erfolgreich, folgt in einem zweiten Schritt eine Begehung vor Ort. Drei oder mehr Vertreter der Jury kommen in die Schule, sichten Materialien und führen Gespräche mit Schülerinnen und Schülern, Schulleitung, Lehrkräften und Kooperationspartnern. Danach entscheidet die Jury, ob das Siegel vergeben wird. Egal, ob die Schule erfolgreich ist oder nicht, gibt es am Ende immer eine konstruktive Kritik: was die Schule noch besser machen könnte oder woran es haperte, wenn es noch nicht geklappt hat. In einigen Regionen werden auch Workshops veranstaltet, um die Schulen zu unterstützen.

Online-Redaktion: Was macht eine Berufsorientierung preiswürdig?

Schülerinnen am Stand der Polizei beim Girl's Day
© Initiative D21, CC BY-ND 2.0

Kohlmann: Es muss auf jeden Fall ein schriftlich fixiertes, schulspezifisches Berufsorientierungskonzept vorliegen, das mit einzelnen Umsetzungsmodulen unterlegt ist. Es hilft nichts, wenn man einzelne Bausteine hat, sondern diese müssen sinnvoll miteinander verknüpft sein und von Jahrgang zu Jahrgang aufeinander aufbauen. Dann ist es wichtig, dass das Konzept in der Schule gut verankert ist, dass es gelebt wird und nicht an einer einzelnen Person hängt. Wenn ein Herr Müller für die Berufsorientierung abkommandiert ist, reicht das nicht, sondern es sollte schon ein Team dahinterstehen. Und nicht zuletzt braucht eine Schule Kooperationspartner, die sie bei der Umsetzung unterstützen.

Online-Redaktion: Wie viel Zeit vergeht von der Bewerbung bis zur Auszeichnung?

Kohlmann: Etwa ein halbes Jahr. Letztes Jahr haben sich 659 Schulen beworben, von denen 523 zertifiziert worden sind.

Online-Redaktion: Bei diesen Zahlen muss die Jury groß sein...

Kohlmann: Momentan arbeiten über 1.300 Jury-Mitglieder ehrenamtlich mit. Das sind Unternehmensvertreter, Verbandsvertreter und Lehrkräfte, die das aus Überzeugung machen und dafür keine finanzielle Entschädigung erhalten. Aber es entstehen natürlich für die Unternehmen auch Vorteile durch die Kontakte, die sich hier mit den Schulen knüpfen lassen. Und die Schulen können voneinander gute Beispiele abgucken und kopieren.

Online-Redaktion: Das Berufswahl-Siegel wird wissenschaftlich begleitet. Welchen Erkenntnisgewinn erhoffen Sie sich?

Kohlmann: Dr. Thorsten Bührmann, der bis vor kurzem an der Universität Paderborn war und nun an der Medical School Hamburg arbeitet, begleitet das Projekt und ist für uns ein Glücksfall, denn er hatte sich bereits als Auditor in Ostwestfalen-Lippe in der Region Detmold engagiert und kennt daher das Berufswahl-Siegel aus eigener Erfahrung. Außerdem hat er im Bereich der Umsetzung und systematischen Weiterentwicklung der Berufsorientierung geforscht.

Schülerinnen beim Girl's Day
© Initiative D21, CC BY-ND 2.0

Mit Herrn Bührmann haben wir es geschafft, ein Dachkonzept für den Kriterienkatalog zu entwickeln, das in allen Siegel-Regionen verankert ist, sodass der Katalog nun in den Grundkriterien immer gleich ist. Jetzt gibt es Standards, die überall geprüft werden, und die eine bessere Vergleichbarkeit als früher ermöglichen, als die Kriterienkataloge regional noch sehr unterschiedlich waren. Er hat uns auch dabei unterstützt, den Prozess weiter zu systematisieren. Regionale Besonderheiten kann es dabei weiterhin geben.

Online-Redaktion: Welche Rolle spielt das Thema Ganztagsschule?

Kohlmann: Beim Berufswahl-Siegel keine, bei Schulewirtschaft aber sehr wohl. Wir entwerfen gerade einen Praxisleitfaden, der aufzeigen soll, wie man Berufsorientierungsmaßnahmen mit der Ganztagsschule gut verknüpfen kann.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

 

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