„Move For Health“ in Ganztag, Sozialraum und Verein : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Viele Kinder und Jugendliche treiben intensiv Sport, im Verein und im Ganztag. Andere zählen zu den „Couchpotatoes“. Die Sportwissenschaftlerin Prof. Dr. Ulrike Burrmann untersucht die Teilhabe im Sport.
Online-Redaktion: Sie gehören zum Forschungsverbund „Move for Health“ der Deutschen Sportjugend. Was ist, kurz gesagt, dessen Schwerpunkt?
Prof. Dr. Ulrike Burrmann: Hier muss ich unterscheiden. Zum einen gibt es seit 2012 den Forschungsverbund der Deutschen Sportjugend (dsj) von Kolleginnen und Kollegen verschiedener Universitäten. Er unterstützt die Sportjugend, die Qualitätsentwicklung im organisierten Kinder- und Jugendsport voranzutreiben und die Potenziale des Kinder- und Jugendsports nach außen sichtbarer zu machen. Wir erforschen interdisziplinär und praxisorientiert die Bildungspotenziale der Kinder- und Jugendarbeit im Sport, deren Erkenntnisse die dsj für den organisierten Kinder- und Jugendsport nutzbar machen kann. Auch möchten wir den Dialog und Transfer zwischen Forschung und Praxis weiterentwickeln. Und schließlich berät der Forschungsverbund die dsj bei der Positionierung im politischen und öffentlichen Raum, zum Beispiel über die Erarbeitung von Argumentationswissen und die Aufbereitung von Forschungsergebnissen.
„Move For Health“, kurz: „M4H“ ist eine Maßnahme der Deutschen Sportjugend, die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durch das Zukunftspaket für Bewegung, Kultur und Gesundheit gefördert wird. Es geht dabei darum, junge Menschen – wieder – in Bewegung zu bringen und ihre mentale Gesundheit zu stärken. Kolleginnen und Kollegen aus dem dsj-Forschungsverbund haben im Wissenschaftsmodul ein Verbundprojekt durchgeführt und unter Leitung von Dennis Dreiskämper erste Ergebnisse in einer Online-Broschüre zusammengestellt. Im Sommer 2024 wird die bundesweit repräsentative Online-Befragung von Kindern und Jugendlichen – die Kinder werden über ihre Eltern befragt – als Panel fortgeführt.
Online-Redaktion: Sie selbst haben allgemein von einer „Versportung des Jugendalters“ gesprochen. Was ist damit gemeint und welche Folgen hat eine solche?
Burrmann: Den Trend zur „Versportung des Jugendalters“ hat Jürgen Zinnecker bereits Ende der 1980er Jahre beschrieben. Vier empirische Argumente waren für ihn leitend: a) Die Sportbeteiligung von Jugendlichen in ihrer Freizeit stieg seit den 1950er Jahren kontinuierlich an. b) Geschlechterunterschiede nahmen zugunsten der zunehmend in den Sport involvierten Mädchen ab. c) Sportarten und die mit Sport verbundenen Sinnperspektiven differenzierten sich aus, sodass der Zugang zum Sport für alle erleichtert wurde. Und d) stellte Sportlichkeit ein immer stärkeres Element gesellschaftlicher Schönheits- und Körperideale dar. Die Versportungsthese wurde in den vergangenen Jahrzehnten auf das Kindesalter übertragen und konnte bisher in vielen Aspekten empirisch bestätigt werden. Mit Michael Mutz habe ich dazu 2017 einen Überblick verfasst.
Online-Redaktion: Dennoch hören wir immer wieder, auch seitens der Sportjugend, dass sich Kinder und Jugendliche weniger bewegen?
Burrmann: Ja, insbesondere in den letzten Jahren wird auch ein zunehmender Bewegungsmangel bei jungen Menschen diskutiert, bedingt durch längere Schulzeiten, weniger körperliche Alltagsbewegungen und zunehmende sitzende Tätigkeiten. Auch dieser Trend wurde in bisherigen Zeitreihen bestätigt. Es gibt also einerseits viele Kinder und Jugendliche, die in der Freizeit – teilweise in hohem Ausmaß – sportlich aktiv sind, beispielsweise im Sportverein oder im sportbezogenen Ganztag. Es gibt andererseits aber auch zunehmend mehr junge Menschen, die sich im Alltag nicht mehr ausreichend bewegen und die die Bewegungsempfehlungen der Weltgesundheitsorganisation oder der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nicht erreichen. Seit der Pandemie hat sich die Situation weiter zugespitzt. In unserer M4H-Studie gaben nur noch knapp 58 Prozent der Mädchen und 63 Prozent der Jungen an, in der Freizeit regelmäßig sportlich aktiv zu sein. 14 Prozent der befragten Jugendlichen waren in der Freizeit gar nicht sportlich aktiv. Und das sind nur die Zahlen zum Sport und nicht zur Bewegung insgesamt.
Online-Redaktion: Welche Bedeutung hat der Sportverein als Lebenswelt für Kinder und Jugendliche?
