"Partizipation kann Schule zu einem Lebensort machen" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Welches Potenzial für Partizipation bringt die Kinder- und Jugendarbeit in Ganztagsschulen ein? Prof. Dr. Benedikt Sturzenhecker, Erziehungswissenschaftler der Universität Hamburg und Experte auf dem Ganztagsschulkongress am 12. und 13. September 2008 in Berlin, erläutert im Interview, welchen Beitrag Mitbestimmung und Demokratisierung zur Gestaltung von Schule als Lern- und Lebensraum leisten können.
Online-Redaktion: Prof. Sturzenhecker, wie ist es um die Partizipation in der Kinder- und Jugendarbeit bestellt?
Benedikt Sturzenhecker: In der Kinder- und Jugendarbeit geht es viel stärker als in Schule um Selbstbildung. Kinder- und Jugendarbeit assistert solcher Selbstbildung. Deshalb stehen in ihr die Interessen und die Themen der Kinder und Jugendlichen im Vordergrund. Für die Gestaltung von Jugendarbeit ist entscheidend: Was stellen die Teilnehmenden sich für Fragen, was wollen sie sich aneignen? Wie verbinden sie sich mit der Welt, mit der Gesellschaft und mit der Politik? Hier kommt die Partizipation ins Spiel: Wenn eine Persönlichkeit in ihrem Selbstbildungsprozess unterstützt werden soll, dann muss sie sich auch in gemeinschaftliche Entscheidungsprozesse einbringen können. Die Kinder- und Jugendarbeit besitzt die Strukturen, Selbstbildung zu fördern und dabei auch demokratische Entscheidungen in Gruppen und Gemeinschaften zu ermöglichen.
Online-Redaktion: Wie sehen Sie die Situation in den Schulen?
Sturzenhecker: In Schulen geht es zunächst um Qualifikation, um den Erwerb von Zertifikaten - vereinfacht gesagt: Um Ausbildung. Schulen haben es aufgrund dieser vordringlichen Aufgaben schwerer, partizipative Elemente einzubinden. Partizipation bietet aber auch für die Schulen ein großes Potenzial in Richtung Selbstbildung. Die Schulen müssten sich fragen, ob sie Selbstbildung stärken wollen. Dann würden sie in der Folge auch Partizipation entwickeln.
Online-Redaktion: Steht Partizipation im Gegensatz zu der Qualifikationsaufgabe?
Sturzenhecker: Nein, denn Partizipation besitzt ein enormes Potenzial für die Aneignung von Kompetenzen. Ein Problem in Schulen ist, dass man so viel "künstlich" lernen muss. Vereinfacht gesagt: Die Schülerinnen und Schüler nehmen kaum an "echten" Lebens- und Handlungsprozessen teil, sondern lernen in einer herausgehobenen Situation Qualifikationen, die ihnen später an anderen Orten nutzen sollen. Partizipation - das gemeinsame Entscheiden über gemeinsame Angelegenheiten - ist dagegen immer sofort real. Da geht es um das demokratische Regeln alltäglicher Verhältnisse in der Schule, um die konkrete Gestaltung des gemeinsamen sozialen Ortes.
Die Kultusministerkonferenz hat in ihren Bildungsstandards Selbstkompetenz, Sozialkompetenz, Sachkompetenz und Methodenkompetenz als zu erwerbende Kompetenzen genannt, die Schule vermitteln soll. Diese haben auch Eingang in die Rahmen- beziehungsweise Lehrpläne einiger Länder gefunden. Partizipation fördert alle diese Kompetenzen entscheidend.
