„Über den Ganztag in die von Digitalisierung geprägte Welt“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Wie sind Ganztagsschulen auf digitales Lernen vorbereitet, und welche Möglichkeiten bieten sich, alle Schülerinnen und Schüler zu erreichen? Prof. Birgit Eickelmann im Interview über Ergebnisse der ICILS-2018-Studie.
Online-Redaktion: Frau Prof. Eickelmann, als Leitern der ICILS-2018-Studie zu digitalen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern beobachten Sie derzeit sicherlich mit besonderem Interesse, wie Schulen mit dem „Fernunterricht“ umgehen. Was fällt Ihnen auf?
Birgit Eickelmann: Mir fallen derzeit ganz unterschiedliche Dinge auf verschiedenen Ebenen auf. Die ersten Tage der Schulschließung waren davon geprägt, dass alle von der Situation etwas überrollt waren und eine große Verantwortung spürbar war: dass Schülerinnen und Schülern das Lernen weiter ermöglicht wird und man den Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen nicht verliert. Schnell wurde deutlich, dass Schulen, die sich schon digital gut aufgestellt hatten, viel mehr Möglichkeiten zur Verfügung haben, unmittelbar weiterzuarbeiten und Lernangebote zu unterbreiten. Vor allem Schulen, die über ein Lernmanagementsystem verfügen, in das Lehrkräfte ebenso wie Schülerinnen und Schüler schon eingebunden waren, mussten quasi nur den Schalter umlegen. An Schulen, die nicht so aufgestellt waren, wurden entweder auf der Schulebene oder von den einzelnen Lehrkräften andere Wege gesucht.
Online-Redaktion: Aber dabei ist es nicht geblieben...
Eickelmann: Genau. Im Weiteren wurden dann schnell Grenzen, aber auch Chancen deutlich. Als Chance wird gerade – auch in den sozialen Medien – hervorgehoben, dass das Digitale endlich in der Breite in Deutschland eine Rolle spielt. Das war ja, das zeigen auch die Ergebnisse der ICILS-2018-Studie sehr deutlich, lange Zeit nicht gegeben. Grenzen wurden nach den ersten Tagen aber schnell auch deutlich: Erreichen wir wirklich alle Kinder und Jugendlichen? Da geht es um das Thema Bildungsgerechtigkeit.
Auch die Frage, welche Rollen sollen und können jetzt eigentlich Eltern wirklich übernehmen, wird diskutiert. Nach der Anfangsphase, die eigentlich von Lösungen Tag zu Tag gelebt hat, gehen wir nun in eine Phase über, die Fragen nach den benötigten dauerhafteren Lösungen aufwirft. Und auch die Bildungsadministration ist aktiv geworden, nicht zuletzt durch die Möglichkeit, bestimmte Mittel aus dem Digitalpakt schnell abzurufen. Was nicht aus dem Blick geraten darf, ist die Seite der Lernenden, die längst nicht alle über für das Lernen gut verwendbare digitale Endgeräte verfügen. Mittelfristig müssen wir auch über Lehrkräfte, ihre Zusammenarbeit und ihre Belastungen sprechen.
Online-Redaktion: Nach den Ergebnissen der ICILS-2018-Studie scheinen Ganztagsschulen im Bereich der digitalen Medien nicht besser als Halbtagsschulen. Wie erklären Sie sich das?
Eickelmann: Es ist wie bei allem anderen in der Schule auch: Nichts ergibt sich von alleine. Der Ganztag ist eigentlich ideal, die Möglichkeiten des Lernens mit digitalen Medien in Projekten und an Themen weiterzuentwickeln und mit den Zielsetzungen, die ganztägige Beschulung verfolgt, zu verknüpfen. Dafür braucht es aber Konzepte, sowohl schulübergreifende als auch schulspezifische Konzepte. Viele Schulen haben sich da schon seit Jahren auf den Weg gemacht. Von diesen Schulen könnte man vieles lernen.
