Unterricht & Angebote: Wie viel eigene Didaktik braucht der Ganztag? : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Prof. Ludwig Stecher kam von der Kindheits- und Jugendforschung zur Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG), die er 15 Jahre lang mitgeprägt hat. Im Interview resümiert er, was die Studie geleistet hat.
Online-Redaktion: Herr Prof. Stecher, in Berlin haben Sie kürzlich 15 Jahre StEG-Forschung bilanziert. Was macht die Besonderheit der Studie aus?
Ludwig Stecher: Eine Forschung zu einem bestimmten Thema durch eine einzelne Forschergruppe über 15 Jahre ist in der Bildungsforschung etwas Besonderes. Zum Vergleich: Einzelforschungen sind in der Regel auf drei Jahre angelegt, einen Sonderforschungsbereich fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) zwölf Jahre. Auch suchen die repräsentativen Längsschnitt-Befragungen von Schülerinnen und Schülern, Schulleitungen, Lehrkräften und Eltern, die wir 2005 bis 2009 in der ersten StEG-Phase durchgeführt haben, ihresgleichen. Ich habe auf vielen Reisen erlebt, dass StEG auch international anerkennend wahrgenommen wird.
Eine Besonderheit ist schließlich der StEG-Dreischritt von der repräsentativen Befragung über die Wirkungsstudien zu den Interventionsstudien, der vom Forschungsteam in diesem Zeitraum gegangen worden ist. Es gab in den letzten etwa zehn Jahren natürlich auch noch andere gute Ganztagsschulforschung, so etwa aus dem Forschungsnetzwerk heraus, das StEG initiiert und begleitet hat, aber StEG hat zweifelsohne wesentlich dazu beigetragen, dass wir heute über die Ganztagsschule im Grunde sehr vieles wissen.
Online-Redaktion: Sie waren von Anfang an dabei. Wie haben Sie selbst StEG als Forscher erlebt?
Stecher: StEG hat meine berufliche Laufbahn und die vieler Kolleginnen und Kollegen entscheidend geprägt. Allein neun, wenn ich richtig zähle und niemanden übersehe, ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden in den letzten Jahren als Professorinnen und Professoren berufen, in der Bildungsforschung, der Sozialarbeit oder der Außerschulischen Jugendbildung. Ich selbst komme ursprünglich aus der Kindheits- und Jugendforschung. Ein Gebiet, das jenseits der Shell-Jugendstudien gewöhnlich kein so großes Medienecho auf sich zieht.
Für mich war es eine ganz neue Welt, 2005 an das damalige Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in die Schulforschung zu kommen. Meine Habilitationsarbeit hatte ich zu subjektiven Bildungsprozessen geschrieben. Und jetzt musste ich eine institutionelle Perspektive einnehmen, zum Beispiel die Frage stellen, wie muss eine bestimmte Bildungs- oder Lerngelegenheit als außerunterrichtliches Angebot im Ganztag gestaltet sein, um effektive Lernprozesse zu unterstützen. Das war ein ganz wichtiger berufsbiografischer Schritt für mich, der mich in die empirische Bildungsforschung geführt hatte.
Online-Redaktion: Wie hat die Zusammenarbeit im Team über verschiedene Institutionen funktioniert?
Stecher: Sehr gut. Inhaltlich war es wichtig, hier nicht nur auf ein Institut oder eine Perspektive der Bildungsforschung zu setzen, sondern mit dem DIPF in Frankfurt am Main, dem Deutschen Jugendinstitut in München und dem Institut für Schulentwicklungsforschung in Dortmund und später auch der Justus-Liebig-Universität Gießen verschiedene Partner in einem Forschungskonsortium zusammenzubringen, die unterschiedliche Perspektiven einbringen. Denn die Ganztagsschule ist ein interdisziplinäres Forschungsgebiet. Ich habe von den Kollegen und Kolleginnen viel gelernt.
Online-Redaktion: Welche StEG-Ergebnisse sind für Sie besonders bemerkenswert?
Stecher: Wir können sehr gut belegen, dass soziales Lernen durch die Ganztagsschule gefördert wird. Befunde der 1980er und 1990er Jahre ließen das in gewisser Weise erwarten, aber wir konnten das empirisch absichern und die Bedingungen detailliert beschreiben. Wichtig ist auch, dass sich keine der Befürchtungen, die sich am Beginn der Studie mit der Ganztagsschule verbanden, bewahrheitet haben. Bei Vorträgen in Verbänden oder den Kirchen konnte ich noch Mitte der 2000er Jahre eine gewisse Reserviertheit der Ganztagsschule gegenüber spüren. Nimmt uns die Ganztagsschule die Kinder und Jugendlichen weg? Das war eine der Befürchtungen, die ich dort noch häufig angesprochen fand. Verbreitet waren aber auch Bedenken, dass das Familienklima unter der Ganztagsschule leiden würde, die Ganztagsschule den Familien die Kinder wegnehmen würde.
