"Man muss einen langen Atem haben" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Nach sechs Jahren endet das Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB), das bundesweit maßgeblich zum Aus- und Aufbau von Ganztagsschulen beigetragen hat. Prof. em. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann zieht im Gespräch eine kritische Bilanz.
Online-Redaktion: Prof. Tillmann, nach sechs Jahren Laufzeit endet zur Jahreswende das Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB). Dabei wurden vier Milliarden Euro in Bauten und Sachmittel von Ganztagsschulen investiert. Glauben Sie, der Sie auch Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Forschungsverbundes zur Entwicklung von Ganztagschulen sind, dass dieses Programm quasi "über Bande" dazu beigetragen hat, Probleme im Bildungswesen zu beheben, welche die PISA-Studie aufgedeckt hat?
Klaus-Jürgen Tillmann: Die Ganztagsschule ist von der Politik als eine sinnvolle Maßnahme zur Bewältigung der bei PISA aufgedeckten Probleme auserkoren worden. Meine Einschätzung ist, dass wir einen erheblichen Fortschritt gemacht haben, was die Betreuung von Kindern und Jugendlichen angeht - ein wichtiger gesellschaftlicher Punkt bei der Familienfreundlichkeit unseres Bildungssystems. Das belegen die Zahlen der Schülerinnen und Schüler, die heute eine Ganztagsschule besuchen.
Nach wie vor strittig ist aber, ob dieses Programm eine angemessene Antwort auf die bei PISA festgestellten Probleme der fachlichen Leistungen und der sozialen Auslese darstellt. Ich glaube, dass man ein großes Fragezeichen hinter den Bereich der Verbesserung der fachlichen Leistungen setzen muss, insbesondere dann, wenn es sich um offene Ganztagsschulen handelt - und das ist ja bei etwa 70 Prozent der neu eingerichteten Schulen der Fall. Man kann den Bereich der Hausaufgabenbetreuung als eine fachliche Unterstützung sehen, aber bei zusätzlichen gezielten Unterrichtsstunden etwa für Schülerinnen und Schüler der "Risikogruppe" herrscht meistens Fehlanzeige. Selbst bei der gebundenen Form habe ich höhere Förderungseffekte erwartet, als sie sich momentan abzeichnen. Es fehlen allerdings noch differenzierte Auswertungen zu diesem Bereich.
Bezüglich der sozialen Selektivität vertrete auch ich die These, dass eine längere schulische Betreuung vor allem von Kindern aus "bildungsfernen" Milieus eine positive Wirkung entfalten kann. Die Begleitforschung zum Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" versucht dies zu bestätigen, hat bisher aber auch dafür keine ausreichenden Belege gefunden.
Online-Redaktion: Das hört sich skeptisch an.
Tillmann: Nein, es ist erst einmal nur mein Fragezeichen in Richtung offener Ganztagsschule. Die bisher vorliegenden Daten der "Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen" (StEG) zeigen erstens, dass die Hausaufgabenbetreuung eine große Rolle spielt - und das ist ja auch gut so. Zweitens gibt es ein buntes Kursangebot, welches sich in der Regel deutlich vom schulischen Unterricht abhebt, was man auch positiv bewerten kann. Zugleich heißt das aber, dass zum Beispiel eine Förderung für Kinder mit Mathematikproblemen im Nachmittagsbereich nur sehr selten angeboten wird. Eine gezielte Reaktion auf fachliche Lerndefizite fehlt aus meiner Sicht in vielen Konzepten offener Ganztagsschulen.
Über diese Fragen gibt es aber auch pädagogische Auseinandersetzungen. Die Jugendhilfe-Mitarbeiter, die häufig das Angebot am Nachmittag gestalten, wollen ja eben nicht eine Verlängerung des Schultags, sondern den Kindern andere Erfahrungen ermöglichen.
Online-Redaktion: Worin besteht Ihrer Ansicht nach der Vorzug gebundener Ganztagsschulen?
Tillmann: Die offenen Ganztagsschulen besitzen ein Verführungspotential für Lehrkräfte, sich weiterhin auf den Vormittagsunterricht zu beschränken und die Nachmittagsangebote zu einem Bereich für das außerschulische Personal zu erklären. So entsteht selten eine Verknüpfung von Unterricht und Ganztagsangeboten, und es fehlen die Rückwirkungen der Lernerfahrungen des Nachmittags auf den Unterricht. Bei den gebundenen Ganztagsschulen sehe ich größere Chancen zur Förderung fachlicher Defizite, weil zum einen alle Schülerinnen und Schüler erreicht werden und zum anderen eben auch Lehrerinnen und Lehrer stärker im Nachmittagsprogramm involviert sind.
Online-Redaktion: Sie waren Mitglied des Konsortiums PISA 2000. Kam Ihnen damals auch das Wort "Ganztagsschule" als Lösungsansatz in den Sinn, als Sie die Ergebnisse erhielten?
