Vom Lernort Bushaltestelle zum Lernort Tischtennisverein : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Thomas Coelen von der Universität Siegen beschäftigt sich schon lange mit dem Thema Ganztag, nicht zuletzt als Mitherausgeber des Handbuchs „Grundbegriffe Ganztagsbildung“.

Derzeit arbeitet er an gleich zwei neuen Forschungsprojekten, die durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert werden: Das gemeinsam mit Prof. Bernd Dollinger und zwei wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen, Pia Rother und Jenny Buchna, durchgeführte Projekt „’Bildungsbenachteiligung’ als Topos pädagogischer Akteure in Ganztagsschulen“ läuft bereits an der Universität Siegen. In Kooperation mit Prof. Angela Uttke (TU Berlin) wird im Herbst das Projekt "Lokale Bildungslandschaften und Stadtentwicklung – Schnittstellen, Verflechtungen und Wechselwirkungen" starten.

Online-Redaktion: Prof. Coelen, seit August 2013 arbeiten Sie an dem DFG-Projekt mit dem etwas sperrigen Titel „’Bildungsbenachteiligung’ als Topos pädagogischer Akteure in Ganztagsschulen“. Was wollen Sie herausfinden?

Coelen: Das auf zwei Jahre angelegte Projekt beschäftigt sich mit acht Grundschulen in drei Bundesländern. Wir untersuchen dabei drei Ganztagsschulformen: je zwei rhythmisierte, additive und kooperative Modelle und kontrastieren diese mit zwei Halbtagsschulen, die übrigens bereits schwer zu finden waren. Die Differenzierung der acht Schulen läuft dann entlang des sozialen Hintergrunds, also des schulischen Einzugsgebiets. Wir unterscheiden im Wesentlichen anhand sozioökonomischer Kriterien nach sozial privilegierten und sozial benachteiligten Einzugsgebieten.

Wir wollen herausfinden, durch welche Blickwinkel, Kategorisierungen oder „Brillen“ die verschiedenen Akteure welche Kinder warum als benachteiligt ansehen – und in welchem Zusammenhang das mit der Ganztagsschule gesehen wird, zum Beispiel was die Ganztagsschule hier ausrichten kann.

Online-Redaktion: Haben Sie für sich den Begriff „Bildungsbenachteiligung“ definiert?

Coelen: Nein, das ist ein rekonstruktives Projekt, bei dem wir nach den Potenzialen von Förderung fragen: Wer muss aus Sicht der Pädagogen gefördert werden, wer kann oder könnte durch den Ganztag gefördert werden? Die verschiedenen Professionen stellen dabei in ihren Diskussionen die unterschiedlichen Kategorisierungen von Benachteiligung her. Das ist das Entscheidende, weil dies den pädagogischen Alltag prägt: Wer sieht wen als benachteiligt an, und wie differieren solche Sichtweisen? Keiner nutzt im Alltag eine Definition von Benachteiligung, nach der er oder sie die Kinder beurteilt, sondern hier wird sozusagen professionsintuitiv gehandelt.

Online-Redaktion: Wie gehen Sie methodisch vor?

Coelen: Wir führen zuerst Interviews jeweils mit den Schulleitungen und mit den Leitungen des Ganztags. Dann veranstalten wir eine Gruppendiskussion mit den Lehrerinnen und Lehrern, eine Gruppendiskussion mit dem weiteren pädagogisch tätigen Personal und schließlich eine professionsgemischte Gruppendiskussion.

Online-Redaktion: Welche Einsichten erhoffen Sie sich?

Coelen: Wir hoffen zu erfahren, welche Förderpotenziale dem Ganztag in den verschiedenen Varianten zugeschrieben werden und wie diese Zuschreibungen der Förderpotenziale sich gegebenenfalls zwischen den Professionen unterscheiden.

Online-Redaktion: Im Oktober 2014 werden Sie mit einem weiteren Forschungsprojekt "Lokale Bildungslandschaften und Stadtentwicklung" starten, das Sie gemeinsam mit der Stadtplanerin Prof. Angela Uttke von der TU Berlin durchführen werden. Wie kam dieser Kontakt zustande?

Coelen: Über Frauke Burgdorff von der Montag Stiftung „Urbane Räume“ . Ich habe bereits in verschiedenen Projekten mit den Montag Stiftungen zusammengearbeitet, auch bereits beim Thema Bildungslandschaften. Prof. Uttke, die schon länger am Thema Bildungslandschaften aus städtebaulicher Sicht arbeitete, suchte einen Projektpartner aus der Erziehungswissenschaft

Online-Redaktion: Das Thema Lokale Bildungslandschaften ist für Sie also auch kein Neuland?

Coelen: Ich beschäftigte mich seit längerem damit, weil es ja eine Art Verlängerung des Themas Ganztagsbildung darstellt. Es umfasst auch die Bereiche Frühe Kindheit und Berufsorientierung und weist weitere Vernetzungsstrukturen entlang der so genannten Bildungskette auf. Bildungslandschaften kann auch als eine neue Bezeichnung für einen seit 80 bis 90 Jahren bestehenden Grundgedanken angesehen werden, der früher mit community education, Gemeinwesenarbeit oder Kommunalpädagogik betitelt wurde. Aus diesem Kontext heraus hatte ich schon 2001 meine Dissertation verfasst, die sich mit der Kooperation von Schulen und Jugendeinrichtungen in Bezug auf sozialräumliche Identität befasste. Daraus ist dann das Konzept der „Ganztagsbildung“ - eigentlich „Kommunale Kinder- und Jugendbildung“ - entstanden.

