Lehrerkooperation: Präsenzzeit ist das A und O : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Viel gewünscht, aber noch zu wenig praktiziert: Lehrerkooperation. Prof. Dirk Richter von der Universität Potsdam erläutert im Interview, was Kooperation bedeutet.
Online-Redaktion: Herr Prof. Richter, was interessiert Sie am Thema Lehrerkooperation?
Dirk Richter: Mich bewegt das Thema im Kontext des „Berufliches Lernens“, mit dem ich mich bereits seit Jahren beschäftigte. Kooperation stellt eine Form dar, über die Lehrkräfte ihr eigenes Wissen aktualisieren und reflektieren.
Online-Redaktion: Sie waren auch an der im Februar veröffentlichten Studie „Lehrerkooperation in Deutschland“ beteiligt. Wie kam es dazu?
Richter: Der Ausgangspunkt war eine Initiative der Bertelsmann-Stiftung, gemeinsam mit der Robert-Bosch-, der Telekom- und der Mercator-Stiftung. In Deutschland ist dieses Thema kaum beforscht und diskutiert worden, während international immer mal wieder darauf geschaut und professionelle Kooperation auch als Bestandteil gut funktionierender Schulen identifiziert worden ist. Für Deutschland wussten wir bislang wenig darüber, wie Kooperationsstrukturen in den Schulen ausgeprägt sind.
Online-Redaktion: Ist Ihre Forschung so etwas wie eine Pilotstudie?
Richter: So weit würde ich nicht gehen. Es lagen bereits einige Studien vor, die sich mit der Messung von Lehrerkooperation befassten. So gibt es theoretische Modelle, die unterscheiden, welche verschiedenen Niveaus von Kooperation differenziert werden können. Auf der niedrigsten Stufe ist Kooperation lediglich der Austausch oder die Weitergabe von Informationen und Material, während auf der höchsten Stufe gemeinsam Projekte oder Unterrichtsstunden geplant und durchgeführt werden.
Unsere Studie zielte darauf ab, repräsentative Erkenntnisse über das konkrete Kooperationsverhalten an Schulen zu gewinnen – insbesondere auch deshalb, weil der Punkt „Kooperation“ ein Element der TALIS-Studie der OECD, gewesen ist, die in Deutschland bisher nicht durchgeführt worden ist. Anhand der Fragen, die in TALIS eingesetzt wurden, wollten wir Vergleiche zu den internationalen Ergebnissen ziehen.
Online-Redaktion: Wie erfasst man Lehrerkooperation?
Richter: In unserem Fall hat das Institut infratest eine bundesweite Stichprobe von über 1.000 Lehrkräften der Sekundarstufe I gezogen, nur Förderschulen und Privatschulen waren nicht dabei. Die ausgewählten Lehrerinnen und Lehrer wurden in persönlichen Interviews gefragt, inwiefern sie mit anderen Lehrkräften zusammenarbeiten, unter welchen Rahmenbedingungen Kooperation stattfindet und wie viel Zeit sie in Kooperationsaktivitäten investieren. Darüber hinaus haben wir Fragen zu den eigenen Arbeitsbedingungen und der Schule, an der sie arbeiten, gestellt.
Hans Anand Pant von der Berliner Humboldt-Universität und ich haben uns zunächst deskriptiv angeschaut, wie stark jeweils die Zustimmung zu den einzelnen Aussagen ausgefallen ist, und das in den internationalen Vergleich gesetzt. Des Weiteren haben wir die Unterschiede der Aussagen von Lehrerinnen und Lehrern in den unterschiedlichen Schulformen, zwischen Schulen im Westen und im Osten Deutschlands und zwischen jungen und alten Lehrkräften analysiert. Auch das individuelle Verhalten in Kooperationen haben wir betrachtet. Wie hängen zum Beispiel Selbstwirksamkeit und die Freude am Beruf mit Kooperationen zusammen? Wie geht Belastung mit Kooperationsverhalten einher?
