Kulturelle Bildung breit verstehen – gerade im Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Die Bildungsforscherinnen Cathleen Grunert und Birgit Reißig untersuchen die kulturelle Bildung in ländlichen Räumen. Regelmäßige altersgerechte Angebote stärken die gesellschaftliche Teilhabe von Kindern und Jugendlichen.
Online-Redaktion: Frau Professorin Grunert, Unterschiede der Schulentwicklung zwischen Stadt und Land zu reduzieren, ist ein Kernthema der Debatte um Chancengleichheit, spätestens seit den Landschulreformen der 1950er Jahre. Ist das gelungen?
Prof. Dr. Cathleen Grunert: Das ist eine sehr große Frage, die sich natürlich nicht pauschal beantworten lässt. Weder gibt es die Landschule oder die Stadtschule noch den ländlichen oder den städtischen Raum. Die Differenzierung von Landschule und städtischer Schule ist ein Relikt aus den von Ihnen erwähnten Landschulreformen, die übrigens schon seit dem 18. Jahrhundert als solche aufgerufen wurden. In den 1950er Jahren ging es ja vor allem in Westdeutschland um eine Kritik an der Volksschule und ihren kurzen Pflichtschulzeiten. In der DDR wurde relativ schnell ein Einheitsschulsystem eingeführt, das sukzessive in allen Regionen auf einen 10-jährigen Regelschulbesuch ausgeweitet wurde. Nichtsdestotrotz ging es immer auch um Fragen der Massenbeschulung vs. kleineren Einrichtungen und die Frage, was damit an fachlicher Vielfalt möglich ist.
Das sind sicher auch heute noch zentrale Problematiken, insbesondere mit Blick auf strukturschwache ländliche Gebiete. Hier sehen wir vor allem auch in Ostdeutschland, aber durchaus auch in einigen westdeutschen Regionen nicht nur, dass Schulen, die höhere Bildungsabschlüsse ermöglichen, eher in den städtischen Zentren angesiedelt sind, was für Schülerinnen und Schüler aus weiter entfernten Gebieten eine höhere Hürde des Übergangs bedeutet, und dass etwa an Schulen mit wenigen Schülerinnen und Schülern auch deutlich weniger fachliche Angebote, etwa mit Blick auf Fremdsprachen oder auch im außerunterrichtlichen Bereich vorgehalten werden können. Begleitet ist dies alles von einem eklatanten Lehrkräftemangel, der vor allem die ländlichen Regionen und darin in erster Linie die strukturschwachen ländlichen Regionen betrifft.
Online-Redaktion: In Ihren Veröffentlichungen schreiben Sie von sozialen und räumlichen Ungleichheiten, ja von „ländlich-peripheren Regionen“. Was meint das in Bezug auf die kulturelle Bildung?
Grunert: Die regionalen Bedingungsstrukturen, wie das Angebot an Schulen, an Jugendfreizeiteinrichtungen, an kulturellen Angeboten oder ganz grundsätzlich an Infrastruktur, wie ÖPNV oder Internetausbau, haben Auswirkungen auf Möglichkeiten der Teilhabe. Wir sehen, dass, wenn es überhaupt Angebote für Jugendliche gibt, diese zum einen aufgrund des Zentrale-Orte-Konzeptes – ähnlich wie die Schulen – eher in den städtischen Zentren, also in den Klein- und Mittelstädten, angesiedelt sind, oder dass sie zum anderen, wenn sie in den kleineren Dörfern existieren, inhaltlich eher schmal ausgerichtet sind, etwa in Form traditioneller Vereine, wie Karnevals-, Schützen- oder Feuerwehrvereine oder auch Sportvereine, in erster Linie Fußballvereine.
Teilhabe von Jugendlichen wird damit zum einen erschwert durch die Abhängigkeit vom ÖPNV oder den Eltern und ihren zeitlichen und finanziellen Ressourcen, insbesondere bei denjenigen, die noch nicht selbst mobil sind. Sie wird aber auch dann problematisch, wenn das Angebot vor Ort sich nicht mit den Interessen der Jugendlichen deckt. Nicht alle haben eine Affinität zur Feuerwehr oder zum Fußballverein. Um andere Interessen umzusetzen, muss ein deutlich höherer zeitlicher oder ökonomischer Aufwand betrieben werden, weil dies wieder von Transportmöglichkeiten und finanziellen Ressourcen der Familien abhängig ist.
