Sport im Ganztag: Inklusion noch ausbaufähig : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Eine Studie in vier NRW-Städten zeigt: 43 Prozent der Offenen Ganztagsgrundschulen geben an, Sportangebote gezielt zur Inklusion zu nutzen. Für Dr. Fabienne Bartsch von der Deutschen Sporthochschule Köln ist das noch zu wenig.
Online-Redaktion: Was motivierte Sie und Ihre Kolleginnen, zu analysieren, wie Inklusion und Integration in den Sportangeboten im Ganztag bislang umgesetzt und gestaltet werden?
Dr. Fabienne Bartsch: Nicht zuletzt die Ergebnisse der StEG-Studie belegen, dass Sport- und Bewegungsangebote im Ganztag eine sehr wichtige Rolle spielen. Über 95 Prozent der Ganztagschulen bieten Angebote aus diesem Bereich an. 80 Prozent der Grundschulen kooperieren nach eigenen Angaben mit Sportvereinen, -schulen oder -verbänden. Hinzu kommt, dass der sportbezogene Ganztag als Teil des Bildungssystems dazu aufgefordert ist, allen jungen Menschen Inklusion und Teilhabe zu ermöglichen – so wie es in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung formuliert ist. Unklar ist jedoch, inwiefern der sportbezogene Ganztag diesen Erwartungen und Anliegen bereits nachkommt. Es fehlen dazu wissenschaftliche Untersuchungen, die analysieren, wie der sportbezogene Ganztag mit Blick auf Inklusion und Integration aufgestellt ist. Und genau an dieser Frage setzt unsere Untersuchung an.
Online-Redaktion: Wie sind Sie vorgegangen?
Bartsch: Wir haben die Leitungen des Offenen Ganztags von Grundschulen in vier nordrhein-westfälischen Städten (Köln, Wuppertal, Remscheid, Solingen) zur Teilnahme an einer quantitativen Online-Befragung eingeladen. Dabei haben wir ein weites Inklusionsverständnis zugrunde gelegt, das über die Dimensionen Behinderung und Migration hinausgeht und auch Aspekte wie Geschlecht und soziale Herkunft berücksichtigt. Die Antworten von 89 OGS-Leitungen konnten wir in die Auswertung einbeziehen, andere mussten wir außen vorlassen, da die Antworten zu lückenhaft waren.
Unsere Erkenntnisse basieren somit auf den Rückmeldungen von etwa 40 Prozent der Grundschulen mit offenem Ganztag in den untersuchten Städten. Das ist insgesamt ein Rücklauf, mit dem wir zufrieden sind. Zugleich ergeben sich daraus schon erste Ansätze für die Analyse der Daten. Denn auch die Tatsache, dass mehr als die Hälfte nicht oder unvollständig geantwortet haben, sagt schließlich etwas aus.
Online-Redaktion: Will heißen: Inklusion und Integration im Ganztagssport der Grundschulen spielen eine eher untergeordnete Rolle?
Bartsch: Das muss man in Teilen wohl als zentrales Ergebnis akzeptieren, wobei wir auf Basis unserer Daten auch differenzieren müssen. Auf unsere Frage, welche Rolle Inklusion und Integration bei der Planung und Umsetzung der Sport- und Bewegungsangebote im Offenen Ganztag spielen, meinten 43 Prozent, dass die Angebote gezielt zur Inklusion und Integration genutzt werden. 44 Prozent der Befragten gaben an, dass dies „eher nebensächlich“ sei. 13 Prozent aber sagten, dass beides keine Rolle spiele.
Online-Redaktion: Hat Sie und Ihre Projektpartnerinnen das Ergebnis überrascht?
Bartsch: Angesichts dessen, dass Inklusion ein bildungspolitisch sehr relevantes Thema ist, zu deren Umsetzung die Schulen verpflichtet sind, ist der Befund sicherlich bemerkenswert. Er lässt darauf schließen, dass Inklusion im sportbezogenen Ganztag noch nicht konsequent verfolgt wird. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass nicht alle Kinder die Möglichkeit erhalten, von den Potenzialen des Sports in der Ganztagsschule zu profitieren. Ihnen bleiben somit wichtige Impulse für die Persönlichkeitsentwicklung, die Stärkung ihrer Gesundheit und den Ausbau sozialer Kompetenzen verwehrt.
Online-Redaktion: Haben Sie auch Informationen dazu erhoben, wie diejenigen, die die Sportangebote leiten, hinsichtlich der Themen Inklusion und Integration aufgestellt sind?
Bartsch: Zu dieser Frage zeigen die Daten sehr interessante Ergebnisse. Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass die Themen für die Einstellung von Personal im sportbezogenen Ganztag kaum eine Rolle spielen. Bei fast 80 Prozent sind inklusionsbezogene Erfahrungen und Qualifikationen nicht einstellungsrelevant. Insgesamt scheint das Personal ein zentraler Knackpunkt zu sein. Denn mehr als 50 Prozent der Befragten sehen die personellen Ressourcen im Hinblick auf Inklusion kritisch. Gut 87 Prozent geben an, dass sie sich Fortbildungen für die Fachkräfte wünschen, um die inklusive Ausrichtung der Sportangebote voranzutreiben.
