Prof. Urban: Regelschulen müssen sich öffnen : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Die geplante und weitreichende Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Regelschulen begrüßt der Bielefelder Professor für Sonderpädagogik Dr. Michael Urban.
Online-Redaktion: Was leisten Ganztagsförderschulen?
Michael Urban: Prinzipiell vergrößert die ganztägige Organisation auch für Förderschulen das Handlungspotenzial. Sie können die gewonnene Zeit zu einer kindgerechten Rhythmisierung nutzen und andere Formen des Unterrichts entwickeln.
Online-Redaktion: Wie wirkt sich der Ganztag auf die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler aus?
Urban: Mir sind hierzu keine aussagekräftigen Wirksamkeitsuntersuchungen und -ergebnisse für den Bereich der Förderschulen bekannt. Die Forschung hat sich mit diesem Thema bislang kaum beschäftigt. Es ist allerdings auch eine Frage, ob das überhaupt erforscht werden soll - schließlich ist diese Schulform inzwischen umstritten.
Online-Redaktion: Halten Sie die geplante und weitreichende Inklusion für sinnvoll?
Urban: Ja! Es handelt sich in erster Linie um die normative Frage, wie das Schulsystem gestaltet werden soll. In Deutschland hat es sich so entwickelt, dass Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Sonder- und später Förderschulen unterrichtet wurden. Das ist problematisch geworden. Zum einen, weil Betroffenenverbände und Eltern gleichermaßen die Partizipation der Kinder auf allen gesellschaftlichen Ebenen eingefordert haben. Darüber hinaus hat Deutschland auch die UN-Menschenrechtskonvention und hier auch das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet. Heute ist ein so ausdifferenziertes und segregatives Förderschulsystem nur noch äußerst schwer vertretbar.
Online-Redaktion: Was muss sich an Regelschulen ändern, damit sie Inklusion umsetzen können?
Urban: Ich unterscheide drei Dimensionen, in denen Veränderungen stattfinden müssen. Da ist zunächst das Schulsystem als Ganzes. Dann muss sich die einzelne Schule als Organisation ändern, und schließlich gibt es die Ebene des Unterrichts und der konkreten pädagogischen Prozesse. Solange es zum Beispiel Förderschulen für emotionale und soziale Entwicklung gibt, besteht für Regelschulen immer die Möglichkeit, Kinder, die im Umgang möglicherweise schwierig sind, abzugeben. Die Bereitschaft, sich um solche Kinder zu kümmern, hat nachvollziehbare, aber nicht akzeptable Grenzen, wenn die Möglichkeit besteht, sie an die Förderschule zu schicken. Wenn diese Förderschulen nun geschlossen werden, erzeugt das ein Erfordernis für andere Schulen, für diese Schülerinnen und Schüler Verantwortung zu übernehmen. Die Veränderung auf der Ebene des Schulsystems hat hier unmittelbare Auswirkungen auf die Organisation und den Unterricht in den einzelnen Schulen. Das bedeutet, die Regelschulen müssen sich der Ebene der sonderpädagogischen Förderung öffnen. Sie müssen den Unterricht verändern. Aber sie müssen sich auch an der Entwicklung neuer Strukturen mit regionalen Netzwerken beteiligen, die die einzelnen Schulen unterstützen.
Online-Redaktion: Sie denken an Kompetenzzentren wie in Nordrhein-Westfalen?
Urban: Es hat sich hier in den verschiedenen Bundesländern eine große Vielfalt von solchen Schulübergreifenden Strukturen entwickelt. Dazu gehören neben den Kompetenzzentren in Nordrhein-Westfalen beispielsweise auch die Regionalen Konzepte und die sonderpädagogische Grundversorgung in Niedersachsen als einer wichtigen Vorarbeit für die Etablierung eines inklusiven Schulsystems in diesem Bundesland oder die Regionalen Beratungs- und Unterstützungsstellen in Hamburg. Wenn Schulen sich darauf einstellen, ein größeres Spektrum von Schülerinnen und Schülern zu unterrichten, müssen sie sich selbst weiterentwickeln und gleichzeitig Angebote der Unterstützung und Beratung der in solchen Kompetenzzentren Tätigen - neben Sonderpädagogen auch Sozialpädagogen und Schulpsychologen - nutzen, wenn ihnen selbst noch das Fachwissen fehlt.
Online-Redaktion: Das klingt so, als plädierten sie dafür, die Fachkräfte der Förderschulen in Kompetenzzentren zu bündeln und sie bei Bedarf in die Regelschule zu entsenden.