Online-Redaktion: Der Ganztagsschulkongress hatte bereits 2007 Lokale Bildungslandschaften zum Thema. Ist die Entwicklung solcher Bildungsräume seitdem kontinuierlich fortgeschritten?

Coelen: Bildungslandschaften sprießen an allen Ecken aus dem Boden – es gibt kaum noch eine Stadt oder einen Landkreis, der sich nicht Bildungslandschaft, -netzwerk oder -verbund nennt. Da hat es einen Schub durch die Erklärung des Städtetags in Aachen 2007 und durch das BMBF-Programm „Lernen vor Ort“ gegeben. Da solche Projekte mindestens mittelfristig angelegt sind, wird sich da sicher auch in Zukunft noch etwas tun. Wobei man sagen muss, dass die Bildungslandschaften in manchen Kommunen noch der Pflege bedürfen.

Online-Redaktion: Wie wäre denn Ihrer Ansicht nach eine Lokale Bildungslandschaft idealerweise beschaffen?

Coelen: Aus meiner Sicht müsste eine Landschaft mindestens zwei Blickwinkel ermöglichen: Man müsste auf die drei entscheidenden Übergänge schauen: Kita – Grundschule, Grundschule – Sekundarstufe I und dann von der Sekundarstufe I in Ausbildung, Beruf oder Studium. Mindestens einen dieser Bereiche nimmt jede Bildungslandschaft in den Fokus. Der wichtigste und schwierigste Übergang ist dabei der von der Grundschule zur Sekundarstufe I, worauf die Kommunen – außer durch Standortentscheidungen – aber leider kaum Einfluss nehmen können. Aber gerade dieser Übergang bereitet uns im internationalen Bereich so viele Probleme. Zu viele Kinder bekommen unpassende Schullaufbahnempfehlungen für die weiterführenden Schulen. Verständlich insofern, weil Lehrkräfte erhebliche diagnostische Fähigkeiten brauchen, dies korrekt einzuschätzen. Stattdessen wird nicht selten nach kulturellem Habitus entschieden. Außerdem findet diese Weichenstellung viel zu früh statt – kein anderes Land selektiert die Kinder bereits im Alter von zehn Jahren.

Online-Redaktion: Was sieht man im zweiten Blickwinkel?

Coelen: Der zweite Blickwinkel, der häufig vernachlässigt wird, ist jener der transversalen Übergänge. Hier betrachtet man die Bildungsbiografien nicht von jung nach alt, sondern querschnittartig: Welche Lernorte besucht ein Jugendlicher im Laufe eines Tages? Ein Beispiel: Ein 15-jähriges Mädchen ist morgens zuhause, geht dann zum Lernort Bushaltestelle, geht dann in den Lernort Schule, in den Lernort Pause, in den Lernort Ganztagsbetreuung und dann in den Lernort Tischtennisverein. Dabei twittert sie die meiste Zeit, chattet bei Facebook mit Freundinnen – ist also mit dem Lernort Medien unterwegs. Am Abend kommt sie nach Hause, wo sie sich mit ihrem Bruder streitet und wieder versöhnt, ein weiterer Lernort.

Das fachpolitische Problem: Diese Übergänge werden häufig nicht gestaltet. Hier das Beispiel: Ein Tischtennisverein organisiert zwar in der Ganztagssbetreuung am Nachmittag eine AG, und der Übungsleiter kommt auch nicht im Entferntesten auf die Idee, das Mädchen und ihre Freundinnen zu motivieren, das Vereinsangebot kennenzulernen. Solche Lernorte werden viel zu sehr isoliert organisiert. Diese transversalen Übergänge zwischen vorwiegend formalen und eher non-formalen Lernorten sind meiner Ansicht nach –  neben dem Übergang Grundschule-Sekundarstufe I –  die größte Baustelle.

Online-Redaktion: Was möchten Sie mit diesem Forschungsprojekt herausfinden?

Coelen: Hierbei handelt es sich um ein exploratives Forschungsprojekt, weil Bildungslandschaften sowohl in der Praxis als auch in der Forschung ein neues Feld sind. Wir möchten eruieren, was die unterschiedlichen Akteure aus dem Bereich Bildung im weitesten Sinne – also Kitas, Schulen, Jugendzentren, Vereine oder Verbände – und die Akteure aus dem Bereich Stadtentwicklung und Städtebau vom gemeinsamen Arbeiten erwarten, welche –  vielleicht widersprechenden – Ziele sie haben, was sie sich von der Zusammenarbeit erhoffen. Wir forschen dazu an acht Standorten in Deutschland, an denen bereits gebaut wird oder gebaut werden soll – zum Beispiel in Köln Altstadt-Nord, in Bernburg in Sachsen-Anhalt oder auf den Elbinseln in Hamburg. Nach dem zweijährigen Forschungsprojekt werden wir Hypothesen generiert haben, die man dann später anhand umgesetzter Beispiele überprüfen kann.

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