Teilnahme am Ganztag: "Eintägiges Gastspiel reicht nicht" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Welche Wirkungen Ganztagsangebote haben, hängt auch davon ab, ob Schülerinnen und Schüler sie ausreichend nutzen. StEG-Forscher Prof. Wolfram Rollett sieht hier noch deutliches Potential.
Online-Redaktion: Prof. Rollett, Sie gehören zum Team der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ und haben unter anderem die Qualität der Kooperation an Ganztagsschulen untersucht, aber auch die Teilnahme an den Ganztagsangeboten. Wie wichtig ist die Teilnahme der Schülerinnen und Schülern am Ganztag?
Wolfram Rollett: Unser Forschungsteam am Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) in Dortmund wertete die Teilnahme am Ganztagsangebot als einen schulischen Qualitätsindikator. Wenn Ganztagsschule Wirkungen erzielen soll, dann müssen die Schülerinnen und Schüler deren Angebote auch an mehreren Tagen wahrnehmen. Ein eintägiges „Gastspiel“ pro Woche im Ganztag reicht dazu sicher nicht aus. In der Ganztagsschuldiskussion wird davon ausgegangen, dass drei Tage Teilnahme pro Woche ein Kriterium sind, bei dem man Auswirkungen zum Beispiel im Bereich des Lernerfolgs und des sozialen Lernens erwarten kann.
Denn was in der öffentlichen Diskussion über Ganztagsschulen wenig thematisiert wird, ist der Umstand, dass wir bei der Ganztagsschule über einen relativ geringen Zeitzuwachs für die Angebote gegenüber der Halbtagsschule sprechen. Zieht man die einstündige Mittagspause und andere Erholungspausen ab, bleibt bis 16 Uhr neben dem regulären Unterricht gar nicht so viel mehr Extra-Zeit pro Tag übrig. Das gilt wegen der Stundentafel insbesondere für die Sekundarstufe und noch einmal mehr für die älteren Jahrgangsstufen. Daher braucht man auch mindestens die drei Tage, um nachhaltig mit Schülerinnen und Schülern arbeiten zu können. Zudem stellen sich – wie vor allem das Frankfurter StEG-Team zeigen konnte – nachweisbare Wirkungen erst dann ein, wenn die Teilnahme auch über mehrere Jahre hinweg erfolgt.
Online-Redaktion: Werden in den Ganztagsschulen diese drei Tage Teilnahme erreicht?
Rollett: Nach unseren bundesweiten Erhebungen nehmen in der Grundschule etwa 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler das Ganztagsangebot wahr. Wir haben uns auch die Teilnahmeintensität in der 3. Jahrgangsstufe angesehen, die dort bei 80 Prozent für mindestens drei Tage lag. In der Sekundarstufe bricht das dann ziemlich ein. Bezogen auf die 5. Klassen erreicht man in dieser Intensität von drei Tagen oder mehr die Schülerinnen und Schüler nur noch zu einem Drittel. Zwei Drittel nehmen lediglich an ein bis zwei Tagen teil.
Wobei man sich vergegenwärtigen muss, dass nach unseren Befunden an Ganztagsschulen in den 5. Klassen der Sekundarstufe sowieso nur etwa 70 Prozent am Ganztag teilnehmen. Und dieser Prozentwert wird mit wachsendem Alter immer kleiner: Mit jeder Schulstufe verlieren die Ganztagsschulen in Deutschland im Schnitt etwa vier Prozentpunkte bei der Teilnahme. In der 9. Jahrgangsstufe erreichen wir so bundesweit noch etwas mehr als 50 Prozent. In offenen Ganztagsschulen nimmt allerdings nur noch etwa ein Drittel dieses Jahrgangs an den Ganztagsangeboten teil. Das zeigt, dass wir noch nicht die Nutzung erreichen, um das Potenzial der Ganztagsschule wirklich auszuschöpfen. Das ist natürlich bedauerlich, wenn man sieht, welche Anstrengungen unternommen und wie viele Mittel für den Angebotsausbau investiert worden sind.
Online-Redaktion: Verstehe ich Sie richtig, dass mancher „Ganztagsschüler“ nur an einem Tag in der Woche das Ganztagsangebot nutzt?
Rollett: Richtig. Und selbst bei gebundenen Ganztagsschulen kann die Teilnahmeintensität variieren, wie unsere Daten zeigen. Vertraut man den Angaben der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern, die wir befragt haben, zeigt sich, dass nicht an allen gebundenen Ganztagsschulen alle Kinder und Jugendlichen wirklich mindestens drei Tage bis in den Nachmittag anwesend sind.
Online-Redaktion: Arbeiten Ganztagsschulen daran, die Teilnahme zu erhöhen?