Zum Beispiel Selbstkompetenz: Für Partizipation muss man sich selbst kennen, man muss sich und seine Interessen selbst einbringen und artikulieren können, wenn man sich beteiligen will. Sozialkompetenz: Man muss sich mit den anderen auseinandersetzen, Kompromisse schließen, argumentieren, sich in die anderen hineinversetzen. Sachkompetenz: Man muss klären, worüber man entscheidet, verstehen, wie die Sachen zusammenhängen, was dahinter steckt. Man muss sich informieren und auf den neuesten Stand bringen. Methodenkompetenz: Man muss moderieren können, man muss Medien und Mittel nutzen, damit sich alle gut beteiligen können. Sämtliche dieser Kompetenzen kann man sich in der Realität der gemeinschaftlichen Mitbestimmung aneignen und muss sie nicht künstlich kreieren.
Online-Redaktion: Wie frei sind Kinder und Jugendliche in der Kinder- und Jugendarbeit in der Mitbestimmung? Wie eng sind die Grenzen, die hier von Erwachsenen gezogen werden?
Sturzenhecker: Pädagogische Institutionen lassen die Macht letztlich immer bei den Erwachsenen, das ist nicht zu umgehen. Pädagogische Institutionen sind aus der Perspektive der Partizipation bestenfalls "konstitutionelle Monarchien". In der Kinder- und Jugendarbeit ist diese Macht etwas schwächer ausgeprägt, weil hier im Gegensatz zur Schule keine Teilnahmepflicht besteht. Aber auch hier stellen sich die Fragen, wie viel von ihrer Macht die Pädagoginnen und Pädagogen strukturiert abgeben und welche Rechte zu entscheiden die Kinder und Jugendlichen besitzen?
Diese pädagogischen "Monarchien" - auch in der Kinder- und Jugendarbeit - sind oft paternalistisch, sie überlassen den Kindern und Jugendlichen wohlmeinend kleine Spielwiesen der Mitbestimmung. Eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass Lehrerinnen und Lehrer dazu neigen, nur solche Entscheidungen zur Mitbestimmung freizugeben, die ihren Unterricht nicht direkt betreffen. Also beispielsweise: Wohin soll die Klassenfahrt gehen? Welches Poster darf im Klassenzimmer hängen? Bei harten Fragen wie der Festlegung von Regeln im Unterricht, Regeln für Hausaufgaben oder Terminen für Klassenarbeiten ist die Partizipation der Schülerinnen und Schüler eher schwach ausgeprägt.
Aber auch die Kinder- und Jugendarbeit, die zwar strukturell partizipativ arbeitet, hat das Problem, dass sie demokratischer werden könnte. Vor allem die Offene Jugendarbeit könnte den Kindern und Jugendlichen bewusster mehr demokratische Rechte und Strukturen einräumen. Der Partizipationsanspruch müsste von der Kinder- und Jugendarbeit auch in Kooperation mit Ganztagsschulen zum Programm gemacht werden.
Online-Redaktion: Wo fängt echte Partizipation an, wo bleibt sie nicht nur Dekor?
Sturzenhecker: Dort, wo sie ein erkennbares und nutzbares Recht für die Kinder und Jugendlichen ist und nicht vom momentanen Wohlmeinen der Pädagoginnen und Pädagogen abhängt. In Kindertagesstätten in Schleswig-Holstein werden zum Beispiel im Moment Verfassungen ausgearbeitet, die klar regeln, was die Kinder und was die Pädagoginnen und Pädagogen entscheiden und in welchen Gremien und auf welchen Wegen demokratische Lösungen mit den Kindern gefunden werden. Innerhalb dieser demokratischen Regeln und Gremien dürfen die Kinder selbst entscheiden.
Online-Redaktion: In vielen Ganztagsschulen wirkt inzwischen die Kinder- und Jugendarbeit unter dem Dach der Schule mit. Wie bewerten Sie diesen Prozess?
