Pädagogisch unterschätzt: Freiräume im Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Prof. Ahmet Derecik forscht an der Universität Osnabrück zum informellen Lernen in der Ganztagsschule. Im Interview erläutert er, warum Freiräume und Partizipation im Ganztag besonders wichtig sind.
Online-Redaktion: Herr Prof. Derecik, Sie haben vor etwa 14 Jahren als AG-Übungsleiter an der offenen Ganztagsgrundschule Tonstraße in Duisburg gearbeitet. Wie ist es dazu gekommen?
Ahmet Derecik: Ich habe an der Ruhr-Universität Bochum studiert und war studentischer Mitarbeiter am Arbeitsbereich Sportpädagogik und Sportdidaktik. Damals entstanden in Nordrhein-Westfalen im Primarbereich viele offene Ganztagsschulen, die natürlich für ihre Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag Personal suchten. Der Förderverein der Duisburger Schule fragte bei meinem Projektleiter Prof. Edgar Beckers, der den Arbeitsbereich Sportpädagogik und Sportdidaktik geleitet hat, nach einer Unterstützung an. Der wiederum fragte mich, ob ich nicht Interesse hätte, einen Einblick in die Praxis vor Ort zu bekommen.
Dreieinhalb Jahre habe ich dann zweimal die Woche für vier Stunden in Duisburg gearbeitet, und das war wunderschön. Ich kam nachmittags in die Schule, und es war das blühende Leben. Bei der Ganztagsschule ist immer die Rede vom Lern- und Lebensraum, und das war für mich der Lebensraum par excellence, wie die Kinder da über den Schulhof geflitzt sind.
Online-Redaktion: Von Ihrer Ausbildung als Sportwissenschaftler her lag eine Beschäftigung mit Bewegung, Spiel und Sport im Ganztag nahe. Aber Sie haben noch zu anderen Facetten geforscht: sozialräumliche Aneignung, Schulhofgestaltung, Partizipation, Rolle der Mittagsfreizeit. Wie greifen diese Bereiche für Sie ineinander?
Derecik: Für Schulfreiraumgestaltung benötigt man Räume. Beim informellen Lernen, das ich durch das sozialräumliche Aneignungskonzept erfasst habe, ist die Partizipation ein wesentlicher Aspekt. Sie stellt sicher, dass die Mittagsfreizeit als größter Zeitraum für informelles Lernen und ungebundene Freizeit nicht zu sehr reglementiert wird. Ausreichend lange Pausen sind ein wesentlicher Faktor der angemessenen Rhythmisierung der Ganztagsschule, sie werden sogar als „Herzstück“ der Ganztagsschule bezeichnet. Und die ineinander übergreifenden Punkte Freizeitgestaltung in Form des informellen Lernens, Partizipation, ausreichende Zeiträume und Raumgestaltung sind auch im Qualitätsrahmen der Ganztagsschulen festgeschrieben und werden in der aktuellen Literatur zur Qualitätsentwicklung in Ganztagsschulen immer wieder erwähnt.
Online-Redaktion: Manche Schulen scheuen eine ungebundene Freizeit, und manche Pädagogen sehen einen gut durchgetakteten Schultag als Qualitätsmerkmal. Glauben Sie, dass das „Herzstück“ wirklich von vielen Ganztagsschulen auch als solches gesehen wird?
Derecik: Das kann man nicht pauschal beantworten und muss es differenzierter betrachten. Ich stimme der Tendenz zu, dass die Masse der Ganztagsschulen tatsächlich noch die Bedeutung des Zeitfaktors Pause und damit des „vierten Pädagogen“ nicht ausreichend wertschätzt. Das kann daran liegen, dass die Lehrkräfte das im Studium noch nicht gelernt haben, sondern weiter mit einem ganz intentionalen, fokussierten und engen Lernbegriff arbeiten, dass sie für die Bedeutung des informellen Lernens unter Peers, also unter den Gleichaltrigen, nicht sensibilisiert worden sind.
Vielen Lehrkräften ist der Umfang der Pausen auch gar nicht bewusst. Wenn ich diesen Zeitrahmen bilanziere, dann gucken die Lehrkräfte und die Studierenden erstmal ganz verblüfft. So habe ich mal viele Gewinner des Deutschen Schulpreises der letzten Jahre genommen, deren Tagesrhythmisierung angeguckt, die Pausenlänge ausgerechnet und diese mit der Unterrichtszeit verglichen. Da komme ich im Schnitt auf 500 bis 900 Minuten Pause pro Woche – noch ohne die Fünf-Minuten-Pausen. Umgerechnet kommen somit etwa elf bis 20 Unterrichtseinheiten zusammen. In den Grundschulen gibt es in den ersten beiden Jahrgängen jeweils genauso viele Unterrichtseinheiten wie Pausenzeiten.
Das birgt viele Möglichkeiten für das informelle Lernen. Oder anders ausgedrückt: Potenzial, die Schule als Lebensraum zu gestalten. Dieses Potenzial nicht zu nutzen, wäre schon fast fahrlässig. Aber im Bewusstsein ist das noch wenig angekommen. Meine Disziplin, die Sportpädagogik, diskutiert zum Beispiel vorwiegend über die Sicherung der dritten Sportstunde. Das ist wichtig, aber das immense Potential des informellen Lernens in den Pausen, in denen Bewegung, Spiel und Sport eine zentrale Rolle einnimmt, sollte nicht vernachlässigt werden.