Empirisch hat sich das nicht bewahrheitet. Die Kolleginnen und Kollegen vom Deutschen Jugendinstitut haben beispielsweise im Gegenteil sogar zeigen können, dass Vereine, die sich für Kooperationen mit Ganztagsschulen öffnen, von der Ganztagsschule profitieren und Familien sich durch die Ganztagsschule teils entlastet und unterstützt fühlen. Eine Verschlechterung der Familienbeziehungen dadurch, dass die Kinder die Ganztagsschule besuchen, ist nicht festzustellen.
Über unsere erste StEG-Pressekonferenz 2007 hat die „taz“, wenn ich mich recht erinnere, unter einer originellen Titelzeile berichtet: „Ganztagsschule schadet nicht“. Da kann man schmunzeln, aber der Hintergrund ist durchaus für die Diskussion um die Ganztagsschule relevant: Die Ganztagsschule hätte ja tatsächlich negative Effekte haben können. Dass die genannten Befürchtungen nicht eingetreten sind, muss man deshalb auch mal deutlich herausstreichen.
Was wir nicht zeigen konnten, sind durchschlagende Effekte auf die schulischen Leistungen der Kinder. Zwar zeigen sich Verbesserungen bei den Noten, aber nur, wenn die pädagogische Qualität der Angebote hoch ist und diese regelmäßig und über einen längeren Zeitraum besucht werden. Effekte des Besuchs von Ganztagsangeboten zeigen sich in standardisierten Leistungstests nur wenige. Obwohl mich hier die jüngsten Befunde der Kolleginnen und Kollegen aus Dortmund und von der Universität Freiburg optimistischer stimmen. Sie haben eine Intervention zur Leseförderung entwickelt, die offensichtlich leistungsfördernd wirkt. Man muss sich nun genauer anschauen, wie man solche spezifisch entwickelten und kompetenzorientierten Angebote in die Breite bringt.
Online-Redaktion: In Ihrem Vortrag in Berlin äußerten Sie Sorge vor zwei „Sphären“ im Ganztagsbereich. Was meinen Sie damit?
Stecher: Ich bin sicherlich kein Euphoriker, was die Ganztagsschule betrifft, aber es sind ermutigende Belege zur Wirksamkeit der Ganztagsschule da. Der quantitative Ausbau ist ohnehin imponierend. Was indes die vor 2005 von der Kultusministerkonferenz und vom Forum Bildung geäußerte Erwartung auf die Entwicklung einer neuen Lehr- und Lernkultur betrifft, muss man skeptischer bilanzieren.
Die Veränderung der Lehr- und Lernkultur einer Schule ist ein langfristiger Prozess. Hier bedarf es Geduld. In StEG haben wir zeigen können, dass die erweiterte Zeit und die außerunterrichtlichen Angebote in der Ganztagsschule mehrheitlich noch nicht für andere methodische und didaktische Arbeitsweisen genutzt werden. Es hat sich keine, ich nenne das mal so, Ganztagsschuldidaktik herausgebildet, also eine Didaktik, wie schulische und außerunterrichtliche Angebote miteinander verbunden beziehungsweise „verzahnt“ werden.
Für eine Veränderung der Lehr-/Lernkultur ist eine gelingende inhaltliche Verbindung von Unterricht und Angeboten wichtig. In unseren bundesweiten Schulleitungsbefragungen hat sich gezeigt, dass die Verknüpfung von Unterricht und Angeboten in den Schulen sogar wieder abnimmt. Bei Gymnasien sagen inzwischen zwei Drittel aller befragten Schulleitungen, dass es keine ausreichende Verbindung gibt. Diese Zahlen muss man kritisch betrachten.
Hier sehe ich deshalb die Gefahr zweier nebeneinander arbeitender Systeme, zweier Sphären, und würde daher raten, an dieser Stelle die Verbindung von Angeboten und Unterricht nicht aus den Augen zu verlieren. Bei meiner Vorbereitung auf die Bilanztagung ist mir diese Sorge nochmal deutlicher zu Bewusstsein gekommen.
Online-Redaktion: Haben Sie eine Erklärung für diese Entwicklung?
Stecher: Man kann sagen, dass beispielsweise der Begriff der Verzahnung in fast jeder Programmatik zur Ganztagsschule fast reflexartig auftaucht, ohne dass damit immer auch schon ein konkretes Konzept verbunden wird. Dazu benötigen wir eine spezifische Forschung, die es, aus meiner Sicht, bisher nicht ausreichend gab. Ich glaube, man muss an den Ganztagsschulen unterschiedliche Verknüpfungsideen ausprobieren. In Steg II haben wir in Gießen einige Fallstudien zur Kooperation und zur Verknüpfung von Angeboten und Unterricht gemacht. In einer Schule arbeitete beispielsweise eine pädagogische Mitarbeiterin, die intensiv mit den Lehrkräften kooperierte und in der Hausaufgabenbetreuung den Schülerinnen und Schülern neue Lernimpulse gab, über die Hausaufgaben hinaus. Das führte zu sehr positiven Rückmeldungen von Schülerseite, und eine Schülerin sagte sogar, dass sie zu Hause von sich aus noch weiter an einem Thema gearbeitet hat, weil sie das so interessant fand. Das ist wohl die höchste Stufe der Aktivierung von Schülerinnen und Schülern, die man sich wünschen kann.
