Neue Musik in der musikpädagogischen Forschung : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Bislang fristete der Musikunterricht ein eher stiefmütterliches Dasein in der Schulforschung. Doch die "Studie zur musisch-kulturellen Bildung an Ganztagsschulen", kurz MUKUS, die vom BMBF im Rahmen der IZBB-Begleitforschung gefördert wird, eröffnet nicht nur den Praktikern vor Ort, sondern auch den Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern große Chancen. Die Musikpädagogik findet nun auch international Beachtung. In einem Gespräch mit der Online-Redaktion zieht Prof. Andreas Lehmann-Wermser vom Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Universität Bremen eine Zwischenbilanz des länderübergreifenden Forschungsvorhabens.

Porträtfoto Andreas Lehmann-Wermser
Andreas Lehmann-Wermser präsentiert MUKUS auf dem Symposium "Ganztagsschulforschung" © Andreas Lehmann-Wermser

Online-Redaktion: Der Musikunterricht an Schulen gleicht vielfach einer Black Box. Es liegen wenige Erkenntnisse darüber vor, wie guter Musikunterricht funktioniert. Wissen wir inzwischen etwas mehr darüber?
 
Lehmann-Wermser: Bislang konzentrierte sich die wissenschaftliche Erforschung des Unterrichtes auf Deutsch,  Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften. Dafür ist die Musikpädagogik allerdings mitverantwortlich, weil sie sich primär der bildungsmusiktheoretischen Dimension zugewandt hat und dabei die empirische Forschung vernachlässigte. So gibt es im Bereich Musik wie auch in der Kunst- oder Theaterpädagogik relativ wenig Unterrichtsforschung. Wir wissen daher weder, wie im Unterricht gelernt wird, noch was am Ende dabei als Output herauskommt.

Das hängt auch mit der Eigenart des ästhetischen Lernens zusammen: Kunst ist nicht standardisierbar. Es hat dort dementsprechend noch keine Tests wie PISA oder ähnliche Erhebungen gegeben. Das hat den Nachteil, dass wir im Bereich des Musikunterrichtes noch nicht wissen, welche Bedingungen dem Unterricht förderlich sind oder welche Schülergruppen spezielle Probleme haben.

In den ästhetischen Fächern hat sich zwar eine interkulturelle Pädagogik entwickelt, doch wissen wir bislang wenig darüber, inwiefern der Musikunterricht auch für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund einen Beitrag zur individuellen Förderung oder zur Integration leistet.

Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel unseres Forschungsvorhabens, eine Bestandaufnahme des musisch-kulturellen Angebotes des Musikunterrichtes vorzunehmen. Bislang gibt es dazu überhaupt keine Basisdaten. Mit den Musikschulen verhält es sich übrigens ähnlich. Dem Verband deutscher Musikschulen liegen lediglich Statistiken darüber vor, wie viele Schülerinnen und Schüler in den verschiedenen Musikinstrumenten unterrichtet werden - es sind rund eine Million. Aber der Verband verfügt über keine Basisdaten, aus denen hervorgeht, aus welchen Elternhäusern die unterrichteten Kinder kommen oder welche Effekte diese Musikangebote auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler haben.

Online-Redaktion: Welche Rolle spielen die außerschulischen Partner?

Lehmann-Wermser: Wir untersuchen vor diesem Hintergrund besonders die Verbindungen zwischen den Schulen und den außerschulischen Kooperationspartnern. Dabei sind nicht nur die organisatorischen Strukturen von Bedeutung, sondern auch die Gelingensbedingungen von Kooperationen.

Zwischen den Bundesländern gibt es große Unterschiede in der Handhabung von Kooperationen. Vorbildlich ist das Land Rheinland-Pfalz, das den Ganztagsschulen zu einem sehr frühen Zeitpunkt des Ausbaus Orientierungsmodelle für Kooperationen mit Musikschulen?  an die Hand gegeben hat.

Online-Redaktion: Worin besteht der innovative Aspekt ihres Forschungsvorhabens hinsichtlich der Ganztagsschulen?

Lehmann-Wermser: Die Ausgangsituation zeichnet sich in der Musikpädagogik durch eine Besonderheit aus. Anders als in der Mathematik oder Physik hat die Schule für Musik kein Unterrichtsmonopol. Es gibt unterschiedliche Akteure: den klassischen Musikunterricht an den allgemeinbildenden Schulen, kommunale Musikschulen sowie private Anbieter. Eine bedeutende Rolle spielen ferner die Elternhäuser und die Peergroups. Wir unterscheiden daher in der Musikpädagogik zwischen formaler, nonformaler und informeller Bildung.

Durch die Ganztagsschulen verändert sich allerdings das Bild. Für die Musikschulen hat der Ganztagsschulausbau weitreichende Auswirkungen: Sie können ihren Musikunterricht, der bislang zwischen 14:30 bis 18:30 Uhr stattfand, erst dann anbieten, wenn die Kinder nach 16:30 Uhr von der Schule kommen. Daraus ergibt sich für die Musikschulen ein organisatorisches, inhaltliches und auch ein wirtschaftliches Problem. Die Klientel der Musikschulen besteht tendenziell aus Kindern bildungsnaher Familien, die die musischen Angebote intensiv wahrnehmen, während Kinder aus bildungsfernen Familien nur in einem sehr beschränkten Maße an diesen Angeboten teilhatten.