Online-Redaktion: Im Forschungsprojekt KUMULUS haben Sie die Zugänge zu kulturell-musischer Bildung in ländlichen Räumen untersucht. Wie sind Sie methodisch vorgegangen?
Grunert: Wir haben zunächst in unseren beiden Untersuchungsregionen in Ostdeutschland zusammen mit unserem Verbundpartner, dem Deutschen Jugendinstitut, über eine Onlinerecherche versucht herauszufinden, was es alles an kulturellen Angeboten gibt. Dabei haben wir einen sehr breiten Begriff von kultureller Bildung zugrunde gelegt, bei dem es nicht nur um Hochkultur, sondern auch um Sozio- und Breitenkultur geht. Also nicht nur Theater oder Museen oder Musikschulen sind für uns Möglichkeitsräume für kulturelle Bildungsprozesse, sondern auch die Jugendfreizeiteinrichtung, der Karnevalsverein oder das Musikfestival.
Schon dabei wurde deutlich: je kleiner ein Ort ist und je weiter er von einer Klein- oder Mittelstadt entfernt liegt, um so seltener und weniger regelmäßig sind die Angebote. Eine Befragung der Träger der Angebote machte dann auch deutlich, dass insbesondere spezialisierte Kulturträger, die ausschließlich im Bereich Kulturelle Bildung aktiv sind, im ländlichen Raum vor einer Vielzahl von Problemen stehen. Zu benennen sind dabei primär die Unsicherheiten hinsichtlich der Finanzierung und insgesamt um das zukünftige Bestehen der Kulturangebote. Daneben wurde aber auch die Suche nach geeignetem Personal oft als Spezifika des ländlichen Raums beschrieben.
Gleichwohl konnten wir beobachten, dass gerade innovative Kulturanbieter, die sich lösungsorientiert mit neuen Methoden auf die besondere Situation im ländlichen Raum einstellen, weniger stark von diesen verschiedenen Herausforderungen betroffen sind. Um Genaueres zu erfahren haben wir zudem Interviews mit Entscheidungsträgerinnen und -trägern im kulturellen Bereich geführt, etwa mit Kulturdezernentinnen oder Bürgermeistern, aber auch mit Jugendarbeiterinnen, Schulleitungen und Verantwortlichen in Vereinen. Zentral waren aber vor allem auch die Perspektiven der Jugendlichen selbst, die wir über eine Fragebogenerhebung, aber auch über Interviews erhoben haben.
Online-Redaktion: Frau Professorin Reißig, was wünschen sich Jugendliche?
Prof. Dr. Birgit Reißig: In der von uns durchgeführten schriftlichen Befragung hatten die Jugendlichen die Möglichkeit, uns in nicht vorgegebenen Antwortkategorien ihre Wünsche mitzuteilen. Hier zeigen sich klare Bedarfe: Sie wünschen sich eine bessere Infrastruktur, um leichter mobil sein zu können. Es sollte mehr Auswahl an unterschiedlichen Freizeitmöglichkeiten geben. Dabei geht es ihnen nicht allein um vorstrukturierte Angebote, sondern auch um offene Treffpunkte. Gerade dieser Punkt war ihnen sehr wichtig. Ein schon länger virulentes Thema bleibt der Wunsch nach einem besseren Internet.
Online-Redaktion: Wie kann in ländlichen Räumen eine Vielfalt von Trägern der kulturellen Bildung aktiv werden?
Reißig: Ein entscheidender Aspekt für Träger ist eine gute Erreichbarkeit der Jugendlichen, für die sie Angebote unterbreiten. Neben den inhaltlichen Bedarfen nach Vielfalt und altersgerechten Angeboten, geht es vor allem darum, von vornherein passende Mobilitätslösungen mitzudenken. Denn die Frage, wie die jungen Leute zu den Angeboten und dann auch wieder nach Hause kommen, ist essentiell. Hierauf müssen sich auch die Träger einstellen und zum Beispiel Angebote an den ÖPNV anpassen oder mobile Angebote, die multilokal unterwegs sind, entwickeln oder Fahrdienste organisieren. Zudem geht es für Träger darum, Jugendliche überhaupt als Zielgruppen kultureller Bildung stärker in den Blick nehmen und auch regelmäßige und jugendgerechte Angebote zu schaffen. Dabei geht es aber auch um differenzierte Angebote nach Altersgruppen, Angebote für 12- und 13-jährige sind für 16- und 17-jähige meist nicht attraktiv.