In einem letzten Schritt haben wir uns damit auseinandergesetzt, wie schulische Rahmenbedingungen auf Lehrerkooperationen einwirken, ob die Lehrerinnen und Lehrer also mehr Unterstützung, mehr Zeit und mehr Räume für ihre Zusammenarbeit erhalten, und ob dies Auswirkungen darauf hat, ob man kooperiert.
Online-Redaktion: Wie intensiv fällt die Lehrerkooperation Ihren Daten zufolge aus?
Richter: Dass Informationen und Material unter Kolleginnen und Kollegen ausgetauscht werden, finden wir vergleichsweise häufig – auch im Vergleich zu anderen Ländern, die an TALIS teilgenommen haben. Seltener findet die gemeinsame Planung des Unterrichts auf Augenhöhe statt. Es gibt wenige Lehrkräfte, die im Team unterrichten oder Unterricht gemeinsam planen.
Nach unseren Daten findet auch das Diskutieren über Unterricht oder die Öffnung des Unterrichts für Kollegen vergleichsweise selten statt. Es scheint also einerseits eine Kultur des Austauschs zu geben, in der man sich auch über einzelne Schülerinnen und Schüler berät. Aber wenn es darum geht, gemeinsam über Unterricht nachzudenken, sind es relativ wenige Lehrerinnen und Lehrer, die das regelmäßig tun.
Online-Redaktion: Ist das Einzelkämpfertum hierzulande stärker verbreitet als in anderen Ländern?
Richter: Ich würde nicht pauschal davon sprechen, dass in Deutschland das Einzelkämpfertum stark verbreitet ist. Es ist notwendig, genau zu differenzieren, in welchen Bereichen Lehrkräfte Einzelkämpfer sind und in welchen nicht. Gemeinsamer Austausch über Schülerinnen und Schüler oder der Austausch von Material finden in Deutschland vergleichsweise häufig statt. Allerdings gibt es nur eine kleine Gruppe von Lehrkräften, die Unterricht regelmäßig gemeinsam planen, im Unterricht gegenseitig hospitieren und konstruktiv Kritik äußern. Es scheint eine gewisse Scheu vorhanden zu sein, den Unterricht zu öffnen, weil man sich dann möglicherweise Kritik aussetzen und Schwächen offenbaren könnte. Insofern kann man schon davon sprechen, dass Lehrkräfte im Bereich der Unterrichtsplanung und -entwicklung durchaus häufig noch Einzelkämpfer sind.
Online-Redaktion: Wie schaffen es Lehrkräfte im Ausland, mit dieser menschlich verständlichen Scheu vor Kritik besser umzugehen und auf Unterrichts- und Hospitationsbasis mehr zu kooperieren?
Richter: Im Ausland ist es nicht per se besser, auch dort gibt es Licht und Schatten. Es gibt auch Länder, in denen die Kooperationskultur noch schlechter entwickelt ist als bei uns. Ein positives Beispiel ist Singapur, das sehr gute Werte in der TALIS-Studie aufweist. Dort wird häufig miteinander kooperiert. Das liegt unter anderem daran, dass die Lehrerinnen und Lehrer dort weniger Zeit für den Unterricht aufwenden müssen und häufig über ein eigenes Büro verfügen, in dem sie sich mit ihren Kollegen treffen und austauschen können. Dort finden auch Gespräche mit den Schülerinnen und Schülern statt. Ein solches Umfeld fördert natürlich die Kooperation und spiegelt sich auch in den Daten wider.
Ein weiteres gutes Beispiel ist das eines Lehrers aus den Niederlanden, der beim Internationalen Bildungsgipfel in Berlin von seinen Erfahrungen berichtet hat: An seiner Schule ist es selbstverständlich, sich in den Unterricht der Kollegen hineinzusetzen und anschließend eine Rückmeldung zu geben.
Es gibt kleine Notizzettel, auf denen die Hospitierenden ihre positiven Eindrücke festhalten, aber auch vermerken können, was sie für verbesserungswürdig halten. Von diesen Anregungen können die besuchten Lehrer dann auch selbst lernen. Man kann dies zwar nicht für die ganzen Niederlande generalisieren, aber es zeigt, dass Personen, die für ein Feedback bereit sind, Ideen entwickeln, wie sie Rückmeldung erhalten können.