Rollett: Versucht wird das natürlich. In der Zeit, in denen die StEG-Studie bundesweit 371 Schulen über vier Jahre hinweg begleitet hat, konnten wir aber nur in der 9. Jahrgangsstufe einen gewissen Anstieg der Teilnahmezahlen der Jugendlichen feststellen. Das kann daran liegen, dass die Schülerinnen und Schüler, die von der 5. Jahrgangsstufe an die Ganztagsschule kennengelernt haben, bleiben, was ja ein erfreulicher Trend ist. Ansonsten ließen sich aber keine bedeutsamen Zuwächse feststellen.
Das passt auch zu Statistiken, die ich auf der Grundlage von KMK-Daten abgeleitet habe: Dort zeigt sich, dass seit 2002 bei einem Plus von einem Prozentpunkt bei den Ganztagsschulen ein Plus von 0,53 bis 0,60 Prozentpunkten bei den Ganztagsschülerinnen und -schülern erreicht wurde. Der Zuwachs bei der Teilnahme speist sich also mehr durch die Zunahme der Ganztagsschulen als dadurch, dass es Schulen gelingt, mehr und mehr Kinder und Jugendliche im laufenden Betrieb für das Ganztagsangebot zu gewinnen. Dann müssten die Teilnahmezuwächse nämlich höher sein. Nach den ersten drei bis vier Jahren im Ganztagsbetrieb scheint sich an vielen Schulen bei der Teilnahme nicht mehr viel zu tun. Das sind natürlich bundesweite Durchschnittswerte, sicher gibt es auch Schulen, denen es gelingt, mit attraktiven Angeboten mehr und mehr Schülerinnen und Schüler anzuziehen.
Online-Redaktion: Dann mutet die Diskussion in der Öffentlichkeit um die „verschulte Kindheit“ oder die Gefahr, dass kein Schüler mehr Zeit für seinen Verein habe, etwas realitätsfern an...
Rollett: Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler nimmt ja noch gar nicht am Ganztagsangebot teil. Und diejenigen, die teilnehmen, tun das nicht in einer Intensität, bei der man von einer „verschulten Kindheit“ sprechen kann. Lediglich für die Ganztagsgrundschule kann man konstatieren, dass sich die Mehrheit der Kinder an vier Nachmittagen bis etwa 16 Uhr dort aufhält.
Von Verschulung kann trotzdem keine Rede sein, wie unsere Daten zeigen. Die fachunabhängigen Angebote vom Sport über die Bastel-AG bis zum Schulgarten sind so vielfältig, dass man sich an der einen oder anderen Stelle sogar die eine oder andere schulfachnahe Arbeitsgemeinschaft mehr wünschen würde. Aber kein Kind sitzt von 8 bis 16 Uhr auf einem Stuhl vor einem Schulbuch. Eine Ganztagsunterrichtsschule möchte auch niemand.
Hinzu kommt, dass die Hausaufgaben in der Schule erledigt werden sollten. Wenn wir diese mit einer funktionierenden Hausaufgabenbetreuung in die Schule verlagern, sollte der restliche Tag bis auf gelegentliches Üben frei sein. Ich kann mich erinnern, wie ich selbst früher gar nicht so selten zu Hause noch bis spätabends über den Hausaufgaben saß – da kann man wohl eher von „Verschulung der Kindheit“ sprechen.
Online-Redaktion: Sie untersuchen auch Wirkungen: Was haben Schüler davon, wenn sie ein Ganztagsangebot nutzen?
Rollett: Die Grundbedingung für die Wirkung ist eine dauerhafte und regelmäßige Teilnahme am Ganztagsangebot. Wir konnten in der StEG-Studie nachweisen, dass sich dann das Sozialverhalten besser entwickelt und das Risiko für Klassenwiederholungen deutlich verringert. Weitere Wirkungen zum Beispiel hinsichtlich verbesserter Schulnoten oder der Schulfreude finden wir darüber hinaus, wenn die Schülerinnen und Schüler die Qualität der Angebote als positiv wahrnehmen, sie sich zum Beispiel im Lernen unterstützt sehen und die Angebote als aktivierend und herausfordernd erleben. Wenn dann noch die soziale Beziehung zu den Lehrkräften oder dem außerschulischen Personal von den Schülerinnen und Schülern als gut empfunden wird, verstärken sich die positiven Wirkungen der Ganztagsangebote nochmal zusätzlich.
Wollen Ganztagsschulen also erfolgreich sein, müssen sie die Teilnahme ihrer Schülerinnen und Schüler sichern, qualitativ gute Angebote entwickeln, die Kinder und Jugendliche auch ansprechen, und schließlich die Beziehungsebene in den Blick nehmen und daran arbeiten. Entscheidend für die Wirksamkeit ist tatsächlich, wie die Schülerinnen und Schüler die Angebots- und die Beziehungsqualität wahrnehmen!
