"La buona scuola" als Ganztagsschule in Südtirol : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
In Südtirol nutzen die Schulen ihre Autonomie zur Einführung des Ganztags, wie Prof. Beate Weyland von der Universität Bozen schildert. Elternnachfrage und veränderte pädagogische Sichtweisen treiben die Entwicklung an.
Online-Redaktion: Frau Prof. Weyland, welche bildungspolitischen Themen werden in Südtirol diskutiert?
Beate Weyland: Ein großes Thema ist der Umbau der Schulen zu Bildungshäusern. Man hat wahrgenommen, dass die Lehrkräfte lange Abschnitte ihres Arbeitslebens in der Schule verbringen – länger als die Schülerinnen und Schüler – und auch sie sich in den Gebäuden wohlfühlen müssen. Daraus ergibt sich die Frage, was zum Wohlbefinden beiträgt und welche Maßnahmen man dazu ergreifen muss.
Ein weiteres Thema ist die Lehrerausbildung: Es gab lange Zeit eine rhetorische Ausbildung, die die Lehrerinnen und Lehrer zu einem interessanten und guten Frontalunterricht befähigte. 80 Prozent des Unterrichts wurden so bestritten, die anderen 20 Prozent der Zeit für Gruppenarbeit oder Experimente genutzt.
Inzwischen ist es Konsens, dass der Unterricht anders gestaltet werden sollte. Die deutschsprachige Seite Südtirols bezieht sich dabei stark auf einige Studien aus Deutschland wie die von Dr. Otto Seydel. Dieser erklärt, dass das Lehren und Lernen dreigeteilt erfolgen sollte: Unterrichten, Gruppenlernen und individuelles Lernen. An diese Überlegungen haben wir angeknüpft. Um so arbeiten zu können, muss man die Schule aber räumlich und zeitlich umstrukturieren.
Online-Redaktion: Läuft dieser andere Umgang mit Zeit auf Ganztagsschulen hinaus?
Weyland: In Italien und damit auch in Südtirol sind durch Gesetzesänderungen Ganztagsschulen ermöglicht worden. Dazu werden auch zusätzliche personelle Ressourcen bereitgestellt, früher noch großzügiger als heute. Da gab es in den Grundschulen beispielsweise zwei Lehrkräfte pro Klasse, die sich gegenseitig unterstützten. Das finden wir inzwischen nicht mehr. Jetzt gibt es ein neues Schulgesetzt „La buona scuola“, das den Schulen zusätzliche Mittel gewährt. Da hierzulande die Schulen über eine didaktische und organisatorische Autonomie verfügen, ist es ihnen überlassen, wie sie diese Mittel einsetzen, ob sie einen Ganztag anbieten und wie sie diesen ausstatten und gestalten.
Online-Redaktion: Wie ist es um die räumliche Umgestaltung bestellt?
Weyland: Südtirol ist beim Bau neuer Schulbauten ein Vorreiter, wenn man sieht, wie viele internationale Preise unsere Schulgebäude bekommen und welche Anerkennung sie erfahren. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es für einen guten Schulbau notwendig ist, die Schulverantwortlichen und deren pädagogisches Konzept in die Planung einzubeziehen, also interdisziplinäre Gruppen zu bilden. Daher gibt es die neue Schulbaurichtlinie „Organisationskonzept mit pädagogischer Ausrichtung“, die den Schulen ein Mitspracherecht einräumt. Zusammen mit den Architekten besuchen die Pädagogen während der Planungsphase gemeinsam Schulen und stellen zusammen Leitbilder auf, was sie von ihrem Schulbau erwarten.
Online-Redaktion: Wie viele Ganztagsschulen gibt es in Südtirol?
Weyland: Das kann ich nicht genau beziffern, aber in jedem Schulsprengel oder in einem Stadtteil gibt es mindestens eine, um Eltern, die darauf angewiesen sind, diese Wahl zu ermöglichen.
Online-Redaktion: Fragen die Eltern Ganztagsschulen nach?
Weyland: Ja, die Nachfrage steigt unter anderem wegen der Berufstätigkeit der Eltern. Aber das kann nicht das Hauptargument für die Ganztagsschule sein. Da gäbe es andere Möglichkeiten, die Kinder „zu parken“. Statt dessen nehme ich immer stärker wahr, dass in den Schulen ein Bewusstsein gewachsen ist, dass, wenn man anders lehren und lernen möchte, wenn man das Lernen stärker genießen möchte, wenn die Schule auch zu einem Lernhaus werden soll, in dem man sich als Gemeinschaft versteht, man dafür einfach mehr Zeit benötigt.
