Kunst in der Ganztagsschule: „Einen anderen Raum schaffen“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Prof. Frank Jebe ist Künstler und Erziehungswissenschaftler – eine Kombination, die es nicht oft gibt. Aus erster Hand weiß er, vor welchen Herausforderungen Künstlerinnen und Künstler in Ganztagsschulen stehen.

Online-Redaktion: Herr Prof. Jebe, wo begegnet Ihnen das Thema Ganztagsschule in Ihrer täglichen Arbeit an der Hochschule?

Frank Jebe
Prof. Frank Jebe © Christian Clarke

Frank Jebe: Bei uns an der Hochschule Niederrhein taucht das Thema im Fachbereich Sozialwesen und insbesondere in den Studiengängen Kulturpädagogik und Kulturmanagement regelmäßig auf. Es wird nicht immer explizit benannt, ist aber von besonderer Relevanz und in vielen Lehrveranstaltungen präsent. Das Studium ist sehr praxisorientiert, und wenn die Studierenden eigene Kulturprojekte konzipieren und durchführen, spielt die offene Ganztagsschule eine bedeutsame Rolle. Kulturpädagoginnen und Kulturpädagogen arbeiten nicht selten in ebendiesen Schnittstellen von außerschulischer und schulischer kultureller Bildung.

Online-Redaktion: Ist das den Studierenden auch klar, dass der offene Ganztag ein Einsatzgebiet sein wird?

Jebe: Zu Beginn nicht unbedingt. Während des Studiums bekommen sie aber mit, wie bedeutsam das Thema ist. Das sehe ich mitunter auch als Aufgabe von uns Lehrenden, ihnen zu vermitteln, wie diese umfassende Strukturreform der Ganztagsschule die kulturelle Bildungslandschaft tangiert. Und wie spannend das für Forschungsfragen ist, was da in den letzten Jahren in Bewegung geraten ist. Da kommen Fragen auf: Wie viel Zeit haben Jugendliche nachmittags überhaupt noch für außerschulische Angebote? Wie viele Kultureinrichtungen müssen in die Schulen gehen, um dort sichtbar zu sein? Viele Einrichtungen müssen sich da ganz neu aufstellen. Auch wer in eine Jugendfreizeiteinrichtung geht, wird als Studierende und Studierende mit dem Thema Ganztag immer zu tun haben.

Online-Redaktion: Ist die Ganztagsschule eine große Chance als Betätigungsfeld für Kunstschaffende oder ist sie auch eine Art Billiglohnrisiko?

Jebe: Beides. Die Chance für Kunstschaffende, die Ganztagsschulen als Arbeitsfeld zu erschließen, ist gegeben. Allerdings ist kritisch zu hinterfragen, unter welchen Konditionen das geschieht. Da sind auch Unterschiede in den Kunstsparten auszumachen: Für gut ausgebuchte Musiker in der Musikschule stellen sich diese Zwänge nicht so sehr wie für bildende Künstlerinnen und Künstler. Wie nun meine Untersuchung in Düsseldorf gezeigt hat, sind insbesondere qualifizierte Kunstschaffende in den offenen Ganztagsschulen im Einsatz. Irgendwann müsste der Entwicklungsschritt kommen, dass sie entsprechend ihrer Qualifikation auch entlohnt werden. Dass momentan zu wenig Geld im System ist, ist offensichtlich. Dieses Politikum muss unbedingt weiter diskutiert werden.

Online-Redaktion: Wo Sie gerade Ihre Untersuchung ansprechen: Welche Rolle spielt kulturelle Bildung in Düsseldorfer Schulen?

Jebe: Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, wie kulturelle Angebote in die Ganztagsschule implementiert werden. Die Stadt Düsseldorf hat sich für einen vielversprechenden Weg entschieden. Beim „Düsseldorfer Modell“ hat das Kulturamt ein Verfahren entwickelt, eine Vorauswahl unter Künstlerinnen und Künstlern zu treffen, die sie dann für einen festen Stundensatz von 28 Euro à 45 Minuten gegenüber der Schule vertreten. Vor allem umfasst das Modell aber eine Form der Vermittlung und Hospitation – die Künstlerinnen und Künstler sind da nicht auf sich allein gestellt. Es gibt vorbereitende Gespräche, und das Kulturamt hat auch ein Netzwerk geschaffen, das sich über Qualität Gedanken macht.