Die Ausweitung der Ganztagsangebote verändert diese Situation nun grundlegend. Dabei eröffnet sich eine Möglichkeit, auch Kinder aus bildungsfernen Familien für die musisch-kulturelle Bildung zu gewinnen. Hier setzt unser Forschungsprojekt an, das unter anderem die quantitativen und qualitativen Auswirkungen der Ausweitung dieser Angebote für die Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Familien untersucht.

Online-Redaktion: Wer ist der Auftraggeber des Projektes, welche Kooperationspartner sitzen im Boot und wie wird dabei das Ziel der Nachwuchsförderung erreicht?
 
Lehmann-Wermser: Die Förderung erfolgt durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das im Zuge des IZBB-Programms auch eine wissenschaftliche Begleitforschung auf den Weg gebracht hat. Ein zentraler Pfeiler der IZBB-finanzierten Begleitforschung ist die "Studie zu Entwicklung der Ganztagsschulen" (StEG), an der ein hochrangiges Konsortium beteiligt ist. Daneben sind eine Reihe von qualitativen Forschungsvorhaben angeschoben worden.

Das Neue ist, dass diese Forschungsvorhaben eng miteinander vernetzt sind. Sie haben bereits viele Impulse durch die StEG-Studie erfahren: Institute wie das Deutsche Institut für internationale pädagogische Forschung (DIPF) oder das Deutsche Jugendinstitut (DJI) haben natürlich ganz andere Möglichkeiten der empirischen Forschung. Dieses Know-how stellen sie den kleinen Instituten zur Verfügung, sodass es viele Synergieeffekte gibt.

Die Nachwuchsförderung hat dadurch eine andere Qualität bekommen. Auch in unserem Projekt arbeiten mit Susanne Naacke und Sonja Nonte zwei Nachwuchswissenschaftlerinnen mit. Da die Musikpädagogik aus den genannten Gründen kaum Unterrichtsforschung betrieben hat, gab es bislang bei den Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern in diesem Bereich ein geringes Methodenrepertoire und geringe Kenntnisse über die Unterrichtsangebote.

Im Zusammenhang vernetzter Forschungsvorhaben eröffnen sich für den wissenschaftlichen Nachwuchs andere Möglichkeiten, auch von anderen Disziplinen, bei verschiedenen Tagungen voneinander zu lernen und sich so ein anspruchsvolles Forschungsrepertoire anzueignen. Darüber hinaus interessieren sich viele Doktoranden aus anderen Forschungsbereichen für unseren Forschungsansatz.

Online-Redaktion: Auch über Deutschland hinaus? 

Lehmann-Wermser: In Grenzen ja. Die Musikpädagogik verfügt in anderen Ländern über bessere Bedingungen und eine reichere Forschungstradition. Durch das IZBB-Programm haben wir aber nun eine Chance, an diese internationale Qualität anzuknüpfen. Durch das Ganztagsschulprogramm des Bundes wird international stärker wahrgenommen, wie wir in Deutschland auch mit der Forschung vorankommen.

International genießen insbesondere Adornos musiktheoretische Ansätze große Wertschätzung. Sie werden beispielsweise in England oder Amerika breiter rezipiert als in Deutschland. Dass sich im Bereich der Unterrichtsforschung nun einiges zu entwickeln beginnt, verdeutlichte auch ein Symposium, das wir mit Forscherinnen und Forschern aus England und der Schweiz veranstaltet haben.
    
Online-Redaktion: Sie nehmen qualitative Erhebungen in Brandenburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen an den Schnittstellen zwischen Schule (Musikunterricht) und außerschulischen Partnern vor. Wie hoch war die Beteiligung der Schulen der jeweiligen Länder? Welche ersten Erkenntnisse über innovative Entwicklungen an Schulen gibt es?
  
Lehmann-Wermser: Unsere Studie möchte zweierlei erreichen. Zum einen versuchen wir, quantitativ zu erheben, welche Angebote es im Bereich musisch-kultureller Bildung gibt. Wir erheben Daten zur Breite des Angebotes und zu den Kooperationspartnern. Dafür schauen wir uns in fünf ausgewählten Ländern an, was es an den Ganztagsschulen überhaupt gibt.

Ein Problem, auf das wir in den untersuchten Schulen gestoßen sind, ist die sogenannte "Überforschung": Die Schulen werden gegenwärtig durch eine Flut an Fragebögen unter Druck gesetzt. Darunter hatte auch unser Forschungsvorhaben zu leiden. Wir bekamen Schwierigkeiten bei der Rücklaufquote im quantitativen Forschungsteil mit unseren Fragebögen, die wir an Schulleiter, Lehrer, Schüler sowie Kooperationspartner verschickt haben. So gestaltete sich dieser Teil unseres Forschungsvorhabens etwas problematisch.