Online-Redaktion: Was könnte man davon in Deutschland nutzen?
Richter: Eine deutliche Absenkung des Unterrichtsdeputats, wie es in Singapur der Fall ist, lässt sich in Deutschland nicht flächendeckend umsetzen. Auch die räumlichen Bedingungen lassen sich nicht derart ändern, dass alle Lehrkräfte ihre eigenen Arbeitsräume erhalten. Es wäre jedoch möglich, durch eine zeitliche Umstrukturierung des Arbeitstages bzw. verpflichtende Präsenzzeiten nach dem Unterricht, dafür Sorge zu tragen, dass Lehrkräfte auch nach dem Unterricht an der Schule sind und so die Möglichkeit haben, mit anderen in Austausch zu treten. Beispielsweise ließe sich in Ganztagsschulen ein Zeit-Slot integrieren, der ausschließlich dem professionellen Austausch über den Unterricht dient.
Online-Redaktion: Sie erwähnen den Ganztag, der in der Studie „Lehrerkooperation in Deutschland“ eine wichtige Rolle spielt. Sie unterscheiden dort explizit zwischen offenen und gebundenen Ganztagsschulen. Wie verhält es sich dort mit der Lehrerkooperation?
Richter: Die Ganztagsschulen und insbesondere hier die gebundenen stechen heraus. Dort wird mehr zusammengearbeitet und auch verstärkt ko-konstruktiv kooperiert. Ko-konstruktiv bedeutet hierbei, dass Lehrkräfte ein gemeinsames Ziel benennen und an der Erreichung dieses Ziels konstruktiv und vertrauensvoll zusammenarbeiten.
Die Lehrkräfte an den gebundenen Ganztagsschulen berichten davon, dass sie Dinge stärker gemeinsam angehen und Unterricht zusammen vorbereiten. Das liegt zuallererst an der Präsenzzeit. Diese ist das A und O. Wenn ich nicht in der Schule bin, kann ich mich auch nicht mit anderen austauschen. Der gebundene Ganztag setzt quasi voraus, dass ich über den Unterricht hinaus an der Schule bin.
Dazu kommen dann noch die günstigeren organisatorischen Rahmenbedingungen der gebundenen Ganztagsschule, die mehr Zeit und Räume für Austausch bieten. Und nicht zuletzt unterstützen die Schulleitungen an diesen Schulen häufig die Etablierung der Kooperationsstrukturen.
Online-Redaktion: Werden Sie das Thema weiterverfolgen?
Richter: Mit unserer Studie haben wir einen ersten Aufschlag unternommen und dargestellt, wie die Kooperation insgesamt ausgeprägt ist. Wir wollen diese Daten nicht nur zum Thema Kooperation weiter untersuchen, sondern auch zum Beispiel in den Blick nehmen, wie an Schulen mit Inklusion gearbeitet wird.
Wir haben festgestellt, dass an Schulen, in denen inklusiv unterrichtet wird, auch mehr Kooperation stattfindet. Dies äußert sich zum Beispiel darin, dass häufiger in Teams unterrichtet und Unterricht gemeinsam geplant wird. Begünstigt wird die intensive Zusammenarbeit sehr wahrscheinlich dadurch, dass Lehrkräfte an diesen Schulen vor neue Herausforderungen gestellt werden, die sie ohne zusätzliche Hilfe durch Inklusionshelfer und Sonderpädagogen nur schwer bewältigen können. So scheint die kontinuierlich zunehmende inklusive Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf auch dazu beizutragen, die Kooperationskultur in Schule zu verbessern.
In zukünftigen Arbeiten möchte ich persönlich weiter der Frage nachgehen, welche Folgen sich aus dem Kooperationsverhalten ergeben, was wir aus den bisherigen Daten nicht ableiten können. Es wäre spannend zu sehen, ob Lehrerinnen und Lehrer durch erhöhte Kooperation ihren Unterricht weiterentwickeln und ob deren Unterricht dann eine andere Qualität aufweist als der Unterricht weniger stark kooperierender Kollegen.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Kooperationen - Kinder- und Jugendhilfe
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