Sturzenhecker: Für die Kinder- und Jugendarbeit mit ihrem eigenständigen gesetzlichen Auftrag, ihren eigenen Organisations-, Zeit- und Arbeitsstrukturen, die nicht ohne weiteres in Schule überführt werden können, ist das ein riskanter Prozess. Kinder- und Jugendarbeit kann sich auch selbst gefährden, wenn sie in Schule geht. Ein Beispiel ist ein Kinder- und Jugendhaus, zu dessen offenen Fußballprojekt 60 bis 70 Jugendliche kamen. Als dies ins Nachmittagsprogramm einer Ganztagsschule integriert wurde, kam niemand mehr. Es ist ein Risiko, wenn die Freiwilligkeit verloren geht.
Dennoch besitzt diese Zusammenarbeit enorme Potenziale gerade in der Frage der Partizipation. Diese zu stärken, könnte eine der Aufgaben der Kinder- und Jugendarbeit in der Ganztagsschule am Nachmittag sein. Fragen der Mitbestimmung im Unterricht sind komplex und heikel, aber zumindest in den Angeboten am Nachmittag können die Schülerinnen und Schüler über die Inhalte, Arbeitsweisen, die sozialen Regeln und die Konfliktbewältigung mitentscheiden. Da liegt ein enormes Mitbestimmungspotenzial, und die Kinder- und Jugendarbeit hat da etwas mehr Erfahrung als Schule. Diese könnte sie einbringen, ohne sich selbst in Schule zu verwandeln.
Online-Redaktion: Welche institutionellen Voraussetzungen benötigen Ganztagsschulen, um Partizipation verwirklichen zu können?
Sturzenhecker: Dafür benötigen sie eine alltagsdemokratische Strukturierung, die nicht nur auf den Nachmittag begrenzt bleibt. Das beginnt in der Klasse, in der die Schülerinnen und Schüler das Recht besitzen müssen, ihre Kritik und ihre Interessen einzubringen. In den Klassen könnten Vertreterinnen und Vertreter gewählt werden, die sie in parlamentarischen Gremien in der Schule vertreten.
Es muss aber auch eine Rückkopplung zwischen diesen Gremien und der Basis geben. Deshalb ist es wichtig, dass eine demokratische Öffentlichkeit entsteht. Die Kritik und die Interessen der Kinder und Jugendlichen müssten auch medial verstärkt präsentiert werden können. Die Schülerinnen und Schüler sollten mit Hilfe von Medien öffentlich einbringen und erklären können, was sie meinen und was sie wollen. Wichtig wäre eine gemeinschaftliche öffentliche Debatte, die nicht nur in den Gremien geführt wird. Die ganze Schule müsste diskutieren.
Online-Redaktion: Was würden Sie jemandem entgegnen, der skeptisch ist, ob der Wissenserwerb nicht doch unter der Partizipation leidet?
Sturzenhecker: Man lernt besser und motivierter, wenn man sich mit dem Lernort, den Lerninhalten und den Lernweisen identifizieren kann. Partizipation kann helfen, Schule zu einem Lebensort zu machen, an dem man sich gerne aufhält. Wenn man sie aktiv mitbestimmen und mitgestalten kann, dann wird Schule zu einem eigenen Ort, mit dem man sich identifiziert.
Die Aufgabe bleibt, dass Kinder und Jugendliche dort etwas lernen, worüber sie nicht entschieden haben. Schule muss eine gesamtgesellschaftliche, relevante Qualifikation vermitteln, deshalb würde ich nicht fordern, dass Schülerinnen und Schüler allein über die Unterrichtsinhalte entscheiden dürfen. Man kann diese Qualifikationsaufgabe aber sehr wohl mit Demokratie vermitteln, denn es bleibt ja die Frage, wie man etwas lernt, unter welchen Regeln und unter welchen sozialen Strukturen, Fragen, die sehr wohl gemeinsam entscheidbar wären. Wenn die Schülerinnen und Schüler beim Lernen Rechte besitzen, mitzubestimmen und mitzugestalten, dann können sie viel aktiver mit den fremdbestimmten Inhalten umgehen.
Kategorien: Ganztag vor Ort - Lernkultur und Unterrichtsentwicklung
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