Pädagogische Professionen in der Tagesschule : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Wie pädagogische Zuständigkeiten in multiprofessionellen Teams von Tagesschulen ausgehandelt werden, erforscht Dr. Emanuela Chiapparini im Forschungsprojekt „AusTEr“ in Zürich.
Im Forschungsprojekt „AusTEr – Aushandlungsprozesse der pädagogischen Zuständigkeiten an Tagesschulen im Spannungsfeld öffentlicher Erziehung“ der Pädagogischen Hochschule Zürich und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, gefördert vom Schweizer Nationalfonds, untersuchen Prof. Dr. Patricia Schuler Braunschweig, Dr. Christa Kappler, Kadrie Selmani und Dr. Emanuela Chiapparini die pädagogische Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams.
Online-Redaktion: Frau Dr. Chiapparini, wie gestaltet sich in der Schweiz das Verhältnis der unterschiedlichen Professionen in den Tagesschulen zueinander?
Emanuela Chiapparini: Bereits vor der Einführung von Tagesschulen waren verschiedene Professionen im Kontext der öffentlichen Schule tätig. Schulsozialarbeit, Heilpädagoginnen, schulpsychologischer Dienst, Logopäden oder Fachpersonen Sozialer Arbeit im Hort, dazu kommen nicht pädagogisch ausgebildete Personen wie Seniorinnen und Senioren und Zivildienstleistende. Mit der Tagesschule findet zusätzlich eine Verzahnung der Schulpädagogik und Sozialen Arbeit und den damit einhergehenden Maßnahmen auf struktureller, personeller, pädagogischer und räumlicher Ebene statt.
Mit dem Begriff „Fachpersonen Sozialer Arbeit“ – in der Praxis der Stadt und des Kantons Zürich auch als „Fachpersonen Betreuung“ bekannt – zählen Fachkräfte, die einen Abschluss in Sozialer Arbeit an einer Fachhochschule oder höheren Fachschule vorweisen, sowie weitere Fachkräfte mit sozialpädagogischem Wissen.
Online-Redaktion: Was war Anlass, Ihr Forschungsprojekt AusTEr durchzuführen?
Chiapparini: Die Stadt Zürich ist die erste Schweizer Gemeinde, welche mit dem Pilotprojekt „Tagesschule 2025“ bildungspolitisch entschieden hat, schrittweise Tagesschulen bis zu einer flächendeckenden Versorgung einzuführen. Bereits vor diesen Entwicklungen haben wir an der Hochschule darüber nachgedacht, wie der Wandel von einer Regelschule mit ihrem vor- und nachmittäglichen Unterricht zu einer Tagesschule gelingen und ganzheitliche Bildung für alle Kinder ermöglichen kann. Damit sind Lerngelegenheiten gemeint, die nicht nur auf den Unterricht konzentriert sind, sondern auch Freizeitgestaltung und Förderangebote beinhalten und über den Mittag und nach dem Nachmittagsunterricht hinaus dauern. Daraus ergaben sich für uns die Fragen, welche Herausforderungen mit der Gestaltung einhergehen und welche Herausforderungen sich für die verschiedenen Beteiligten ergeben?
Online-Redaktion: Wieso hat sich Zürich zu diesem Schritt entschieden?
Chiapparini: Gesellschaftliche Entwicklungen wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder bildungsökonomische Gründe spielen eine Rolle, aber mindestens ebenso zentral ist in Zürich der pädagogische Gedanke, wie die öffentliche Schule das gelingende Aufwachsen für alle Kinder und Jugendlichen am besten ermöglichen kann. Dazu sieht man bei der Tagesschule mit ihrer gezielten, alltagsnahen Förderung durch die außerunterrichtlichen Angebote über den Mittag, durch Freiräume, durch Freizeitgestaltung und Förderangebote das größte Potenzial.
Es besteht auch ein großes Potenzial in der Verzahnung von Schule und Sozialer Arbeit, das meiner Meinung nach noch besser ausgeschöpft werden kann. Alle Kinder und Jugendlichen gehen in die Schule. Sie übernimmt damit eine wichtige präventive Funktion, bietet frühe Fördermöglichkeiten sowie gezielte Angebote wie zum Beispiel zu Themen des Umgangs mit Heterogenität, Konflikten, dem eigenen Körper und Emotionen oder neue Medien.
Online-Redaktion: Wie schätzen Sie die Forschungslage zu diesem Thema in der Schweiz ein?
Chiapparini: Die Tagesschulforschung ist aus meiner Sicht vor allem von der Schulforschung geprägt. Es gibt Forschung zur Förderung von Schulleistungen durch außerschulische Angebote, wobei hier mehrheitlich Tagesschulen im Sinne von Schulen mit integriertem Hort untersucht wurden.