Figur bemalen
© Britta Hünig

Was fehlte, war eine Befragung derjenigen, die in den offenen Ganztagsgrundschulen tätig sind. Innerhalb meiner Dissertationsschrift habe ich dazu eine empirische Untersuchung durchgeführt. Arbeiteten die Künstlerinnen und Künstler wirklich als Kunstschaffende oder waren sie als Betreuungskraft oder Lehrerersatz eingeteilt? Eine weitere Fragestellung war, inwieweit die Angebote der Künstlerinnen und Künstler aus ihrer Sicht soziale Ungleichheit kompensieren und zur Kreativitäts- und Persönlichkeitsentwicklung beitragen können. Es gibt da ja manchmal eine utopische Überfrachtung der Künste – bei der das ganze Schulsystem zu retten sei. Diese Erzählung hält sich im Diskurs, und mich interessierte, wie es damit „in der Praxis“ wirklich bestellt ist.

Online-Redaktion: Wie haben Sie die Künstlerinnen und Künstler gefunden?

Jebe: Ich konnte dankenswerterweise auf den von der Stadt Düsseldorf gebildeten sogenannten Pool der Künstlerinnen und Künstler zurückgreifen. Dort werden sie für ihren Einsatz in der OGS auch fortgebildet, und in diesem Kreis finden auch Treffen statt. Ich habe mit Hilfe des Kulturamtes eine Online-Befragung mit 164 Künstlerinnen und Künstlern durchgeführt und ausgewertet.

Online-Redaktion: Was können Sie zusammenfassend zu den Ergebnissen sagen?

Jebe: Zuerst lässt sich sagen, dass die Künstlerinnen und Künstler hochqualifiziert sind. Und auch, dass sie alle intrinsisch motiviert sind, die wollen gerne in der Ganztagsschule arbeiten. Das ist nicht selbstverständlich, wenn man sich die Ausbildungswege zum Beispiel an der Kunstakademie Düsseldorf anschaut, wo dieses Einsatzgebiet nicht thematisiert wird. Zweitens schaffen es die Künstlerinnen und Künstler aus ihrer Sicht, die Kunst im Sinne der freien Kunst in die Schule zu bringen. Sie bewahren künstlerische Prinzipien und ermöglichen den Schülerinnen und Schülern ihre Zugänge zu den Künsten. Das klingt banal, ist es aber aus künstlerischer Sicht gar nicht. Dass bei der Betätigung in der Ganztagsschule die künstlerische Herangehensweise nicht verloren geht, ist eine wesentliche Erkenntnis meiner Untersuchung.

Dritter Punkt: Künstlerinnen und Künstler machen Kunst. Obacht vor allen Programmen, die die Kunst mit anderen Intentionen überfrachten wollen! Auch wenn das Potenzial in den Künsten enthalten ist, kann es zu Problemen führen, wenn Künstlerinnen und Künstler auch noch sozialpolitisch agieren sollen. Und viertens hat das Düsseldorfer Modell Kunstschaffende als Teil von Schule sichtbar gemacht. Die Arbeit in der Ganztagsschule läuft in der Kunstszene sonst häufig unter dem Radar.

Online-Redaktion: Strahlt das Düsseldorfer Modell auch über die Stadtgrenzen hinaus?

Jebe: Bedingt. Jedoch konnte ich das Modell im Weiterbildungs-Master „Kulturelle Bildung an Schulen“ der Universität Marburg vorstellen. Bei diesem Master arbeiten die Studentinnen und Studenten auch genau an dieser Schnittstelle und versuchen für die Künste Räume in der Schule zu eröffnen. Bei dem Zertifikatskurs „Künstlerische Interventionen in der kulturellen Bildung“ der Universität Hildesheim und des Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel werde ich die Ergebnisse ebenfalls präsentieren.

Online-Redaktion: Welche Potenziale und Beschränkungen sehen Sie selbst in der Arbeit von Künstlerinnen und Künstler an Schulen?

Buch Kulturelle Bildung
© Athena Verlag

Jebe: Auch aus Sicht der befragten Künstlerinnen und Künstler ist es wichtig, dass es überhaupt eine Möglichkeit gibt, bei den Kindern eine Neugier und die Freude an den Künsten zu wecken. Einen anderen Raum zu schaffen, sich auszuprobieren und einen anderen Zugang zu den Dingen zu eröffnen. Das ist wichtige Grundlagenarbeit. Da kann man ja nicht früh genug anfangen, zumal wenn man sich die Zahlen ansieht, wie es bei Besucherzahlen in Theatern ausschaut und so weiter.