Urban: Die Schule selbst braucht mehr unterschiedliche Professionen. Ein Teil des Personals aus Förderschulen sollte in Regelschulen tätig sein, ein anderer eben in solchen Zentren arbeiten und unterstützend wirken. Aber noch einmal: Es geht nicht darum, das Personal der Förderschulen zu "verteilen". Schulen müssen sich strukturell verändern. Kooperation und Reflexion, aber auch Supervision gehören dazu. Damit Inklusion gelingen kann, müssen Unterrichtsformate genutzt werden, die vom Gedanken der Heterogenität ausgehen. Das beinhaltet eine starke Binnendifferenzierung, kooperativen und projektförmigen Unterricht. Das sind besonders geeignete Mittel, um Kinder mit Beeinträchtigungen und Behinderungen mitzunehmen.
Online-Redaktion: Bei vielen Schulen, aber auch bei einigen Eltern von Kindern mit und ohne Behinderung scheinen Ängste durch, ihr Kind könne im gemeinsamen Unterricht nicht entsprechend gefördert werden. Was sagen Sie den Skeptikern?
Urban: Ich würde fragen, warum sie das annehmen und woher sie zu der Befürchtung kommen. Meistens liegt es daran, dass Eltern Sorge haben, die Schule verändere sich nicht im notwendigen Maße. Natürlich muss die Grundprämisse sein, dass kein Qualitätsverlust in den schulischen Angeboten eintritt. Dass dies aber möglich ist, können wir an all jenen Schulen bei uns erleben, die sich auf den Weg zur Heterogenität aufgemacht haben. Und wir können es in den skandinavischen Ländern, in Großbritannien, Italien und Spanien beobachten. Wir stehen noch am Anfang der Entwicklung und vor der Aufgabe, die Strukturen wie beschrieben zu verändern. Dafür müssen wir eigene Lösungen finden. Was die Bedenken der Pädagogen angeht: Sie arbeiten in bestehenden Strukturen mit einer tradierten Sicht auf Schülerinnen und Schüler sowie einer ebenso tradierten Vorstellung von Schule und Unterricht. Da gab es schon immer eine unterschiedlich große Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen.
Online-Redaktion: Brauchen wir zum Beispiel eine andere Lehrerausbildung?
Urban: Gerade im Bereich der Vorbereitung auf das Unterrichten an einer inklusiven Schule befindet sich schon jetzt vieles im Umbruch. Bei uns in Bielefeld haben wir uns für das Studienmodell der Integrierten Sonderpädagogik entschieden, das auf einer ganz starken Vernetzung von Grundschul- und Sonderpädagogik basiert. Ähnliche Bestrebungen finden sich an anderen Universitäten und es ist von großer Bedeutung, in allen Lehramtsstudiengängen die erforderlichen Grundlagen zum Umgang mit heterogenen Schülergruppen zu vermitteln.
Online-Redaktion: Kommen wir noch einmal auf die Ganztagsschulen zu sprechen. Sind sie besonders für Inklusion geeignet?
Urban: Ganztag ist die Organisationsform, die mehr Zeit und Raum schafft. Alles kann entspannt werden. Aber erst die gebundene Ganztagsschule ermöglicht ein erweitertes Handlungskonzept. Sie hat die Potenziale, Schülerinnen und Schüler mit Behinderung und Beeinträchtigung zu integrieren, weil sie ohnehin die Nutzung von Teamstrukturen erfordert und weil es möglich ist, binnendifferenzierten Unterricht durch mehr Zeit besser zu organisieren. Inklusion und Ganztag berühren sich: Für beides sind Multiprofessionalität, mehr Austausch und Reflexion und damit auch eine engere Kooperation nötig und möglich. Problematisch wird es immer, wenn Ganztagsschulen als Kompensation familiärer Defizite betrachtet werden und wenn damit eine Abwertung der Familie und eine Abgrenzung von ihr einhergehen. Das gilt besonders bei Familien von den Kindern, die früher an Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen unterrichtet wurden. Diese Familien haben oft ohnehin schon eine größere Distanz zur Schule - nicht zuletzt, weil sie häufig viele schlechte Erfahrungen mit Schule machen mussten.
Online-Redaktion: Was schlagen Sie vor?
Urban: Statt den Eltern das Gefühl zu geben, sie könnten das nicht und darum müsse das Kind in die Ganztagsschule gehen, sollte man die Kooperation mit den Eltern verstärken, sie etwa auch in der Entwicklung pädagogischer Elemente berücksichtigen. Es gibt viele Möglichkeiten - Familientrainings und Unterstützungsangebote sind nur zwei davon.
Online-Redaktion: Wie lange dauert es Ihrer Einschätzung nach, bis in Deutschland Inklusion eher die Regel als die Ausnahme ist?
Urban: Schwer zu sagen. In zwei, drei Jahren ist das nicht zu schaffen. Aber es ist ja vieles im Fluss. Vielleicht sind wir in zehn Jahren soweit.
Kategorien: Bundesländer - Berlin
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