In unserer Studie ist aber auch deutlich geworden: Um diese Qualität im Angebot herzustellen, ist ein hoher Aufwand von Seiten der Pädagoginnen und Pädagogen notwendig und es gibt zahlreiche Beispiele, wo diese Aufgabe nicht gelingt. Man braucht Lehr- und Fachkräfte, die Sinn in multiprofessionellen Kooperationen sehen, die ein Auge auf die Kinder und die Lernprozesse haben und den Schülerinnen und Schülern andere Lernzugänge eröffnen. Die Fachkräfte, von denen ich hier spreche, wachsen aber nun nicht auf den Bäumen. Und da wären wir gleich noch bei einem anderen Thema, nämlich der Ausbildung der entsprechenden Fachkräfte. Aber das will ich hier nur kurz erwähnen.
Online-Redaktion: Sie haben vor zehn Jahren ein internationales Forschungsnetzwerk mit initiiert. Was ist national und international vergleichbar und was nicht?
Stecher: Das Netzwerk startete 2010 mit einer internationalen Konferenz in Gießen, die vom BMBF gefördert wurde. Es ist aus einer informellen Arbeitsgruppe von Kolleginnen und Kollegen entstanden. Inzwischen sind wir weltweit rund 150 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in der World Education Research Association (WERA) institutionalisiert sind. Das Netzwerk nennt sich WERA International Research Network Extended Education und beschäftigt sich – vereinfacht ausgedrückt – mit der außerunterrichtlichen Bildungsforschung. Wir arbeiten sehr aktiv zusammen, es gibt viele Treffen, zuletzt gerade in Schweden und im kommenden Jahr werden wir in Island einen internationalen Kongress haben. 2013 haben wir eine internationale Fachzeitschrift mit Unterstützung der DFG gegründet: das International Journal for Research on Extended Education.
Obwohl es in den Ländern unterschiedliche außerunterrichtliche Bildungsprogramme und -aktivitäten gibt, wie After-School-Programs, schwedische School-Age Educare Centers oder südkoreanische Ganztagsschulen, haben diese einige Forschungsfragen und praktische Probleme gemeinsam, die geklärt werden müssen. Fragen der multiprofessionellen Kooperation tauchen überall auf. Ebenfalls diskutiert man überall die – selbst bei gleicher Ausbildung – unterschiedliche Bezahlung der pädagogischen Fachkräfte. Natürlich geht es überall auch um Fragen der Effektivität: Funktioniert das, was man tut, und unter welchen Bedingungen werden Lehr- und Lernprozesse unterstützt?
Das Netzwerk hat gezeigt, dass viele dieser Fragen, von denen man meinen könnte, sie seien nur länderspezifisch zu klären, sich auf einer abstrakten Ebene überall wiederfinden und wir ein gemeinsames Forschungsinteresse haben. Ich komme da beinahe ins Schwärmen. Wir haben das Netzwerk mit einer kleinen Gruppe von internationalen Kolleginnen und Kollegen einst auf die Schiene gesetzt, aber inzwischen funktioniert es auch ohne die Gründungsgeneration. Es sind viele junge Forscherinnen und Forscher dabei. An der Universität Marburg haben wir 2016 einen internationalen Workshop zur Nachwuchsförderung organisiert – auch mit Unterstützung des BMBF. Da tut sich viel und StEG und deutsche Forschungspartner sind in der ersten Linie mit dabei. Und das ist, das darf ich an dieser Stelle auch sagen, unter anderem durch die großzügige Förderung durch das BMBF möglich geworden.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
„Im Mittelpunkt der neuen Lern- und Lehrkultur in allen Bildungsbereichen steht die möglichst gute individuelle Förderung der Lernenden. Ganztagsschulen können bessere zeitliche Bedingungen für eine individuelle Förderung schaffen und so leichter Lernbedingungen für unterschiedliche Begabungen und Lernvoraussetzungen ermöglichen. (...) Ganztagsangebote an allen Schulformen und in zumutbarer Entfernung für alle Kinder können unter methodischen, lerndidaktischen, erzieherischen sowie zeitlich-organisatorischen Aspekten erheblich zur notwendigen Qualitätsverbesserung der schulischen Bildung beitragen. Voraussetzungen sind ein klares pädagogisches Konzept sowie eine entsprechende Qualifizierung der Lehrkräfte und der Schulleitung.“
Neue Lern- und Lehrkultur. Vorläufige Empfehlungen und Expertenbericht. (Materialien des Forum Bildung, 10) Bonn 2001, S. 13-14.
„7. Maßnahmen zum Ausbau von schulischen und außerschulischen Ganztagsangeboten mit dem Ziel erweiterter Bildungs- und Fördermöglichkeiten, insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit Bildungsdefiziten und besonderen Begabungen.“
PISA 2000 – Zentrale Handlungsfelder. Zusammenfassende Darstellung der laufenden und geplanten Maßnahmen in den Ländern. Beschluss der 299. Kultusministerkonferenz vom 17./18.10.2002.
Kategorien: Ganztag vor Ort - Lernkultur und Unterrichtsentwicklung
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