Online-Redaktion: In den allermeisten Ganztagsschulen ist die Teilnahme am Ganztagsangebot freiwillig. Ist das aus Ihrer Sicht ein Vorteil oder ein Nachteil?
Rollett: Mit Blick auf die Ziele der Ganztagsschule sehe ich das als Nachteil. Der ganze Unterricht muss im Vormittag untergebracht werden. Dem sinnvollen Wechsel von Unterricht und Angeboten sind damit Grenzen gesetzt. Aber auch hinsichtlich des Organisationsaufwands, den man den Schulen mit dem offenen Modell zumutet, ist es ein gravierender Nachteil. Jedes Jahr oder sogar jedes Halbjahr müssen die Schulen neu erfragen, wer überhaupt teilnimmt und an welchen Angeboten, wonach sich dann oft auch entscheidet, welche Angebote überhaupt stattfinden können. Da müssen dann auch die Honorarkräfte und die Kooperationspartner abwarten, ob sie überhaupt gebraucht werden.
Die Schülerinnen und Schüler bleiben dann auch unterschiedlich lange: Manche nehmen unter Umständen nur am Mittagessen teil, einige gehen nach einer Pause in die Hausaufgabenbetreuung, eine weitere Gruppe nutzt dann möglicherweise noch eine AG und vielleicht kommt für einige, wenn der Bedarf besteht, noch ein Betreuungsangebot dazu. Und das kann wiederum noch von Tag zu Tag variieren. Alles in allem ein sehr großer Organisationsaufwand, der in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich unterschätzt wird.
Online-Redaktion: Heißt das, Sie plädieren für gebundene Ganztagsschulen?
Rollett: Die gebundene Ganztagsschule mit ihrer stabilen Organisationsstruktur, den klaren Zeitfenstern und der geregelten Teilnahme ist einfacher zu organisieren und sollte auch besser abschneiden. Gleichwohl haben wir in unseren Studien feststellen müssen, dass die gebundenen Ganztagsschulen bei den Qualitätsindikatoren nicht besser waren. Die enormen Anstrengungen von manchen offenen Ganztagsgrundschulen führen beispielsweise dazu, dass sie ihren Schülerinnen und Schülern am Nachmittag bis zu vier Angebote machen und Teilnahmequoten von bis zu 90 Prozent erreichen. Und umgekehrt gibt es gebundene Ganztagsschulen, die aus ihren organisatorisch günstigen Rahmenbedingungen überraschend wenig machen und deren Angebote von den Schülerinnen und Schülern auch weniger gut bewertet wurden.
Online-Redaktion: Sie sind auch an der laufenden StEG-Studie im Verbund mit dem IFS Dortmund beteiligt. Was untersuchen Sie konkret?
Rollett: Wir haben in der letzten Förderphase über 18 Monate in 67 Grundschulen bei über 2.000 Drittklässlern die Fördereffekte von Ganztagsangeboten zur Leseförderung untersucht. Aus den bisherigen Ergebnissen müssen wir folgern, dass sich in diesem Zeitraum keine bedeutsamen Effekte der Angebotsteilnahme auf die Verbesserung der Lesekompetenz gezeigt haben. Für uns stellt sich natürlich die Frage, woran das liegt. Finden die Angebote zum Beispiel zu selten statt? Bestehen Schwächen im didaktischen Konzept? Oder erfassen unsere Methoden gerade jene Aspekte der Lesefertigkeiten nicht, die in den Angeboten geschult werden? Lesekompetenztests, die in der Schuleffektivitätsforschung üblicherweise verwendet werden, orientieren sich beispielsweise nicht am schulischen Curriculum.
Wir haben am IFS in Dortmund in der neuen StEG-Förderphase daher ein Expertenteam aus Praktikern und Wissenschaftlern zusammengestellt, das unter Berücksichtigung der curricularen Vorgaben ein fachlich und didaktisch qualitativ hochwertiges Angebot entwickeln soll. Die Lehrkräfte der Schulen, die mit uns in der Studie zusammenarbeiten, werden von uns entsprechend geschult. Die Implementation des Angebotes wird von uns über ein Schulhalbjahr wissenschaftlich begleitet. Dabei setzen wir Lesetests ein, die sich am schulischen Curriculum orientieren. Wir hoffen, dass wir mit dieser Intervention zeigen können, dass sich die Lesefähigkeiten von Grundschülern durch ein entsprechendes Ganztagsangebot steigern lassen.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Gespräch!
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