„Pakt für den Nachmittag“: vom Nachmittag zum Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Im „Pakt für den Nachmittag“ baut das Land Hessen mit den Schulträgern die Ganztagsangebote aus. Nun liegen Ergebnisse der Evaluation vor. Projektleiterin Prof. Natalie Fischer von der Universität Kassel im Interview.
Online-Redaktion: Frau Prof. Fischer, im Auftrag des Hessischen Kultusministerium haben Sie und Prof. Hans Peter Kuhn an der Universität Kassel den „Pakt für den Nachmittag“ evaluiert. Für alle Nicht-Hessen: Was ist der „Pakt für den Nachmittag“?
Natalie Fischer: Bei dem Pakt, der laut Koalitionsvertrag der Landesregierung zum „Pakt für den Ganztag“ werden soll, schließen das Land Hessen und die Schulträger, die teilnehmen möchten, eine Vereinbarung über eine gemeinsame Finanzierung des Schulnachmittags an Grundschulen. Die Schulen und die Träger des Bildungs- und Betreuungsangebots müssen dazu ein gemeinsam entwickeltes pädagogisches Konzept einreichen, das sich am Hessischen „Qualitätsrahmen für die Profile ganztägig arbeitender Schulen“ orientieren sollte. Es gibt zwei Module: eins bis 14:30 Uhr, das vom Land Hessen finanziert wird, und das zweite bis 17 Uhr, das die Schulträger verantworten.
Der Pakt soll einerseits für ein verlässliches Betreuungsangebot sorgen und andererseits ein integriertes Bildungs- und Betreuungsangebot über den ganzen Tag bieten. Mit dem Beschluss für den „Pakt für den Nachmittag“ hatte sich das Kultusministerium verpflichtet, diesen evaluieren zu lassen, um gegebenenfalls Nachsteuerungen vorzunehmen – was tatsächlich auch schon im Verlauf der Evaluation in den Jahren 2017 bis 2020 geschah.
Online-Redaktion: Was wurde konkret untersucht, und welche Methoden haben Sie genutzt?
Fischer: Wir haben in den Schuljahren 2017/2018 und 2018/2019 an 109 von 122 Pilotschulen aus 16 Regionen, die in zwei Kohorten in den Schuljahren zuvor dem „Pakt für den Nachmittag“ beigetreten waren, eine Bestandsaufnahme der aktuellen Praxis, der Erfahrungen, der Zufriedenheit und der durch die beteiligten Akteure wahrgenommenen Veränderungen vorgenommen. Nach der ersten Befragung konnten wir den ersten Zwischenbericht einreichen.
In der ersten Phase haben wir zunächst Interviews mit den Schulträgern geführt, um die Rahmenbedingungen vor Ort in den Bildungsregionen zu erfassen. Zusätzlich konnten wir Dokumente des Kultusministeriums sichten, zum Beispiel die pädagogischen Konzepte der Ganztagsgrundschulen und der jeweiligen Träger des Ganztags.
In der zweiten Phase haben wir Schülerinnen und Schüler vor Ort mit Fragebogen befragt und in ausgewählten Schulen in kleinen Gruppen. Über Online-Fragebögen haben wir außerdem die Schulleitungen sowie Lehrkräfte und das außerschulische Personal der Träger des Bildungs- und Betreuungsangebots, aber auch Eltern befragt. Die Rücklaufquoten der Fragebögen fielen von Schulstandort zu Schulstandort äußerst unterschiedlich aus. Bei den Eltern, wo es theoretisch über 27.000 Befragte gewesen sind, kamen wir leider nur auf 10 Prozent. Bei den Lehrkräften lag die Quote bei rund 25 Prozent. Am besten fiel die Resonanz bei den Schulleitungen mit 73 Prozent aus.
Online-Redaktion: Wie stehen Bildung und Betreuung im Verhältnis?
Fischer: Die Schülerinnen und Schüler, die für die Nachmittagsbetreuung angemeldet werden, können ihre Zeit frei gestalten oder verschiedene AG-Angebote, die Hausaufgabenbetreuung oder Förderangebote besuchen. Interessant ist, dass sich durch den Pakt an manchen Schulen das Angebot für alle Schülerinnen und Schüler verändert hat, wovon auch nicht angemeldete Kinder profitieren. So haben manche Schulen Lernzeiten für alle Schülerinnen und Schüler eingeführt oder AGs für alle geöffnet.
Online-Redaktion: Sie haben aus der Evaluation auch Empfehlungen abgeleitet. Eine Empfehlung lautet, die Möglichkeiten zur individuellen Förderung noch konsequenter zu nutzen. Sehen Sie hier Defizite?
Fischer: Grundsätzlich haben Schulleitungen, Lehrerinnen und Lehrer, pädagogische Fachkräfte und Eltern die Wahrnehmung, dass der „Pakt für den Nachmittag“ das Potenzial für die individuelle Förderung verbessert hat. Lehrkräfte, die AG-Angebote leiten, haben uns als Rückmeldung gegeben, dass ihnen das auch etwas für ihre Arbeit im Unterricht gibt. Sie lernen die Schülerinnen und Schüler besser kennen und können deren Bedürfnisse besser einschätzen.