Online-Redaktion: Welche Chancen bietet digitales Lernen für eine Veränderung der Lernkultur in der Ganztagsschule?
Eickelmann: Der Ganztag bietet aus meiner Sicht die einzigartige Chance, schulisches Lernen auf schulisches Zusammenleben zu erweitern. Wenn man sich in verschiedenen Situationen kennenlernt, wird eine andere Art des Lernens ermöglicht und ein anderer Umgang miteinander. Genau das hat für die reflektierte und kompetente Nutzung digitaler Medien eine hohe Relevanz. Neben der Art des Umgangs miteinander spielen natürlich auch Lernargumente eine Rolle. Die größte Chance des Lernens mit digitalen Medien liegt aus meiner Sicht im personalisierten, schülerorientierten und produktorientierten Arbeiten. Idealerweise wird die dadurch bei den Schülerinnen und Schülern entstehende Motivation nicht durch einen 45-Minuten-Rhythmus unterbrochen und ist von gegenseitiger Unterstützung geprägt.
Online-Redaktion: Könnten Ganztagsschulen nicht gerade mit Blick auf die Chancengleichheit den Schülerinnen und Schülern mehr bieten?
Eickelmann: Im Hinblick auf das für Deutschland immer noch vergleichsweise neue Feld der „digitalen Kompetenzen“ in jedem Fall, wobei ich eher das Wort „Chancengerechtigkeit“ verwenden würde. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, mit digitalen Medien Schülerinnen und Schüler zu fordern und zu fördern. Das sind zum einen die, die zu Hause nicht die entsprechenden Chancen vorfinden. An sie kann die Schule über den Ganztag die von Digitalisierung geprägte Welt so herantragen, dass sich daraus auch berufliche Perspektiven ergeben. Anhand der Ergebnisse der ICILS-2018-Studie können wir genau sehen, dass ein Drittel der Jugendlichen weiterhin nur Kompetenzen auf den unteren beiden Kompetenzstufen hat, also eigentlich nur „klicken und wischen“ kann, um es ein wenig salopp zu sagen.
Aber auch für Schülerinnen und Schüler aus vermeintlich bildungsnahen Familien kann der Ganztag hier Lerngelegenheiten bereitstellen. Projektangebote, für die im Halbtag keine Zeit ist, gibt es genügend. Durch die „Corona-Krise“ sind viele innerhalb kürzester Zeit nochmal weiterentwickelt und bekannter worden. Zusammengefasst lässt sich feststellen: Der Ganztag hat so viele Möglichkeiten im Kontext der Gestaltung von Lernen und Leben unter den Bedingungen des digitalen Wandels, die in Deutschland wohl noch längst nicht ausgeschöpft werden.
Online-Redaktion: Was empfehlen Sie Lehrerinnen und Lehrern, die vielleicht bisher zurückhaltend waren, was digitalen Unterricht betrifft?
Eickelmann: Einfach anfangen. Kompetenzen im Kollegium sichtbar und nutzbar machen. Auf Schulebene zusammenarbeiten, Konzepte für die reflektierte Nutzung digitaler Medien mit Kolleginnen und Kollegen gemeinsam entwickeln. Sich gegenseitig im Unterricht besuchen. Einfach mal was ausprobieren.
Aber – und das führt uns nochmal die ICILS-2018-Studie vor Augen – „digital“ ist nicht automatisch besser, das kann und sollte nicht nur zu lehrerzentriertem Unterricht führen. Die Faszination sollte weiter vom Lernen und nicht vom Medium ausgehen, um nachhaltige Lerneffekte zu erzielen und Schülerinnen und Schüler fit für die Zukunft zu machen.
Wichtig sind dazu aber Konzepte auf Schulebene und schulübergreifende Unterstützungsstrukturen. Aus unseren Forschungen wissen wir natürlich auch, dass es nicht nur auf die Lehrkräfte alleine ankommt. Dreh- und Angelpunkt, ob und wie digitales Lernen an Schulen gelingt, sind die Schulleitungen und die Schulleitungsteams.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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