Zwar gibt es in Südtirol viele Mütter, die möchten, dass ihre Kinder zum Essen nach Hause kommen, und ihnen gerne beim Lernen und bei den Hausaufgaben helfen. Die Schulen konnten früher einen optionalen Unterricht mit einer curricularen Erweiterung um Angebote aus dem Sport, Musik und Kunst anbieten. Oder sie boten zweimal wöchentlich ein Essen mit anschließender Hausaufgabenbetreuung an, bei der die Lehrkräfte die Schülerinnen und Schüler unterstützten. Diese Hausaufgabenbetreuung wurde immer stärker von den Eltern nachgefragt. Die Schulen sind daher ins Nachdenken gekommen, wie sich diese Übung ganz in den Schulalltag integrieren lässt. An Ganztagsschulen gibt es daher auch keine Hausaufgaben. Die Schülerinnen und Schüler haben um 16 Uhr wirklich Schluss.
Online-Redaktion: Welche Möglichkeiten haben die Schulen mit ihrer Autonomie, den Tag anders zu gestalten?
Weyland: Sie können den Stundenplan selbst gestalten. Vor einem Jahr haben sich viele Südtiroler Schulen entschieden, von der Sechs- auf die Fünf-Tage-Woche zu wechseln. Und statt zwei langen Tagen bis 16.30 Uhr haben manche Schulen nun auf einen späteren Schulbeginn mit fünf längeren Tagen bis 15 Uhr umgestellt, um die Möglichkeiten für flexible Unterrichtsgestaltung zu erweitern.
Des Weiteren beginnen die Lehrkräfte, sich mehr in Teams zu organisieren und ihre Rolle neu zu definieren. Sie unterstützen sich gegenseitig durch gemeinsam ausgearbeitete didaktische Methoden bei Gruppenarbeiten oder individuellen Aufgabenstellungen und verstehen sich teilweise mehr als Stützlehrer, die ihre Schülerinnen und Schüler beim Lernen begleiten. Die Schülerinnen und Schüler können sich mit ihren Aufgaben auch außerhalb des Klassenraums aufhalten.
Es geht nicht mehr nur „um meine Schüler in meiner Klasse“, sondern um die Schule als eine Gemeinschaft. In diesem Sinne öffnen manche Schulen die Klassen. In den Grundschulen hat es so etwas schon länger gegeben, nun aber weitet sich dies auch auf die Mittelschule aus, wo man sich das bisher gar nicht vorstellen konnte. Hier gibt es eine sehr starke Entwicklung.
Online-Redaktion: Öffnen sich die Ganztagsschulen auch für außerschulische Partner oder ins soziale Umfeld?
Weyland: In Südtirol besteht eine große Vernetzung mit außerschulischen Partnern. Es gibt Projekte, die Vereine und Verbände in den Schulen anbieten, und Projekte, die an außerschulischen Lernorten durchgeführt werden. Die Schulen haben jährlich ein pädagogisches Profil, in welchem sie diese Projekte und Angebote aufgeführt haben. Seit Neuestem müssen die Schulen diese Profile auf drei Jahre planen. Die Kooperationen vertiefen sich deshalb, um ein kohärentes Angebot für die Kinder zu gewährleisten und die in der Kommune vorhandenen Ressourcen zu bündeln.
Online-Redaktion: Frau Prof. Weyland, vielen Dank für das Gespräch!
Schulsystem in Südtirol:
Wie im italienischen Schulsystem insgesamt besuchen in der autonomen Provinz Südtirol alle Kinder die fünfjährige Grundschule (Scuola Primaria) und die dreijährige Mittelschule (Scuola Media). Anschließend kann das Gymnasium (Liceo) oder eine vier- bis fünfjährige berufliche Ausbildung in der Fachoberschule (Istituto Tecnico) oder der Berufsschule (Istituto Professionale) gewählt werden.
Die dreisprachige Provinz (italienisch, deutsch, ladinisch) machte auf sich aufmerksam, als sie bei der PISA-Studie 2003, an der sie sich mit einer eigenen Stichprobe beteiligte, Spitzenwerte erreichte. Ganztagsklassen in der Grundschule und Klassen mit verlängerter Unterrichtszeit in der Mittelschule umfassen ein Jahresstundenkontingent von insgesamt 1360 Stunden. Die Unterrichtszeit schließt die Mensazeit, die Pausen und den Zeitraum zwischen dem Mensabesuch und dem Unterrichtsbeginn ein.
Kategorien: Forschung - Ganztagsschulforschung: Interviews
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