Tillmann: Die Ganztagsschule wird seit den 1960er Jahren als ein Instrument zu Reduzierung sozialer Auslese angesehen - allerdings ohne dass dieser Effekt bis dahin durch empirische Daten bestätigt wurde. Die Kultusminister haben 2002 an diese Diskussion angeknüpft und den Ausbau der Ganztagsschulen als eine von sieben Maßnahmen auf ihren "PISA-Handlungskatalog" gesetzt. So gesehen handelt es sich um eine programmatische Absicht, die auch erziehungswissenschaftliche Plausibilität beanspruchen konnte.
Online-Redaktion: Es gab warnende Stimmen, dass die Ganztagsschulen die ungleichen Lernchancen von Schülerinnen und Schüler sogar noch verstärken könnten. Sehen Sie diese Gefahr auch?
Tillmann: Die StEG-Studie liefert dafür überhaupt keine Belege. Zu Beginn des Ganztagsschulausbaus gab es ja zwei Hypothesen, die offene Form betreffend: Die erste besagte, dass besonders bildungsorientierte Eltern, die es sich auch finanziell leisten können, diese Ganztagsangebote für ihre Kinder wählen würden, um ihnen zusätzliche Musik- und Sportangebote zukommen zu lassen. Die zweite ging davon aus, dass vor allem alleinerziehende Mütter in schwierigen Lebenssituationen ihre Kinder dort anmelden, weil sie auf die Betreuungsleistung angewiesen sind - nach dieser Hypothese würden vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen in der Ganztagsschule verbleiben.
Die empirischen Daten zeigen nun, dass weder die These von der positiven noch die von der negativen Selektivität zutrifft. Der Anteil der Kinder, welche die offene Ganztagsschule besuchen, setzt sich sozial in etwa genauso zusammen wie in der Grundgesamtheit aller Schülerinnen und Schüler. Diese Schule spricht also sowohl die bildungsorientierten Eltern als auch diejenigen an, die lediglich ein Betreuungsproblem haben.
Online-Redaktion: Wer steht Ihrer Ansicht nach in der Verantwortung, um die Ganztagsschulentwicklung weiter voranzutreiben, um auch bei der fachlichen Förderung von Kindern und Jugendlichen mehr zu erreichen?
Tillmann: Das ist eine gemeinsame Aufgabe von Forschung, Schulentwicklung und Bildungspolitik. StEG liefert hier eine große Bestandsaufnahme. Es gibt daneben aber auch noch Einzelstudien über Förderaktivitäten, deren Ergebnisse demnächst vorliegen müssten. Darüber hinaus sollte man anhand von Best-Practice-Beispielen überprüfen, wie es bestimmten Schulen besonders gut gelungen ist, die erwartete und erhoffte Verknüpfung von Unterricht und außerschulischen Angeboten zu erreichen, und welche Bedingungen dafür die Voraussetzung sind. Solche Fallstudien wären hilfreich und notwendig.
Online-Redaktion: Haben Sie persönlich Schulbeispiele kennen gelernt, bei denen es erreicht worden ist, Bildungserfolg sowie Lehr- und Lernzufriedenheit zu gewährleisten?
Tillmann: Ich kenne viele gebundene Ganztags-Gesamtschulen, ich habe aber auch mit etlichen Akteuren von neuen Ganztagsschulen in offener Form gesprochen. Der Erfolg einer Ganztagsschule hängt meines Erachtens sehr davon ab, ob das Kollegium diese Schulform auch wirklich will und sich mit den neuen Aufgaben einer Ganztagsschule beschäftigen möchte. Bei offenen Ganztagsschulen kommt es viel zu oft vor, dass die Lehrerinnen und Lehrer sich mit dem "angehängten" offenen Ganztag nicht weiter beschäftigen. Eine solche Praxis führt dann eben nicht zur qualitativen Veränderung der Schule insgesamt, sondern der Unterrichtsbereich bleibt unverändert. Den Ganztagsschultypus, bei dem der Nachmittag in gemeinsamer Verantwortung von Lehrkräften und Sozialpädagogen gestaltet wird, gibt es noch viel zu selten.
Online-Redaktion: Müsste nicht schon in der Lehrerausbildung viel deutlicher werden, dass der Halbtagslehrer der Vergangenheit angehört und sich das Berufsbild gewandelt hat?
Tillmann: Es gibt an vielen Universitäten ein gutes Seminarangebot zum Thema Ganztagsschule, das ist meines Erachtens nicht das Hauptproblem. Aber das Selbstverständnis eines Berufsstandes steckt in den "Poren" des Berufsalltags und wird als Erfahrungen von einer Lehrergeneration zur nächsten weiter vermittelt. Was immer Innovatives an den Hochschulen erzählt werden mag, hat demgegenüber nur eine begrenzte Wirkung.
