Schulfreundschaften und Lernen: „Gleich und gleich gesellt sich gern“? : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Prof. Michael Windzio von der Universität Bremen untersucht die Bedeutung schulischer Freundschaften und Peer-Netzwerke für Abiturleistung und Berufswahl.
Online-Redaktion: Prof. Windzio, warum interessieren Sie schulische Netzwerke?
Prof. Michael Windzio: Mein Kollege Dirk Fornahl ist Regionalökonom. Wir beide haben uns immer für die Netzwerkforschung interessiert und darüber ausgetauscht. In einer Untersuchung mit Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufen 4 bis 7 konnten wir zeigen, dass Netzwerke innerhalb der Schulklasse bereits ethnisch und sozial klar segregiert sind: Das heißt, die Kontaktwahrscheinlichkeit ist um so größer, je ähnlicher der sozialstrukturelle, ethnische oder religiöse Hintergrund von Schülerinnen und Schülern ist.
Es gab aber noch keine Netzwerkstudie für Deutschland, die die Schulabschlussphase untersuchte. Bisher ist wenig bekannt über die schulischen Peer-Netzwerke in der Sekundarstufe II. Allein die Frage, nach welchen Kriterien sich Lernnetzwerke bilden, war bislang völlig offen. Und damit wurde auch nicht die Frage untersucht, wie sich die sozialen Netzwerke auf die Entscheidungen der Schülerinnen und Schüler nach Beendigung ihrer Schullaufbahn auswirken, also was sie nach der Schulzeit tun.
Online-Redaktion: Um welche Fragen geht es in Ihrem aktuellen Forschungsprojekt?
Windzio: Wir wissen, dass die Netzwerke nicht zufällig entstehen. Es gibt Mechanismen wie „Gleich und gleich gesellt sich gern“, wissenschaftlich nennen wir das "Homophilie". Das sind soziostrukturelle oder ethnisch-kulturelle Faktoren, die die Netzwerkbildung bedingen. Wenn mit diesen Faktoren auch eine Ungleichverteilung der Ressourcen verbunden ist, dann müsste die Netzwerkbildung Ungleichheiten verstärken. Ein konkretes Beispiel: Mit wem redet ein Schüler bei der Vorbereitung auf eine Klausur? Mit jemandem, der über die Kompetenzen verfügt und dessen Eltern einen akademischen Abschluss haben, oder mit dem Kumpel, den man seit fünf Jahren kennt, der aber die gleichen Probleme hat? Wir haben festgestellt, dass hier eher das genannte „Gleich und gleich gesellt sich gern“ überwiegt.
Wenn dem aber so ist, stellt sich die Frage, wie stark der Einfluss des Netzwerkes auf die Entscheidung ist, welchen Weg die Schülerin oder der Schüler nach Ende der Schulzeit einschlägt. Wir wissen, dass Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund in der Sekundarstufe II zum überwiegenden Teil studieren wollen. Der Anteil liegt deutlich höher als bei anderen Gruppen. Entsteht diese Entscheidung, studieren zu wollen, in der Peer-Group? Und eine weitere Frage: Korrespondieren mit solchen ethnisch und sozial homogenen Lerngruppen vielleicht auch die Abiturergebnisse?
Online-Redaktion: Welche Schulen haben Sie ausgewählt, um diese Fragen beantworten zu können?
Windzio: Uns kam es darauf an, dass wir eine Mischung aus Schulen in der Großstadt und Schulen im ländlichen Bereich untersuchen. Wir haben Schulen in Bremen, Hamburg und Niedersachsen kontaktiert, um auch eine regionale Streuung zu erreichen. Eine strenge Zufallsauswahl ist uns nicht möglich gewesen, weil die Kooperationsbereitschaft der Schulen leider begrenzt war. Wir haben schließlich mit jeweils 15 Schulen zusammengearbeitet. Es ist uns aber gelungen, die regionale Varianz zwischen Stadt und Land zu erreichen. Und die Schulen, die mitgemacht haben, waren schließlich äußerst kooperativ.
Online-Redaktion: Wie sind Sie methodisch vorgegangen?
Windzio: Der Hauptteil der Studie wurde mit standardisierten Fragebögen durchgeführt. 2012 haben wir 1.008 Schülerinnen und Schüler befragt, und 2013 waren es 1.095 Schülerinnen und Schüler. Wir haben den sogenannten sozioökonomischen Status erhoben, also zum Beispiel dem Bildungshintergrund der Eltern, und dann eben auch nach den schulbezogenen Netzwerken gefragt: Ob die Lerngruppen gemeinsam organisiert sind, wer wem etwas erklärt, und Ähnliches. Darüber hinaus haben wir Studien-, Ausbildungs- und Berufswünsche erfragt. Jeder der Befragten sollte seine Freunde nennen. Da wir auch deren Antworten kannten, konnten wir einen Zusammenhang herstellen. Nach Abschluss der Schullaufbahn erhielten wir von den Schulen die Abiturnoten, die wir unserem anonymisierten Datensatz zuordnen konnten.
Zuletzt fand dann noch eine telefonische Nachbefragung statt. Mit der konnten wir erfassen, welche weiteren Wege die Schülerinnen und Schüler in Studium, Ausbildung und Beruf tatsächlich eingeschlagen haben. Zusätzlich konnten wir in einer kleinen qualitativen Studie von den Jugendlichen noch genauer erfahren, was sie selbst für die entscheidenden Faktoren bei ihrer Wahl halten.
Online-Redaktion: Und wie sahen die Ergebnisse aus?