Online-Redaktion: Das informelle Lernen benötigt neben der Zeit auch den Ort. Wie sollen Ganztagsschulen mit dem Raum umgehen?
Derecik: Es ist wichtig, die Räume adressatengerecht zu gestalten. Grundschüler haben entwicklungsbedingt andere Raumbedürfnisse als Schüler an weiterführenden Schulen. Schülerinnen und Schüler der 5. bis 7. Klasse haben wiederum andere Bedürfnisse als diejenigen der Jahrgänge 8 bis 10. Wenn Schulen dies ernst nehmen und entsprechende Räume zur Verfügung stellen, dann kann sowohl zur Entwicklung der Heranwachsenden als auch zur qualitativen Weiterentwicklung der Ganztagsschule beigetragen werden. In der Konsequenz führt dies auch zu einer Atmosphäre von mehr Wohlbefinden und dies kommt dem Schulklima zugute. Aus Studien wissen wir, dass gerade auch das Wohlbefinden und ein positives Schulklima wiederum einen positiven Einfluss auf die Schulleistungen nehmen können.
Online-Redaktion: Scheu vor dem unbeaufsichtigten Raum wird häufig mit aufsichts- und versicherungstechnischen Erwägungen begründet, zu Recht?
Derecik: Ich empfinde das als ein Totschlagargument. Ich frage, wenn diese Einwände kommen, immer zurück, ob diejenigen wirklich jemanden kennen, der deswegen im Gefängnis sitzt. Die Befürchtung ist ja, dass man mit einem Bein im Gefängnis steht während der Aufsicht. Emotional kann man das nachvollziehen, aber sachlich betrachtet ist es ein Mythos. Wenn wir uns die rechtlichen Grundlagen anschauen, gibt es keinen Grund für Befürchtungen. Die Aufsicht muss kontinuierlich, aktiv und präventiv sein. Man muss schon sehr fahrlässig agieren, um dagegen zu verstoßen, und eine Masse von Aufsicht ist auch nicht notwendig.
Die Jugendlichen brauchen Raum und Zeit für sich. Die Schule sollte sich gut überlegen, welche Aufsichtsphilosophie sie haben will. Wenn man die Aufsicht als eine Pflicht, Reglementierung und dauernde Beobachtungsaufgabe betrachtet, ist das schon fast entwürdigend für alle Parteien. Die Lehrer besitzen ihre Rückzugsräume, und die sollten den Schülerinnen und Schülern, gerade Jugendlichen, auch zugestanden werden. Es gibt Schulen, bei denen sich zur Aufsicht einige wenige Lehrkräfte an zentralen Knotenpunkten positionieren, wo sie einen Überblick über das Geschehen haben. Das Entscheidende ist, dass sich die Schüler beaufsichtigt, aber nicht kontrolliert fühlen. Das ist ein großer Unterschied.
Online-Redaktion: An welchen Stellen können Kinder und Jugendliche bei Entscheidungen beteiligt werden?
Derecik: Aus verschiedenen Ganztagsschulstudien wissen wir, dass es Bereiche gibt, bei denen Schülerinnen und Schüler theoretisch partizipieren könnten. Die meisten dieser Studien fokussieren allerdings die strukturellen Voraussetzungen wie Schülerparlament und Klassenrat. Mein Fokus liegt auf der Partizipation im Unterricht selbst und in Ganztagsangeboten. Diese Bereiche werden aus meiner Sicht in der Partizipationsdiskussion und -forschung bislang sehr vernachlässigt.
In meinen Untersuchungen habe ich das Augenmerk auf die Bewegungs-, Spiel- und Sportangebote im AG-Bereich gerichtet. Im AG-Bereich bestehen mehr Freiheitsgrade, und ich habe dort die Möglichkeiten für Partizipation eruiert. Hier liegt in meinen Augen das Kardinalproblem in der Partizipationsdebatte: Wir wissen noch gar nicht, wo und wie Beteiligung in Lehr-Lern-Kontexten umgesetzt werden kann.
Wenn man sich die Ganztagsschulstudien betrachtet, die alle mit unterschiedlichen methodologischen Designs und Theorien rangehen, fällt insgesamt der Mangel an einer pädagogisch-didaktischen Perspektive auf. Die aktuelleren Studien zeigen ganz klar auf, dass eigentlich der Einfluss der Lehrkraft in Form von Haltungen und didaktisch-methodischen Kompetenzen zur Förderung und Umsetzung von Partizipation kaum untersucht wird. Die Lehrenden sind entscheidend, weil sie die Heranwachsenden ja erstmal zum demokratischen Handeln befähigen müssen.
Wir können nicht davon ausgehen, dass die Heranwachsenden die ihnen angebotenen Räume zur Partizipation automatisch in einem angemessenen fairen und demokratischen Rahmen wahrnehmen. Das ist eine große Forschungslücke. Meine Studie unternimmt erste Ansätze, diese zu schließen, aber hier muss noch wesentlich genauer hingeschaut werden. Hier besteht noch dringend Handlungsbedarf, nicht nur für Sportangebote.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Kooperationen - Kulturelle Bildung
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