Was will der Ganztag? Was leistet der Ganztag? : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Seit über zehn Jahren wird der Ausbau der Ganztagsangebote in Sachsen von der TU Dresden wissenschaftlich begleitet. In Vorbereitung ist ein Qualitätsrahmen für Ganztagsangebote.
Online-Redaktion: Herr Lehmann, in Sachsen gibt es seit über zwölf Jahren ein Landesprogramm zum Ausbau schulischer Ganztagsangebote und fast ebenso lange eine wissenschaftliche Begleitung. Wie kam es dazu?
Tobias Lehmann: 2004 bekam Prof. Hans Gängler von der TU Dresden die Aufgabe, die wissenschaftliche Begleitung durchzuführen, die von Beginn an mit zwei Stellen verbunden gewesen ist. Diese haben mein Kollege Stephan Bloße als Soziologe und ich als Diplom-Pädagoge mit dem Start des Projekts 2006 übernommen. Wir sind also von Anfang an dabei und haben jeweils einen etwas anderen Blickwinkel, was für das Projekt ein Gewinn ist.
Man muss allerdings dazu sagen, dass wir damals nicht davon ausgehen konnten, über zehn Jahre in der Begleitung zu arbeiten, und deshalb auch kein Forschungsdesign über einen solchen Zeitraum entwerfen konnten. Die Verlängerung des Projekts erfolgte jährlich. Relevante Themen für das nächste Jahr haben wir jeweils im Ministerium besprochen. Wenn es Veränderungen gab wie beispielsweise 2013 die Einführung der Sächsischen Ganztagsangebotsverordnung, die insbesondere das Antragsverfahren vereinfacht hat, haben wir dies im folgenden Jahr gezielt in das Forschungsdesign eingebaut.
Online-Redaktion: Wo haben Sie wen wie befragt?
Lehmann: Eine Konstante sind seit 2006 die landesweiten Schulleitungsbefragungen, bei denen wir alle sächsischen Schulen mit Ganztagsangeboten anschreiben und ein breites Meinungsbild abfragen. Neben den vorhin erwähnten aktuellen Bezugnahmen drehen sich die Fragen um viele klassische Ganztagsschulthemen wie Kooperation und individuelle Förderung. Dazu kam eine einmalige sachsenweite Lehrerbefragung. Die zweite Konstante sind 20 von uns ebenfalls zu Beginn des Projekts ausgesuchte Schulen mit Ganztagsangebot, mit denen wir über das Jahrzehnt zusammengearbeitet haben. Das sind Schulen aller allgemeinbildenden Schulformen: Grundschulen, Oberschulen, Gymnasien und Förderschulen. Wir wollten damit die gesamte sächsische Schullandschaft abbilden.
Diese Kooperationen nutzen wir für weitere quantitative Erhebungen bei Schülerinnen und Schülern, bei Eltern und bei Lehrern. Wir sind darüber hinaus oft in die Schulen gefahren, um mit einem breiten Methodenspektrum die Realität des Ganztags einzufangen. Wir haben Interviews mit den Schulleitungen, den Ganztagskoordinatoren, den Kooperationspartnern und Elternvertretern sowie Schülergruppendiskussionen durchgeführt. Dazu kamen Beobachtungen im Unterricht und in den Ganztagsangeboten. Zahlreiche Befunde, Praxisbeispiele sowie (Un-)Zufriedenheiten der Basis flossen in die Berichte ein, die wir dem Ministerium zurückgemeldet haben.
Ein weiterer Aspekt sind landesweite und regional orientierte Fortbildungsangebote, die wir zu Bereichen wie „Evaluation der Ganztagsangebote“, „Rhythmisierung“ und „Förderung“ in Zusammenarbeit mit der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ beziehungsweise den Regionalstellen der Sächsischen Bildungsagentur durchgeführt haben.
Online-Redaktion: Welche Entwicklungen, die sich in den Befragungen abbilden, sind prägnant über die zehn Jahre gewesen?
Lehmann: Als erstes ist allein schon mal die rein quantitative Entwicklung zu nennen, die Zahl der Schulen mit Ganztagsangeboten, die von 2005 mit 152 Schulen auf aktuell 1.278 gestiegen ist. Zweitens haben die Förderinstrumente des Landes immer einen sehr offenen und individuellen Ganztag ermöglicht.
Die Schulen sind frei in der Konzeption und Ausgestaltung ihrer Ganztagsangebote und wissen diese Möglichkeit der freien Gestaltung auch zu schätzen, wie unsere Erhebungen zeigen. Die Grenzen ergeben sich für die Schulen allein durch die finanzielle Ausstattung, aus der unter anderem folgt, dass es wenige voll gebundene Ganztagsschulen in Sachsen gibt. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es eine große Herausforderung, mit dieser Offenheit der Instrumente umzugehen. Welche Maßstäbe legen wir an? Welche Maßstäbe ergeben sich aus der Ganztagsschuldebatte? Dazu gibt es eine immer vielfältigere Breite der Akteure.
In der Breite setzen die Schulen die Angebote der individuellen Förderung und der Freizeit sehr gut um, und das Angebotsspektrum ist stabil. Inzwischen sind wir in eine Phase der Normalisierung eingetreten, in der der Ganztag zum Schulalltag dazugehört. Das ist eine ganz eigene Herausforderung. Die Schulen beschreiben, dass es schwieriger ist, das Angebotsniveau zu halten als es zu erreichen. Die Attraktivität des Angebots muss immer wieder neu belebt werden.
