Schul-Barometer: Teamorientierung ist Qualität : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Die Frage bewegt derzeit viele: Wie läuft Schule in Zeiten der Schulschließung? Prof. Stephan Huber und sein Team im Institut für Bildungsmanagement und Bildungsökonomie der PH Zug geben erste Einblicke.
Online-Redaktion: Herr Prof. Huber, Sie haben in kurzer Zeit ein Schul-Barometer initiiert, eine umfassende Befragung zur aktuellen Situation an Schulen. Was hat Sie bewogen?
Stephan Huber: Als sich die Krisensituation und ihre Auswirkungen auch auf den Schulbereich abzeichneten, war mir als Wissenschaftler wichtig, auch im Sinne von Responsible Science, also von Verantwortung in der Wissenschaft, Informationen aus verschiedenen Akteursperspektiven zusammenzutragen und der Praxis, Politik, Verwaltung, Wissenschaft und der breiten Öffentlichkeit zu Verfügung zu stellen. Unsere Verantwortung besteht darin, dass wir im Sinne eines Erfahrungsaustausches Daten erheben, aufbereiten und rückmelden. Damit können Verständnis erzeugt, Problembewusstsein erweitert und Gelingensbedingungen für bestimmte Prozesse offengelegt werden. Wir sind vernetzt und besitzen eine Sach-, Fach- und Methodenkompetenz. Mir war klar, dass eine solche Situation sehr unterschiedlich wahrgenommen wird. Und es war mir und uns wichtig zu schauen, wo im Rahmen eines solchen Stimmungsbildes Unterstützungen nötig und möglich sind. Zudem gibt so ein explorativer Zugang auch wichtige Hinweise für fokussierte Forschung und wissenschaftliche Begleitung.
Online-Redaktion: Wie sind Sie vorgegangen?
Huber: Innerhalb einer Woche haben wir einen Fragebogen konstruiert und diesen mit verschiedenen Verbänden in Deutschland, Österreich und der Schweiz abgestimmt. Uns war bewusst, dass diese Fragebögen recht kurz sein mussten. In einer sehr prägnanten Form mussten die Befragungen ein großes Spektrum an Themen abdecken. Sie sind damit ein anderes Instrumentarium als ein klassischer Forschungsfragebogen, der hypothesentestend ist.
Vergleiche ich das mit unserer wissenschaftlichen Begleitforschung zu Programmen der Schulqualität, wie beispielsweise „School Turnaround“ in Berlin, wo im Übrigen auch rund 300 Ganztagsschulen dabei sind, oder mit „impakt schulleitung“ in Nordrhein-Westfalen oder den „PerspektivSchulen“ in Schleswig-Holstein – das sind alles Mixed-method-Längsschnittprojekte, und dort kommt man bei der Beantwortung der Fragebögen auf bis zu 30 Minuten. Die „Schulbarometer-Fragebögen“ sollten nicht mehr als fünf bis zehn Minuten in Anspruch nehmen.
Gleichzeitig wollte ich aber auch, dass wir den Befragten die Möglichkeit zu einer offenen und differenzierten Selbstauskunft geben. Deshalb haben wir relativ viele offene Fragen integriert. Die Befragten sollten auch Wünsche, Bedürfnisse, Wahrnehmungen und Empfehlungen artikulieren können. Das Barometer sollte wie in einer Bottom-up-Initiative zugleich als Erfahrungsaustausch dienen: Was funktioniert, was kann man anderen empfehlen? In der Auswertung ist das dann natürlich zeitlich aufwändiger.
Online-Redaktion: Wie haben Sie die gewonnenen Daten aufbereitet?
Huber: Nach einer Woche Datenerhebung haben wir bereits mit den ersten rund 2.500 Datensätzen mit deskriptiven Analysen bei den geschlossenen Fragen begonnen, Kategoriensysteme für die offenen Fragen zu entwickeln und die ersten offenen Fragen auszuwerten. Dabei stellten wir fest, dass die Befragten sehr umfangreich die offenen Felder mit sehr ernsthaften und differenzierten Reflexionen genutzt haben.
Nach einer weiteren Woche, als wir schon 7.100 Datensätze hatten, von Eltern, Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern, Schulleitungen und Schulaufsichtsmitgliedern, konnten wir in die zweite Berichtslegung eintreten, die dann auch in die erste Publikation überführt werden konnte. Zudem hatten wir eine Linksammlung und Empfehlungen in separaten Bänden auf www.Schul-Barometer.net publiziert und wiederholt aktualisiert. Neben der Datenerhebung in französischer Sprache für die Schweiz und einem englischen Fragebogen für eine internationale Erhebung wurden auch das Instrumentarium, also die verschiedenen Fragebögen, in ein paar andere Sprachen übersetzt. In Russland haben am Schul-Barometer rund 70.000 Personen teilgenommen, im Kanton Genf waren es rund 15.000 Personen.