Wir haben die Schulen anhand des Hessischen Qualitätsrahmens evaluiert und geschaut, wie die einzelnen Qualitätsmerkmale realisiert werden. Das Kultusministerium möchte mit dem Pakt unter anderem auch die Verbesserung der individuellen Förderung erreichen. Nun ist die Frage: was heißt individuelle Förderung? Viele Eltern haben in den Fragebögen weniger den Wunsch nach Unterstützung in fachlichen Schulleistungen, sondern Förderungen im sozialen Bereich, im motorischen Bereich oder in der Selbstständigkeit genannt.
Unser Ergebnis bezieht sich aber eher auf die fachliche Förderung. So haben wir das Personal in der Hausaufgabenunterstützung und in den Lernzeiten befragt, inwieweit dort zum Beispiel mit individuellen Förderplänen gearbeitet wird oder solche dem Personal in der Hausaufgabenbetreuung bekannt waren. Die Antworten lauteten oft, dass die Zeiten eher nicht für individuelle Förderung genutzt werden. Wenn sich Lehrkräfte und außerschulisches Personal beispielsweise über den Stand einzelner Schülerinnen und Schüler austauschen, dann eher über soziale Probleme als über Methoden der individuellen Förderung, über gemeinsame Konzepte oder über die konzeptionelle Verbindung von Unterricht und Angeboten. Das ist selbst dort der Fall, wo die Beteiligten sich zu ihrer Zusammenarbeit zufrieden äußern. Und dieser Befund begleitet uns seit der allerersten StEG-Studie.
Online-Redaktion: Wie lässt sich dieser „Dauerbrenner“ verändern?
Fischer: Die Kooperation muss in einer Ganztagsschule strukturell verankert werden. Es braucht feste Zeitfenster für die Kooperation, aber auch für Absprachen innerhalb der Teams der Kooperationspartner. Im Verlauf des Pakts hat sich das schon verbessert, wie wir ein Jahr nach Start der Befragung in den Aussagen der Schulleitungen, Lehrkräfte und außerschulischen Fachkräfte feststellen konnten.
Online-Redaktion: Wo gibt es sonst noch „Luft nach oben“?
Fischer: Bestehen bleibt die Unzufriedenheit mit der Personalausstattung, was ja kein auf die Pakt-Schulen begrenztes Phänomen ist. Ein Drittel der Schulleitungen hält seine finanziellen Ressourcen für unzureichend, um das pädagogische Konzept umzusetzen, bei den personellen Ressourcen sind es noch etwas mehr. Schulleitungen und Bildungsträger geben an, dass sie kaum qualifiziertes Personal finden. Der Einsatz von nicht pädagogisch geschulten Kräften ist entsprechend hoch. Es kann durchaus bereichernd für den Ganztag sein, wenn andere Professionen in die Schule kommen. Dennoch sollten Fortbildungskonzepte entwickelt werden. Das Hessische Kultusministerium ist an diesem Thema bereits dran.
Online-Redaktion: Eine Empfehlung aus der Evaluation lautet, klare Kern- und Abholzeiten für die Eltern zu kommunizieren...
Fischer: Ja, einige Schulen haben berichtet, dass manche Eltern die Abholzeiten möglichst flexibel handhaben wollen und mitunter kein Verständnis dafür haben, dass sie ihr Kind nicht aus einer AG herausreißen sollten und dass für die pädagogische Arbeit auch die Planbarkeit mit festen Gruppen nötig ist. Dazu haben wir die Eltern befragt und tatsächlich einen hohen Wunsch nach mehr Flexibilität wahrgenommen. Nicht wenige Eltern möchten ihr Kind an verschiedenen Tagen zu verschiedenen Zeiten abholen können. Manche geben auch an, ihr Kind genau deshalb nicht im Ganztag anzumelden, weil ihnen die Zeiten zu starr seien.
Online-Redaktion: Das Wichtigste zum Schluss: Was wünschen sich die Schülerinnen und Schüler?
Fischer: Wir haben Dritt- und Viertklässler befragt und in ausgewählten Schulen noch Gruppeninterviews in der vierten Jahrgangsstufe durchgeführt. Den Kindern ist besonders die frei gestaltbare Zeit wichtig, und sie wünschen sich Rückzugs- und Bewegungsmöglichkeiten. Sie wollen aber auch mitgestalten. Der Ganztag bietet dazu viele Möglichkeiten. Mitgestalten und Verantwortung übernehmen zu können, beispielsweise beim Mittagessen, in der Mittagsfreizeit oder den AGs, ist im Übrigen auch individuelle Förderung. Dieses Förderpotenzial sollte nicht unterschätzt werden, zumal es sich die Schülerinnen und Schüler selbst wünschen.
Wir haben die Kinder auch gefragt, was sie nach Schulschluss machen. Da sehen wir keine großen Unterschiede zwischen Halbtags- und Ganztagsschülern. Tatsächlich sagen sogar die Kinder, die am Ganztag teilnehmen, noch öfter, dass sie sich am Nachmittag mit Freundinnen und Freunden treffen, während die Halbtagsschülerinnen und -schüler häufiger angaben, den Nachmittag vor Konsole und Fernseher zu verbringen. Das ist vielleicht auch ein interessantes Ergebnis für Eltern, die befürchten, dass der Ganztag die Freizeitaktivitäten ihrer Kinder einschränkt.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Kooperationen - Kinder- und Jugendhilfe
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