Das heißt für unser Thema: Lehrerinnen und Lehrer müssen 24 Unterrichtsstunden oder mehr in der Woche geben und diese auch vorbereiten. Diese Vorbereitung findet klassischerweise zu Hause statt, auch weil in den meisten Schulen angemessene Arbeitsplätze gar nicht vorhanden sind. Wenn man nun aber Lehrkräfte am Nachmittag in der Schule beschäftigt, ihnen für die Vorbereitungszeit indes keine ausreichenden Räume zur Verfügung stellt, wirkt sich das erschwerend aus. Wenn ich aber Schulentwicklung anstoßen und dabei die Lehrerinnen und Lehrer mitnehmen möchte, muss ich ihnen Unterstützung und Vorteile bieten und darf ihnen nicht sogar noch mehr Belastungen und Nachteile zumuten. Die Frage des Arbeitsplatzes in Ganztagsschulen ist deshalb ganz entscheidend, wenn es um die Einbindung der Lehrerinnen und Lehrer geht.
Online-Redaktion: Mit dem Ausbau von Ganztagsschulen sollten sich die Schulen für Impulse von außen öffnen und in lokalen Bildungslandschaften mit anderen Institutionen und Bildungsträgern vernetzen. Sehen Sie hier Anhaltspunkte, dass dies geglückt ist?
Tillmann: Es gibt große Chancen, Schulen mit Unterstützung der Jugendhilfe zu regionalen Bildungszentren am Nachmittag zu entwickeln, die eine gewisse Attraktivität für Jugendliche besitzen. In etlichen Kommunen ist das schon gut gelungen - entsprechende Aktivitäten gibt es zum Beispiel in Köln, in Braunschweig und in Oldenburg. Und es gibt immer mehr Städte und Gemeinden, die den Ausbau der Ganztagsschule als Einstieg in die Entwicklung kommunaler Bildungslandschaften ansehen.
Online-Redaktion: Die Hauptprobleme im Bildungswesen sind in den vergangenen acht Jahren seit Veröffentlichung der ersten PISA-Studie geblieben. Was würden Sie vorschlagen, um an diesen Stellen weiter zu kommen?
Tillmann: Man muss einen langen Atem haben. Wenn wir bei 15-Jährigen eine hohe soziale Selektivität feststellen und mit Maßnahmen zur Verbesserung des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule beginnen, dauert es ja mindestens zehn Jahre, bis sich positive Effekte bei einer PISA-Studie zeigen können. Insofern ist es noch zu früh, um sich ein Urteil zu bilden, ob die bildungspolitischen Maßnahmen gegriffen haben.
Online-Redaktion: Aber gehen denn die getroffenen Maßnahmen Ihrer Ansicht nach in die richtige Richtung?
Tillmann: Manche schon - etwa die verstärkte Sprachförderung oder die Reduzierung des Sitzenbleibens. Aber es gibt auch Maßnahmen, die dringend nötig wären, aber leider unterlassen werden.
Online-Redaktion: Welche zum Beispiel?
Tillmann: Wir haben immer noch diese hohe Selektivität beim Übergang in die Sekundarstufe I - und wir haben in vielen Bundesländern eine Konzentration der besonders schwachen Schülerinnen und Schülern in Hauptschulklassen. Dass nur noch etwa zehn Prozent oder weniger der Grundschülerinnen und Grundschüler zur Hauptschule gehen, ist inzwischen in vielen Städten von Bremen über Berlin bis Bochum gängige Praxis. Jürgen Baumert hat in einer PISA-Zusatzanalyse gezeigt, dass es in solchen Hauptschulen kaum noch Lernmotivation und keine erkennbaren Lernerfolge mehr gibt. Hier müsste schlicht und ergreifend die eigenständige Hauptschule abgeschafft werden, was in einigen Ländern wie Berlin und Hamburg jetzt ja auch geschieht.
Online-Redaktion: Seit knapp 40 Jahren haben Sie den Blick auf die Bildungspolitik in Deutschland. Wie ordnen Sie die Phase ein, in der wir uns derzeit befinden?
Tillmann: Seit PISA ist die Bildung ein großes Thema geworden, und es herrscht wieder eine sehr intensive bildungspolitische Debatte. Es gibt auch die Bereitschaft, zusätzliche Ressourcen in das Bildungssystem hineinzustecken, wofür die Ganztagsschule ein wesentlicher Beleg ist. Insofern bin ich zunächst einmal optimistisch, dass sich in den kommenden Jahren Verbesserungen erzielen lassen. Durchgreifende Verbesserungen setzten allerdings voraus, dass sich Politiker wie Pädagogen von tradierten Vorstellungen lösen können: Der Fachunterricht nur am Vormittag gehört genauso dazu wie die frühe Sortierung der Kinder nach der 4. Klasse.
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