Windzio: Man muss zunächst die unterschiedlichen Arten von Beziehungen unterscheiden, die junge Menschen eingehen: Es gibt Freundschaftsbeziehungen, und es gibt eher instrumentelle Interaktionen, wenn man zum Beispiel mit jemandem lernt. Es ist interessant, wie stark die Schülerinnen und Schülern in ihren Freundesgruppen lernen und wie wenig instrumentelle Interaktionen stattfinden, die über den eigenen soziokulturellen Hintergrund hinausweisen. Die Wahl des Freundschaftsnetzwerkes, die in der Regel schon längere Zeit vor der Abi-Phase liegt, beeinflusst dann den Zugang zu relevanten Informationen.
Es fällt auch auf, dass diese lernenden Freundesgruppen dann auch entsprechend leistungshomogen sind. Die Ressourcen sind also zwischen verschiedenen Lernnetzwerken ungleich verteilt. Die Netzwerke sind tendenziell sogar, um es mit einem Fachausdruck zu sagen, „ethnisch segregiert“, und es gibt eine erstaunlich hohe Geschlechtersegregation, was angesichts des Alters von etwa 17 Jahren doch nicht zu erwarten war. Der Einfluss von Persönlichkeitseigenschaften, die wir mit Skalen auf den Fragebögen abgefragt hatten, auf die Zusammensetzung der Freundesgruppen ist dagegen gering. Ein weiterer spannender Befund ist, dass die ethnische Segregation besonders stark beim Austausch über die beruflichen Zukunftspläne zu finden ist
Online-Redaktion: Welche Rolle spielen die Familien?
Die qualitativen Befragungen haben gezeigt, dass auch die Interaktion in der Familie nach wie vor einen erheblichen Einfluss auf die Berufswahl hat. Das ist auch nicht überraschend, deutet aber wiederum auf den Vorteil hin, den junge Erwachsene aus gut informierten und typischerweise akademisch gebildeten Elternhäusern haben gegenüber jenen, deren Eltern, weil sie selbst nicht höhere Bildungsgänge absolviert haben, auch keine eigene Erfahrung mit rationalen Bildungswahlentscheidungen haben. Daher können sie auch nicht gleichermaßen Kosten-Nutzen-Abwägungen innerhalb eines breiten Spektrums von Studienfächern, Ausbildungen und Berufen durchführen.
Auch bei der spannenden Frage, wer wen zu Hause besucht, spielen die Familien eine Rolle. Dabei handelt es sich um eine engere Form der Sozialbeziehung. Und auch bei den jungen Erwachsenen scheint das Kontrollverhalten der Eltern hier noch einen Einfluss zu besitzen. Je mehr die Eltern die Kontakte ihrer Kinder zu kontrollieren versuchen, desto weniger wahrscheinlich werden interethnische Besuchskontakte, während intraethnische Kontakte sogar zunehmen. Hier zeigt sich also, dass die Integrationsprozesse junger Erwachsener nicht unabhängig von den Orientierungen ihrer Eltern verlaufen. Eher scheinen die Eltern ihre ethnische Distanz an ihre Kinder weiterzugeben. Die Analysen dazu sind aber noch nicht abgeschlossen.
Online-Redaktion: Bedeutet das, dass sich soziale Netzwerke auch negativ auf die Abiturprüfungen auswirken können?
Windzio: Um einen solchen direkten oder kausalen Effekt zu bestimmen, braucht man Längsschnittdaten. Mit unseren Querschnittsdaten können wir das nicht beantworten. Man muss ja fragen: Ist eine bestimmte Note die Eintrittskarte in ein Netzwerk? Oder bewirkt das Netzwerk die Note? Wir können nur die Korrespondenz feststellen, dass Freunde sich zumeist auf einem ähnlichen Leistungsniveau befinden. Schülerinnen und Schüler mit vergleichbarem Bildungskapital finden eher in Freundschaftsnetzwerken zusammen. Die statistische Wahrscheinlichkeit ist höher, gemeinsam zu lernen, wenn man einen ähnlichen Hintergrund hat.
Online-Redaktion: In welcher Weise wirkt sich das soziale Kapital des Netzwerks positiv oder negativ auf Lernmotivation, Schulleistung oder Berufswahl aus?
Windzio: Wir haben die „Berufsbezogene Ergebniserwartung“ abgefragt: Was erwarten und erhoffen sich die Jugendlichen von ihrer Berufswahl? Auch da zeigt sich ein starker Zusammenhang zwischen der Einstellung der einzelnen Person und den Mitgliedern in ihrem Freundschaftsnetzwerk. Aber wie gesagt: Man kann keinen direkten kausalen Zusammenhang ableiten.
Online-Redaktion: Für wen sind Ihre Ergebnisse in der Praxis relevant?
Windzio: Ich denke, dass unsere Ergebnisse für alle Schulleitungen und Lehrkräfte interessant sind, die sich für den sozialen Mikrokosmos und die sozialen Mechanismen an ihrer Schule interessieren. Die Forschung ist auch für das Thema "Integration" wichtig: Diese wäre eher zu erreichen, wenn sich die Schülerinnen und Schüler nicht selbst in ihre Lerngruppen sortieren, sondern wenn die Lerngruppen besser ethnisch-soziokulturell durchmischt würden. Das ist nicht nur für die Schule, sondern auch für die Gesellschaft relevant. In den von uns untersuchten Abiturjahrgängen sind die Netzwerke tendenziell auch ethnisch segregiert, diese Segregation nimmt aber keine dramatische Formen an.
Für die teilnehmenden Schulen haben wir eine Broschüre erstellt, und wir arbeiten gerade an einer Broschüre für das BMBF. Unsere Forschung ist allerdings noch lange nicht abgeschlossen.
Kategorien: Kooperationen - Eltern und Familien
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