Online-Redaktion: Muss man aus diesen Erkenntnissen schließen, dass auch Kinder vom Sport im Ganztag ausgeschlossen sind?
Bartsch: Ja, das liegt nahe. Wir haben die OGS-Leitungen sogar konkret gefragt, ob und welche Schülerinnen und Schüler aus ihrer Perspektive in diesen Angeboten unterrepräsentiert sind. Ein Drittel sagen, dass Kinder mit Beeinträchtigung und/oder Förderbedarf unterrepräsentiert sind. Gefolgt von Schülerinnen und Schülern, die transgeschlechtlich oder divers sind – sich also weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen – mit 28 Prozent und Mädchen (24 Prozent). Kinder mit nicht-deutscher Herkunftssprache beziehungsweise Kinder mit Flucht- oder Migrationshintergrund sehen 18 Prozent der OGS-Leitungen unterrepräsentiert. Fragen wir nach Schülerinnen und Schülern, die von Armut betroffen sind, liegt der Wert bei 15 Prozent. Jungen dagegen werden von nur drei Prozent als unterrepräsentiert wahrgenommen.
Online-Redaktion: Das muss doch die OGS-Leitungen unzufrieden zurücklassen…
Bartsch: Das tut es tatsächlich auch in einigen Bereichen. Deutlich am niedrigsten fällt jedoch die Zufriedenheit mit der Inklusion von Kindern mit Beeinträchtigung und/oder Förderbedarf aus. Hier zeigen sich knapp 60 Prozent der Befragten unzufrieden. Zum Vergleich: Am höchsten fällt die Zufriedenheit mit der Einbindung von Jungen aus, hier liegt der Wert bei 65 Prozent.
Online-Redaktion: Haben Sie eine Erklärung für den eher geringen Stellenwert der Inklusion in den Sportangeboten des Ganztags?
Bartsch: Es scheint, dass die Relevanz des Themas und die bildungspolitische Verpflichtung, Inklusion umzusetzen, noch nicht durchgehend erkannt wurden. Möglich ist auch, dass der vorauseilende Ruf des Sports, per se inklusiv und integrativ zu wirken, dazu verleitet, nicht aktiv zu werden. Dabei wissen wir aus der Forschung, dass auch Sport- und Bewegungsangebote nicht automatisch inklusiv sind, sondern entsprechend geplant und gestaltet werden müssen.
Unsere Gespräche im Vorfeld der Befragung haben zudem nochmal deutlich gemacht, dass sich die Leitungen und Fachkräfte mit vielfältigen Aufgaben konfrontiert sehen. Neben dem „Üblichen“ kommen aktuell natürlich der Umgang und die Folgen der Pandemie dazu. Gleichzeitig müssen sie mit geringen Ressourcen umgehen. Sie stehen also einigen Herausforderungen und Belastungen gegenüber, die ernst genommen werden müssen.
Inklusion ist für die Akteure im sportbezogenen Ganztag oft ein Punkt von vielen, der in der Hektik des Alltags bisweilen untergeht oder womöglich sogar als zusätzlich Belastung wahrgenommen wird. Das entbindet den Ganztag aber nicht davon, das Thema anzugehen – ganz im Gegenteil. Die aktuelle Situation der Aufnahme von Kindern aus der Ukraine in den Schulen unterstreicht dies nochmal. Es ist eine zentrale Aufgabe des Ganztags, Kinder gut aufzunehmen und willkommen zu heißen. Und da bietet der Sport nun mal sehr gute Möglichkeiten.
Online-Redaktion: Welche Schlüsse ziehen Sie und Ihre Projektpartnerinnen aus dieser Befragung?
Bartsch: Das Thema muss stärker als bisher ins Bewusstsein der Handelnden gerückt werden. Damit meine ich nicht nur die OGS-Leitungen und -Fachkräfte. Wir denken an die Träger des Ganztags, die Landessportverbände, die Vereine, die Universitäten und Hochschulen. Wir brauchen mehr inklusionsbezogene Fort- und Weiterbildungsangebote. Generell sollte der Inklusionsgedanke in der Ausbildung von Sportlehrkräften sowie anderer zentraler Akteurinnen und Akteure im Sport stärker berücksichtigt werden.
Online-Redaktion: Genügt eine quantitative Erhebung als Impuls?
Bartsch: Sie kann ein wenig aufrütteln. Doch es sind vertiefende Berechnungen und Analysen erforderlich, zum Beispiel zu Zusammenhängen zwischen der Trägerschaft des Ganztags beziehungsweise Kooperationspartnerinnen und -partnern auf der einen und dem Inklusionsgrad auf der anderen Seite. Es wäre wünschenswert, unseren Fragebogen auch in weiteren Städten und Bundesländern einzusetzen, um auf eine noch umfangreichere Datenlage zurückgreifen zu können. Denn eines belegt unsere Untersuchung: Es gibt noch viel zu tun.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Forschung - Internationale Entwicklungen
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