Dort sind die Ergebnisse ernüchternd und fallen etwas schlechter aus als diejenigen in Deutschland: Bei regelmäßiger Teilnahme an den Angeboten können sich die schulischen Leistungen kaum verbessern. Hier handelt es sich nur um wenige Angebote, die zukünftig auf einer vielfältigen, aktivierenden und gezielten Förderung hin weiter auszubauen sind. Zudem besuchen verhältnismäßig wenige Kinder und Jugendliche die Angebote und bringen entweder einen sehr günstigen oder eher ungünstigen sozial-ökonomischen Hintergrund mit.
Online-Redaktion: Sie führen eine qualitative Längsschnittstudie durch. Wie gehen Sie methodisch vor?
Chiapparini: Uns ist es wichtig, die Deutungsmuster möglichst vieler Beteiligter an Tagesschulen und die schulhausspezifischen Eigenschaften zugänglich zu machen.
Deshalb konzipierten wir ein Cross Study, indem wir an vier Zürcher Pilotschulen mit verschiedenen sozialen Hintergründen jeweils Interviews mit Schulleitungen, Leitungen Betreuung, Lehrkräften, mit dem Fachpersonal der Sozialen Arbeit, Schülerinnen und Schülern sowie mit deren Erziehungsberechtigten und auch mit Kooperationspartnern wie beispielsweise Sport- und Musikvereinen, Stiftungen und Jugendarbeit durchführen. Ein erster Messzeitpunkt lag im 2016 vor Einführung der Tagesschule und ein weiterer findet gegenwärtig – ein Jahr nach der Betriebsaufnahme der Tagesschulen – statt. In der ersten Erhebungsphase haben wir 55 Einzelinterviews und Gruppendiskussionen durchgeführt. Mit denselben Personen findet jetzt die zweite Datenerhebung statt. Die Interviewdaten werden wir mit Hilfe des Auswertungsverfahrens der Grounded Theory analysieren.
Grounded Therory heißt, eine empirisch begründete Theorie von einem Phänomen zu entwickeln. Wir werten unser empirisches Material, die Interviews, nicht nur auf der Objektebene aus, also was gesagt wird, sondern es geht auch darum, wie etwas gesagt wird, welche Worte gewählt werden oder in welchem Kontext sich Aussagen verorten lassen. Wir vergleichen alle Interviews, welche Deutungsmuster sich präsentieren, wo es Kontraste gibt, und versuchen in einem dritten Schritt, Synergien zu finden. Aus den subjektiven Perspektiven wollen wir differenzierte Deutungs- und Handlungsmuster herausarbeiten.
Online-Redaktion: Haben Sie schon erste Ergebnisse?
Chiapparini: Vor der Einführung der Tagesschule stellten wir eher
ein Nebeneinander der Lehrkräfte und der Fachpersonen Sozialer Arbeit fest, wobei durchaus die Potenziale einer interprofessionellen Kooperation ersichtlich sind. Sehr zentral sind hierzu die Rahmen- und die Arbeitsbedingungen sowie die Einstellung der Beteiligten. Bei den Interviews mit den Schülerinnen und Schülern war auffällig, wie sehr sich die Kinder auf die Tagesschule freuten.
Online-Redaktion: Sie wollen mit Ihrer Studie die Diskussion zur öffentlichen Erziehung anregen. Wie kann das gelingen?
Chiapparini: Wir haben viele Netzwerke in Forschung und Praxis, in die wir unsere Ergebnisse übermitteln können. Sie werden auf Tagungen innerhalb und außerhalb der Schweiz vorgetragen und diskutiert. Die Befunde fließen zudem direkt in den generativen Einführungsprozess von Tagesschulen ein, denn dieser ist für jedes Schulhaus anders und längerfristig. Auch einzuschließen sind anvisierte Weiterbildungsangebote. Wichtig ist aber auch schon die Untersuchung an sich, denn diese setzt ja bereits bei allen Beteiligten einen Reflexionsprozess in Gang.
Online-Redaktion: Nehmen Sie die Entwicklungen in Deutschland wahr?
Chiapparini: Unsere Schulsysteme sind zu verschieden, als dass man die deutschen Ergebnisse eins zu eins übertragen könnte. Was ich sehr motivierend fand, ist die Tatsache, dass in Deutschland die ganze Begleitforschung staatlich gefördert wurde, was in der Schweiz leider nicht der Fall ist. Ernüchtert haben mich Forschungsergebnisse, wonach die erstrebte Chancengleichheit weiterhin entwicklungsbedürftig bleibt. Spannend ist der Hinweis, dass die erweiterten Lernangebote in den Ganztagsschulen oft vom Unterricht aus gedacht werden und die Gestaltung und Qualität der außerunterrlichtlichen Angebote noch ungenügend in den Fokus genommen wurde. Schließlich stehen Ganztagsschulen in Deutschland stärker mit der Kinder- und Jugendhilfe und dem Quartierwesen in Zusammenarbeit, was in der Schweiz weiter zu intensivieren ist.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Forschung - Ganztagsschulforschung: Interviews
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