Online-Redaktion: Nun aber zu den Inhalten: Das Leopoldina-Gutachten nennt drei wesentliche Funktionen der Schule, die derzeit außer Kraft gesetzt seien: die Strukturierung des Alltags, der soziale Austausch und die professionelle Rückmeldung auf Lernfortschritte. Welche Ergebnisse haben Sie dazu?
Huber: Es gibt offenbar eine Gruppe von 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler, die mehr als 25 Stunden in der Woche lernen und sich insgesamt sehr aktiv zeigen. Manche geben sogar an, zeitlich zurzeit mehr als in der Schule zu lernen. Im Kontrast dazu haben wir eine Schülergruppe von fast 20 Prozent, die abgehängt ist oder, man kann es auch so ausdrücken: die jetzt eher abhängen. Die Schülerinnen und Schüler kommen morgens nicht so gut aus dem Bett, können ihren Tag nicht gut strukturieren und erleben die Zeit eher als Ferien. Sie wenden weniger als neun Stunden in der gesamten Woche für schulische Aufgaben auf und liegen in Bezug auf ihre Aktivitäten überall unter dem von uns ermittelten Durchschnitt. Ausnahme bildet das „Zocken“ am Computer – auf Computerspiele verwenden sie bis zu viermal mehr Zeit als die aktive Schülergruppe. Wenn Eltern aus unterschiedlichen Gründen keine Unterstützung bieten können, ist die Schule natürlich besonders gefordert.
Online-Redaktion: Ist das der „Schereneffekt“, von dem Sie auch sprechen?
Huber: Den Schereneffekt haben wir vermutlich zweifach. Zunächst einmal wissen wir, und das ist empirisch belegt, dass Schulen unterschiedlich sind, wenn wir Qualitätsmerkmale definieren und messen. Wir gehen nun davon aus, dass sich in einer Krisensituation die Qualitätsunterschiede noch deutlicher zeigen. Ich würde argumentieren, dass es nicht nur digitale Lehr-Lern-Kompetenzen sind und die grundsätzlichen Kompetenzen, einen schüleraktivierenden Unterricht zu gestalten, sondern dass weitere Qualitätsunterschiede hier einen wichtigen Effekt haben. Ich denke dabei zum Beispiel an ein hohes Zusammengehörigkeitsgefühl im Kollegium, Teamorientierung in Schulleitung und Kollegium, intensive Zusammenarbeit der Fachschaften oder – wie besonders in Ganztagsschulen – die enge Kooperation mit anderen pädagogischen Professionen.
In solchen Schulen wurde der Unterricht sowieso schon interaktiver gestaltet, wurden mehr Rückmeldungen zum Lernfortschritt gegeben. Bei anderen Schulen ist da noch mehr Potenzial erkennbar. In der Kompensation dieser Krise kann die Schere dann noch weiter aufgehen, die Unterschiede sich vergrößern: Während das Kollegium sich zum Beispiel in den zuerst beschriebenen Schulen schnell abstimmen kann, müssen sich andere erst noch finden und überlegen, wie sie die Situation zusammen überhaupt bewältigen können. Einige Schulleitungen haben uns sogar zurückgemeldet, dass sie einzelne Lehrerinnen und Lehrer gar nicht erreicht haben.
Wenn unterschiedlich kompensatorisch gearbeitet wird, greift der zweite Schereneffekt auf die Schülerinnen und Schüler weniger: Die einen geben sozusagen Vollgas beim Lernen zu Hause, die anderen stolpern eher vor sich hin. Da ist es klar, dass Unterschiede, die vorher in Ansätzen da waren, sich noch deutlicher ausprägen.
Online-Redaktion: Wie sieht es mit dem sozialen Austausch und Rückmeldungen auf Lernfortschritte aus?
Huber: Für digitalen Unterricht gelten natürlich die gleichen Aspekte wie generell für guten Unterricht: Es braucht Beziehung, Austausch, Interaktion und individuelle Rückmeldung. Das ist im digitalen Lehr-Lern-Setting schwieriger, je jünger die Schülerinnen und Schüler sind. Wenn wir die Daten aus Deutschland betrachten, gab es zunächst viel Kontakt über E-Mails zwischen den Lehrkräften und den Schülerinnen und Schülern. Einige Lehrerinnen und Lehrer waren aber auch sehr schnell interaktiv unterwegs: Sie haben kleine Videos gemacht oder sogar Unterricht in Live-Sessions mit Schülergruppen.