Online-Redaktion: Gibt es auch Veränderungsbedarf?
Lehmann: Das sind aktuell hauptsächlich finanzielle Fragen. Besonders kleinere Schulen äußern Unzufriedenheit mit der aktuellen Förderung, bei der die Fördersumme nach der Gesamtschülerzahl berechnet wird. Für die Verwaltung ist das natürlich einfach, aber es führt bei manchen Schulen zu einem Ungerechtigkeitsempfinden, wenn nur die bloßen Zahlen und nicht das tatsächlich vorhandene Angebot als Grundlage der Förderung herangezogen werden.
Ein weiterer Punkt, der unabhängig von der Ganztagsschule zu sehen ist, ist der Lehrkräftemangel. Die Lehrerinnen und Lehrer werden für die Absicherung des Unterrichts benötigt. Die Schulen fordern aber speziell für die Gestaltung der Angebote zur individuellen Förderung, die mit dem Ziel der Chancengleichheit immer mit der Ganztagsidee in Sachsen verbunden gewesen ist, den Einsatz von Lehrerinnen und Lehrern. Die Lehrerbeteiligung ist hier in den letzten Jahren stark zurückgegangen und hat sich zuletzt zumindest stabilisiert.
Online-Redaktion: Herr Bloße, beeinflussen die Ergebnisse der Forschung auch politische Entscheidungen?
Bloße: Wir sind kein politikgestaltender Akteur, und unsere wissenschaftliche Begleitung ist nur ein Faktor unter vielen, der den politischen Entscheidungsprozess beeinflusst. Wir sind in diskursive Prozesse auf Ebene der Verwaltung und der Referatsebene im Ministerium eingebunden, präsentieren unsere Ergebnisse und unterbreiten Vorschläge. Melden wir Beratungs- und Fortbildungsbedarfe weiter, können diese in Veranstaltungskonzeptionen einfließen. Der Austausch ist sehr rege. Wenn man von einer Einflussnahme sprechen kann, dann vielleicht insofern, dass die von uns gemeldeten positiven Ergebnisse der Haltung der Schulen und der Eltern in Bezug auf die Ganztagsangebote der Politik gezeigt haben, dass man auf dem richtigen Weg ist, was sicherlich die Weiterförderung der Ganztagsangebote bestärkt hat.
Online-Redaktion: Sie arbeiten mit am Qualitätsrahmen für Ganztagsangebote in Sachsen. Wie ist die Idee dazu entstanden?
Bloße: Da spielt auch der Wunsch der Schulen herein, der uns über all die Jahre begleitet hat: Sie wollen wissen, woran sie festmachen können, dass ihr Ganztag gut und wirksam ist. Diese Diskussion um die Definition von Qualitätskriterien wird ja in allen Bundesländern geführt. Wir fragen: Was will der Ganztag? Was ist das Spezifische? Wie verhält sich der Ganztag mit Blick auf die Integration, Inklusion oder Berufsorientierung?
Das neue Förderverfahren betont die Eigenverantwortung der Schulen in der Gestaltung des Ganztags. Die Eigenverantwortung soll auch in dem im kommenden Jahr erscheinenden überarbeiteten Schulgesetz eine stärkere Bedeutung erfahren. Wo mehr Eigenverantwortung ist, gibt es eine weniger enge Kopplung zwischen Schulaufsicht, Verwaltung und Schulen. Das macht es erforderlich, den Schulen eine Orientierung an die Hand zu geben, die wir wieder im Austausch mit allen Akteurs-Ebenen entwickeln. Der Entwurf wird in diesem Jahr den Schulen präsentiert. Wir wollen ihn mit dem allgemeinen Orientierungsrahmen für Schulqualität in Sachsen verzahnen.
Online-Redaktion: Immer wieder wird diskutiert, ob ein solche Qualitätsrahmen Entwicklungs- oder Kontrollinstrumente sind. Wie können die Schulen den Qualitätsrahmen nutzen?.
Bloße: Der Qualitätsrahmen ist nicht zuvorderst als Mittel der Kontrolle gedacht. In einigen Bundesländern gibt es beispielsweise etablierte Schulentwicklungsinstitute, die regelmäßig extern evaluieren und Aspekte des Ganztags dabei berücksichtigen sowie den Schulen entsprechende Rückmeldungen geben und unterschiedlich konkrete Qualitätsrahmen für Ganztagsschulen aufgestellt haben. In Sachsen hat es das bisher nicht gegeben. Jetzt soll der Sächsische Qualitätsrahmen zumindest den Schulen mit Ganztagsangeboten, Anhaltspunkte zur internen Evaluation und zur eigenständigen Qualitätssicherung und -entwicklung geben. Sie können damit den Ist-Stand feststellen, bekommen aber auch Möglichkeiten und Maßstäbe an die Hand, wohin sie sich noch entwickeln können.
Online-Redaktion: Wie geht es mit der wissenschaftlichen Begleitung weiter?
Bloße: Wir können heute sagen, dass diese auch kommendes Jahr fortgeführt wird. Es wird wieder eine Befragung der Lehrkräfte und Gruppendiskussionen mit Schülerinnen und Schülern der Abschlussjahrgänge, die kontinuierlich am Ganztag teilgenommen haben, geben. Weitere zentrale Arbeitsschwerpunkte werden 2017 die Fertigstellung des Qualitätsrahmens und die Begleitung seiner Implementation in den Schulen sein. Dazu werden wir auch Fortbildungsveranstaltungen organisieren.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Bundesländer - Berlin
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