Ich war über zehn Jahre freiberuflich für das Kulturamt in Kitas und Ganztagsgrundschulen unterwegs und habe oft von den Lehrerinnen und Lehrern gehört, wenn sie sahen, wie die Kinder durch Künstler angeleitet und inspiriert wurden, etwas selbst erschaffen oder dargestellt haben: „So habe ich denjenigen oder diejenige noch nie erlebt.“ Dass es vorher in der Schule keine Möglichkeit für dieses Kind gab, sich derartig zu zeigen und Fähigkeiten zu entwickeln, war für mich immer ein Ansporn, an diesem Thema dranzubleiben. Die Künste sollten ihren Platz in der Schule selbstbewusst beanspruchen.

Eine Schwierigkeit besteht darin, die Externen mit den Ganztagsschulen zusammenzubringen. Welchen Ansprechpartner gibt es? Wie kann man überhaupt zusammenfinden? Die oft mit Zeitverträgen angelegten Kooperationen erschweren zum Beispiel die gemeinsame Entwicklung eines Qualitätsverständnisses. Gute Konzepte und Erklärungen, wie man alles zusammendenkt, gibt es ja genug, ob die Aachener Erklärung des Deutschen Städtetags, Stellungnahmen der KMK oder Konzepte der kommunalen Bildungslandschaften. Da ist sehr viel Wissen außerhalb der Schulen vorhanden, das zu nutzen wäre.

Online-Redaktion: Gibt es gute Beispiele der Kooperation von Ganztagsschulen mit Künstlerinnen und Künstlern, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?

Jebe: Auf jeden Fall! Da fällt es mir schwer, aus dem Reichtum an wirklich wunderbaren Beispielen auszuwählen. Eins auf jeden Fall: Ein bildender Künstler hat mit Schülerinnen und Schülern „Endzeitkapseln“ aus Beton gegossen. Und die Kinder haben eine Nachricht für die Nachwelt in Filmdöschen in diese Kapsel gesteckt. Die Kapseln haben sie mit Kacheln verziert, und sie wurden dann im Schulhofboden versenkt. Diese Kapseln halten theoretisch Hunderte von Jahren. Für die Kinder ist dieses Zeiterlebnis und Nachdenken über Zukunft faszinierend: Hier wächst vielleicht mal ein Wald, aber meine Botschaft, die ist dann noch da. Und welche Botschaft möchte ich hinterlassen?

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Prof. Frank Jebe, Jg. 1973, ist Künstler, Erziehungswissenschaftler und Professor für Kunst- und Kulturvermittlung an der Hochschule Niederrhein. Zuvor war er als wissenschaftlicher Referent in der Geschäftsstelle des Rats für Kulturelle Bildung mit den Publikationen und Studien des Expertengremiums befasst. Von 2008 bis 2013 verantwortete er als freiberuflicher Projektmanager des Kulturamtes Düsseldorf kulturelle Bildungsangebote für Kindertagesstätten, Grund- und Hauptschulen sowie Jugendfreizeiteinrichtungen. In der Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern, Kulturinstituten und dem Jugend- und Schulamt entwickelte er in Düsseldorf für Kinder und Jugendliche sowohl rezeptive als auch praktische Angebote der künstlerischen Erprobung. Bei der Erstellung bildungspolitischer Konzepte wirkte er als Mitglied in städtischen Lenkungskreisen mit. Von 1996 bis 2003 studierte Frank Jebe an der Kunstakademie Düsseldorf. 2009 bis 2012 studierte er Erziehungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen.

Veröffentlichungen u.a.:

Jebe, F. (2019): Kulturelle Bildung durch Künstlerinnen und Künstler in der Schule. Eine empirische Untersuchung zu den künstlerischen Angeboten im offenen Ganztagsbereich von Grundschulen. Oberhausen: Athena.

Jebe, F. (2019): Die Smartness, die Schule, die Sinne: Kulturelle Bildung und Digitalisierung. Kulturelle Bildung online (letzter Zugriff am 15.7.2021).

Jebe, F. (2007): Bericht zur Evaluation der künstlerischen Angebote im Rahmen der Offenen Ganztagsschule im Primarbereich in Düsseldorf. Düsseldorf. (letzter Zugriff am 15.7.2021).

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