Schülerinnen und Schüler formulierten im Schul-Barometer den Wunsch nach mehr Austausch mit ihren Mitschülern und den Lehrkräften. Dazu muss man sagen, dass die technische Ausstattung, aber auch die eigene Motivation und Kompetenz der Lehrerinnen und Lehrer mit Blick auf digitale Lernformen von Schule zu Schule und in den deutschsprachigen Ländern sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. In Deutschland sagte ein Drittel der befragten Lehrkräfte, dass sie sich bisher nicht mit digitalen Lehr-Lernformen beschäftigt haben und sie bei aller Motivation nicht wissen, wie sie das gerade jetzt bewältigen sollen.
Online-Redaktion: Gibt es Möglichkeiten der Unterstützung?
Huber: Es ist sicherlich auch die Aufgabe von Schulaufsicht und Schulträger, Schulen darin zu unterstützen. Wir sehen das auch bei den Abrufmodalitäten der Fördermittel des Digitalpakts. Schulleitungen sind gefordert, zusammen mit den Fachschaften und Jahrgangsteams, Systeme für digitale Lehr-Lern-Settings zu entwickeln. Auch spielen die Anerkennung von Engagement, von kreativen Lösungen, von Innovations- und Wissensmanagement eine wichtige Rolle. Es fängt bei gemeinsamen Absprachen an, zum Beispiel nicht mit zu vielen technischen Lösungen mit unterschiedlichen Login-Daten auf die Kinder und Jugendlichen und ihren Eltern zuzukommen.
Andererseits darf Ideenreichtum auch nicht ausgebremst werden. Es könnte sich lohnen, gemeinsam immer wieder im Team oder im Gesamtkollegium innezuhalten, wie uns Lehrkräfte in den Fragebögen und den Begleitinterviews geschildert haben. Auch längerfristig ist es sicherlich sehr interessant, sich im Kollegium gemeinsam zu beraten, wer was im Kollegium übernehmen kann. Manche Schulleitungen haben Internet-Abos gekauft, um sozial benachteiligten Familien den Internet-Zugang zu ermöglichen. Zusammenarbeit und Kreativität können den Schereneffekt geringer halten. Das kostet aber auch Kraft. Hier wird viel geleistet!
Online-Redaktion: Schule wird gerne kritisiert. Zeigt sich jetzt auch eine Wertschätzung in Zeiten, in denen Eltern so viel mehr Mitverantwortung für den Lernprozess ihrer Kinder übernehmen müssen?
Huber: Das können wir in der Tat quantitativ, aber auch besonders qualitativ belegen. Da gibt es Zitate wie „Die Lehrer sind Gold wert“ oder „Jetzt wird mir klar, was die Schule eigentlich leistet“. Den Eltern wird jetzt bewusst, was die Schule umfänglich leistet, auch unabhängig von einer solchen Krise und in der Krise besonders. Unsere Daten bezeugen diese Wertschätzung der Institution Schule und der Arbeit vieler Lehrkräfte, Erzieherinnen und Schulsozialarbeiter.
Online-Redaktion: Was wird die Schule Nützliches aus der Krise mitnehmen?
Huber: Ich denke, dass einige Schulen profitieren werden. Sie haben sehr viel zusätzliche Kreativität entfaltet und einen enormen Einsatz gezeigt. Die Errungenschaften, die Innovationen und das Wissen, die jetzt entstanden sind, können die Schulen in eine nachhaltige Schulentwicklung überführen. Einerseits um gesellschaftlich stärker anschlussfähig zu sein: Wir haben in vielen Branchen bereits die Digitalisierung, und jetzt kommt es darauf an, in der Schule mit dieser Technologie und über diese Technologie zu lernen. Andererseits können Schulleitungen und Lehrkräfte die Digitalisierung nutzen, um im Unterricht stärker zu individualisieren und zu differenzieren. Es wird aber auch Schulen geben, denen das sehr schwerfallen wird und die besondere Unterstützung und unterschiedliche Arten von Ressourcen brauchen. Hier liegt eine große Chance für die Schulen und das Schulsystem.
Wenn Schulleitungen, Kollegien und Schulaufsicht, auch die Schulträger, einen genauen Blick auf die Innovationen haben, die jetzt in den Schulen entwickelt worden sind, wenn sie den Austausch innerhalb der Schule, aber auch zwischen Schulen fördern, kann sich eine Qualitätsdiskussion ergeben. Im Schul-Barometer gab es viele Rückmeldungen wie: „Endlich die Schule von morgen denken – und auch machen.“ Darin liegt eine Riesenchance mit echten Perspektiven für die Schulentwicklung.
Online-Redaktion: Wird das Barometer weiter messen?
Huber: Es ist eine zweite Erhebung geplant, die die Entwicklungen betrachtet, zudem soll die Befragung aber auch wissenschaftlich vertiefter und fokussierter erfolgen. Mit den vorliegenden Daten, auch mit den Daten des Kantons Genf, werden vertiefende Analyse durchgeführt, auch Zusammenhangsanalysen.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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