Burrmann: Der Sportverein nimmt im Kontext anderer Sportorte nach wie vor einen wichtigen Platz ein. In der M4H-Studie waren etwa 42 Prozent der befragten 13- bis 17-Jährigen in einem Sportverein aktiv. Diese Zahl erreicht kein anderer Sportanbieter. Insofern erreichen wir in Sportvereinen viele Jugendliche. Es sind aber nicht alle Gruppen gleichermaßen repräsentiert. In den Sportvereinen sind beispielsweise junge Menschen, vor allem Mädchen, mit Einwanderungsgeschichte, mit körperlichen Beeinträchtigungen, diagnostiziertem Förderbedarf oder aus Familien, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, unterrepräsentiert.
Online-Redaktion: Was kann getan werden, um das zu ändern?
Burrmann: Wir müssen entsprechende Zugänge schaffen, beispielsweise durch sozialraumorientierte sportbezogene Bildungsangebote im Ganztag, die unter anderem in Kooperation mit Vereinen durchgeführt werden. Neben den vielfältigen sportbezogenen Erfahrungen und motorischen Kompetenzen, die Kinder und Jugendliche im Verein machen, muss mitbedacht werden, dass Sportvereine non-formale Bildungsorte sind. Denken Sie an vielfältige soziale Kompetenzen, an die Förderung von prosozialen Werten, an Demokratiebildung, um einige Beispiele zu nennen. Die Bildungsanforderungen nehmen weiter zu, und viele Inhalte werden nicht allein über formale Bildung in der Schule bzw. im Sportunterricht erlernt, sondern ebenso in non-formalen und informellen Kontexten wie beispielsweise in Sport-AGs in der Schule, im Sportverein oder unter Peers.
Online-Redaktion: Was wünschen sich Kinder und Jugendliche von Sportangeboten?
Burrmann: Wünsche und Motive der jungen Menschen sind wie auch die Sport- und Bewegungsaktivitäten sehr vielfältig. Auf die Frage, warum sie gerade diese Sportaktivität ausüben, geben Jugendliche häufig an: um Spaß zu haben, fit zu bleiben und in der Sportart besser zu werden. Derzeit wird die Sportaktivität etwas häufiger auch ausgeübt, um Freunde zu treffen. Soziale und hedonistische Gründe werden neben Kompetenzerfahrungen häufiger von Fußballerinnen und Fußballern als Gründe für das Ausüben der Sportart angegeben, während Fitnesssportlerinnen und -sportler stärker fitness- und körperbezogenen Motiven zustimmen.
Ein Mangel an Freude und Interesse am Sportangebot, der Austritt von Freunden, fehlende Zeit und schlechte Erfahrungen werden wiederum von Altersgleichen als Gründe genannt, warum sie mit dem Vereinssport aufgehört haben. Um Kinder und Jugendliche für Bewegung, Spiel und Sport zu gewinnen und längerfristig zu binden, sollten nach der bekannten Selbstbestimmungstheorie von Richard Ryan und Edward Deci, die für viele Aktivitäten gilt, auch für das Lernen in der Schule oder den Ganztag, deren Motive und Bedürfnisse nach sozialer Einbindung, Kompetenzerfahrung und Autonomie aufgegriffen werden.
Online-Redaktion: Sie haben kürzlich „Sportbegeisterte“ und „Couchpotatoes“ unterschieden. Woher rühren die Unterschiede?
Burrmann: Wie bereits gesagt, ist der Zugang zum Sport und zum Sportverein im Besonderen nach wie vor sozial selektiv. Die Ursachen sind vielfältig. Als Gründe für die Sportabstinenz werden von den Jugendlichen selbst fehlende Lust, keine interessanten Angebote und sportferne Freunde angegeben. Häufig fehlen Bewegungserfahrungen und Vorbilder im familialen Umfeld. Wenn sich soziale Gruppen wie etwa Kinder und Jugendliche aus Familien, die staatliche Transferleistungen erhalten, oder auch Jugendliche, die sich als „divers“ zuordnen, seltener in Sportangeboten finden, müssen räumliche Barrieren, aber auch die in unseren Köpfen weiter abgebaut werden, denn viele hören mit dem Sportangebot wieder auf, weil sie sich nicht als zugehörig erleben.
Online-Redaktion: In Ganztagsschulen ist der Sport mit Abstand das beliebteste Angebot, fast alle kooperieren mit Sportvereinen, meist mit mehreren. Können Ganztagsangebote den Zugang zum Sport, vielleicht auch zum Sportverein, erleichtern?
Burrmann: Die Schule ist der Ort, an dem ich alle Kinder und Jugendlichen erreichen und sie an Bewegung, Spiel und Sport und damit verbundene Bildungspotenziale heranführen kann. Die Zugangsbarrieren sind hier eher niedrig. In der Zusammenschau bisheriger empirischer Befunde haben Regina Soremski und Ludwig Stecher, die zur Ganztagsschule geforscht haben, gezeigt: Von einigen Jugendlichen wird sie als Verhinderung von Freizeit und selbstgewählter Sportangebote erfahren. Andere sehen sie als Ressource zur Freisetzung außerschulischer Freizeit und Fortsetzung eigener Freizeitpraktiken, als „doppelten Freizeitspaß“.