Im qualitativen Teil unseres Forschungsvorhabens zeigt sich dagegen ein völlig anderes Bild. Wir besuchten sechs ausgewählte Schulen vor Ort aus fünf unterschiedlichen Ländern und hielten uns über mehrere Tage hinweg dort auf. Diese Untersuchungen vor Ort waren ein viel größerer Aufwand für die beteiligten Schulen, da wir Interviews mit Schulleitungen, Lehrern, Elternvertretern und Schülervertretern durchgeführt haben. Zusätzlich hospitierten wir im Unterricht, um uns einen Eindruck von den Angeboten zu machen.

Darauf reagierten die Schulen aber positiv und zwar in mehrfacher Hinsicht. Uns wurde deutlich signalisiert, dass die Schulen es sehr begrüßen, dass ihre musikpädagogischen Angebote im Mittelpunkt der Forschung stehen und nicht die traditionellen Hauptfächer. Die Schulen zeigten sich sehr daran interessiert zu erfahren, wo sie gegenwärtig stehen.

Die wissenschaftliche Evaluation empfanden sie daher nicht als Eingriff, sondern als eine Chance zur Weiterentwicklung. Vor diesem Hintergrund wurde unsere Forschungsarbeit vor Ort von den Schulen auch als Wertschätzung ihrer Arbeit verstanden.

Online-Redaktion: Die Ganztagsschulen können aus den Mitteln des IZBB-Programms Musikinstrumente oder technisches Equipment für Schulbands beziehungsweise Orchesterklassen anschaffen. Welche Auswirkungen haben diese Mittel auf die musikpädagogischen Angebote?

Lehmann-Wermser: Es gibt keinen einheitlichen Trend. Die Verteilung der Mittel aus den IZBB-Geldern ist sehr unterschiedlich. Es gibt Schulen, die musisch-kulturelle Bildung sehr umfangreich finanzieren, und andere Schulen, bei denen dies nur marginal geschieht, weil sie die Gelder in andere Bereiche stecken. Wir haben außerdem den Eindruck gewonnen, dass die untersuchten Schulen mit den IZBB-Mitteln vor allem das fortgesetzt haben, was sie vorher schon verfolgt haben. Das heißt, wenn Schulen bereits vorher ein reiches musikpädagogisches Angebot hatten nutzen sie nun auch die zusätzlichen Möglichkeiten, um eine Probebühne zu bauen oder ähnliches.

Die Möglichkeit, sich durch die Mittel des IZBB-Programms Musikinstrumente anzuschaffen, ist manchen Schulen gar nicht bewusst. Wir haben Schulen untersucht, die diesen Aspekt der Finanzierung ganz anders lösen. Das hat im Hinblick auf die Erweiterung der Partizipation in der musisch-kulturellen Bildung große Bedeutung. In vielen Schulen gibt es gegenwärtig Orchesterklassen. Dafür müssen Musikinstrumente angeschafft und gewartet werden. Das heißt, es kommen auf die Schulen relativ hohe Kosten zu, in einer Größenordnung von rund 20.000 Euro pro Klasse.

Doch viele Schulen greifen gar nicht auf die IZBB-Mittel zurück, sondern  bemühen sich um andere Wege der Finanzierung, etwa durch Elternvereine, Sparkassendarlehen und ähnliches. Zwar bekommen auch diese Schulen eher Anmeldungen von Kindern aus bildungsnahen Familien, aber sie tragen dafür Sorge, dass die Kinder aus bildungsfernen Familien zumindest nicht ausgeschlossen werden. Sie bemühen sich um Finanzierungsmodelle, die eine breitere Partizipation ermöglichen. Diese Schulen wissen genau, was sie wollen und suchen vielfältige Wege der Finanzierung, darunter auch, aber eben nicht nur die Mittel des IZBB-Programms.

Online-Redaktion: Welche Bedeutung hat das Forschungsvorhaben für die Praxis bzw. die Bildungspolitik?

Lehmann-Wermser: Im Augenblick gibt es ein großes Interesse an musisch-kultureller Bildung und zwar nicht nur von Seiten eines traditionellen Bildungsbürgertums, sondern weit darüber hinaus. Das hängt auch damit zusammen, dass z. B. im Bereich der Mathematikdidaktik erkannt worden ist, dass es viele Schnittstellen zwischen musisch-kultureller Bildung und den kreativen Aspekten des Mathematikunterrichtes gibt.

Die musisch-kulturelle Bildung wird nicht mehr auf eine Spielecke reduziert, bei der man sich von den harten Fächern erholen kann, sondern als relevanter Bildungs- und Lernprozess. Deshalb ist für die Bildungspolitik die Entwicklung dieses Bereiches nicht mehr nur ein feines Accessoire, sondern Teil einer gewandelten Lernkultur.

Gerade im Bereich der Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gewinnt die musisch-kulturelle Bildung verstärkt an Bedeutung. Unser Ziel ist es, einen relevanten Baustein für die Forschung hinzuzufügen. Wir wollen in Erfahrung bringen, was an den Schulen passiert und was man tun kann, um die Integration zu stärken.

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