Es kommt also auf die Vereinbarkeit von Freizeitbedürfnissen an. Eine Möglichkeit ist die Erprobung von sozialraumorientierten sportbezogenen Bildungsangeboten im Ganztag mit einer hohen Passung zu den Lebenswelten der Jugendlichen, die Räume für Zugehörigkeit und Empowerment eröffnen. Das kann auch Benachteiligungen in der Teilhabe am Sport kompensieren helfen. Dabei geht es nicht nur um organisierte Bewegungs- und Sportangebote, sondern um Mit- und Selbstbestimmung der Jugendlichen. Kooperationen und Netzwerke zwischen Sportvereinen und Schulen, zwischen Trainerinnen und Trainern sowie Sozialpädagoginnen und -pädagogen im Ganztag sind zudem eine Chance, bisher eher sportferne Kinder und Jugendliche für Sport und Bewegung in der Freizeit zu gewinnen.
Die Schaffung von Synergien zwischen verschiedenen Sport anbietenden Institutionen dürfte dazu beitragen, dass mehr junge Menschen sowohl in der Schule als auch im Verein oder in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sportlich aktiv sind. Dazu bedarf es aber Ansprechpersonen mit fachlichen Qualifikationen und entsprechenden zeitliche Ressourcen, um Netzwerke aufzubauen und den Austausch zu initiieren und zu pflegen. Solche Projekte gibt es in allen Bundesländern, beispielweise „Sport vernetzt“.
Online-Redaktion: Kinder wollen sich gerne messen, gleichzeitig lehnen viele Leistungsdruck ab. Wie kann Sport dieser Spagat gelingen?
Burrmann: Kompetenzerfahrung ist ein psychologisches Grundbedürfnis. Insofern ist es gar nicht so überraschend, dass Kinder und Jugendliche Sportaktivitäten ausüben, um im Sport besser zu werden. Hier geht es aber vor allem auch um die individuelle Leistungsverbesserung, die im Sport ja relativ schnell sichtbar werden kann. Als Angebotsleitende sollte ich die individuelle und weniger die soziale Bezugsnorm in den Fokus rücken. Letztere dürfte auch eher zu erlebtem Leistungsdruck beitragen.
Die Überbetonung sozialer Vergleiche besteht aber nicht nur im Sport, sondern auch in anderen Lebensbereichen, und daran sind nicht nur Sportlehrkräfte oder Übungsleiterinnen beteiligt, sondern oft Eltern, die beispielsweise auf dem Fußballplatz vom Trainer das Auswechseln eines Kindes fordern. Wenn sich Kinder und Jugendliche entscheiden, an Wettkämpfen und Turnieren teilzunehmen, dann wollen sie sich mit anderen messen und sie vergleichen sich selbst auch mit anderen.
Dennoch sollten Rückmeldungen an die Kinder zuerst an der individuellen sportlichen Leistungsentwicklung festgemacht werden. Eine Herausforderung des Vereinssports besteht meines Erachtens vor allem darin, junge Menschen im Verein zu halten und ihnen alternative Angebote zu unterbreiten, wenn sie die gewählte Sportart oder das wettkampfsportliche Angebot aus verschiedenen Gründen nicht mehr ausüben wollen oder können.
Online-Redaktion: Was kann die Forschung beitragen, um besser über die Sportwirklichkeit von Kindern und Jugendlichen und deren Bedürfnisse informiert zu sein? Und welche Forschung braucht es künftig?
Burrmann: Mit den Kinder- und Jugendberichten der Bundesregierung oder mit den regelmäßig stattfindenden Jugenderhebungen, wie der Shell-Jugendstudie oder AID:A, haben wir Informationen zu verschiedenen Lebensbereichen, die allerdings wenige Aussagen über den Sport der Kinder ermöglichen. In der Gesundheitsberichterstattung, wie der KiGGS-Studie, haben wird wiederum Daten zu Gesundheit und Bewegung im Alltag von jungen Menschen.
Leider lässt sich die Sportwirklichkeit in der Vielfalt dadurch nicht abbilden. Insofern wünsche ich mir für Deutschland regelmäßige bundesweit repräsentative Befragungen von Kindern und Jugendlichen zu ihren sportlichen Aktivitäten, um Trends besser abbilden zu können. Da sind uns andere Länder voraus. Wir vergleichen unsere M4H-Daten gerade mit Daten, die vor mehr als zehn Jahren und mit teilweise anderen Items, also Fragen erhoben wurden. Aber quantitative Erhebungen reichen nicht aus. Zu bestimmten Fragestellungen benötigen wir qualitative Daten, beispielsweise zu den Perspektiven von bisher im Sport unterrepräsentierten Kindern und Jugendlichen. Und es bedarf Evaluationsstudien mit partizipativen Ansätzen, also unter Einbeziehung der Kinder und Jugendlichen, auch um Ganztagsschulkonzepte weiterzuentwickeln.
Kategorien: Forschung - Internationale Entwicklungen
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