Grunert: Hier kann ich aus unseren Interviews mit den Jugendlichen ergänzen, dass Jugendliche auch selbst zu Angeboten kultureller Bildung beitragen beziehungsweise diese mit initiieren. Das sehen wir vor allem bei denjenigen Jugendlichen, die sich stark für das Musikmachen, das Tanzen oder Ähnliches interessieren und darüber selbst aktiv werden und Angebote für andere Jugendliche organisieren und initiieren. Sie geraten dabei aber auch immer an Grenzen, wenn es um die Frage geht, wie sie dafür beispielsweise Räumlichkeiten finden. Hier müssten sich die Kommunen, aber auch die Schulen viel stärker dafür sensibilisieren, was die Jugendlichen selbst an Kompetenzen, Interessen und Motivationen mitbringen. Denn Jugendliche werden darüber selbst zu Raumakteuren, die das Angebot in ländlichen Räumen enorm bereichern können.
Online-Redaktion: In der Ganztagsschuldebatte wird argumentiert, dass in Schulen alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von der sozialen Herkunft erreicht werden können. Ist das für die Träger der kulturellen Bildung ein Thema?
Reißig: Kein Angebot erreicht alle und ist für jede Zielgruppe zugeschnitten. Aber auch kulturelle Bildung erreicht gerade über Schule viele soziale Schichten und Jugendliche mit verschiedensten Hintergründen. Gleichwohl zeigt sich, dass verschiedene Formen kultureller Bildung in unterschiedlichen sozialen Schichten jeweils eine eigene Popularität aufweisen. Fassen wir unter kulturelle Bildung nur die Hochkultur, stimmt die Annahme schon, dass etwa der Besuch von Musikschulen und das Lernen von Instrumenten deutlich öfter bei Jugendlichen aus vermeintlich besserem Elternhaus zu finden ist.
Verwenden wir aber einen weiten Kulturbegriff, der auch eine sogenannte Populärkultur miteinschließt, sieht die Sache schon anders aus. Singen, fotografieren, tanzen, Filme drehen – viele dieser kulturellen Aktivitäten waren recht unabhängig vom sozioökonomischen Status des Elternhauses in unserer Untersuchung zu finden. Aktivitäten wie das Produzieren elektronischer Musik, malen, basteln oder auch Graffiti waren zudem Formen von Kultur, die bei Jugendlichen aus niedrigem soziökonomischen Status besonders populär sind – auch wenn sie in dieser Gruppe oft weniger regelmäßig praktiziert werden.
Online-Redaktion: Was erwarten Träger, die mit Schulen kooperieren möchten?
Reißig: Schulen sind wichtige Möglichkeitsräume und Akteure der kulturellen Bildung in ländlichen Regionen. Etwa die Hälfte der befragten Kulturanbieter sehen sich mit den Schulen gut vernetzt – aber viele eben auch nicht. Wir sehen, dass in ländlichen Regionen insbesondere die Ganztagsangebote der Schulen eine der wenigen Möglichkeiten darstellen, wo Jugendliche regelmäßige und altersgerechte Angebote der kulturellen Bildung erfahren – als Ganztagsangebote mit kultureller Ausrichtung. Für Träger ist es die Möglichkeit, ihr – möglichst breit gefächertes und zielgruppenspezifisches – Angebot über die Schulen zu vermitteln. Wichtig ist hierbei natürlich eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den jeweiligen Schulen, gute und stabile Kooperationen. Dann können Angebote der kulturellen Bildung im non-formalen Bereich in einem guten Zusammenspiel mit dem formalen Lernen stehen.
Online-Redaktion: Sie haben Ihre Untersuchung in ostdeutschen Regionen durchgeführt. Gibt es Unterschiede zu anderen ländlichen Regionen?
Reißig: Andere Projekte in der Förderlinie haben auch andere ländliche Regionen unter die Lupe genommen, etwa Bibliotheken in Bayern oder Amateurtheater in Südniedersachsen. Jede Region hat eine spezifische Ausgangslage und eigene Herausforderungen. Gleichwohl scheinen die oft ökonomisch besser gestellten ländlichen Regionen auch die besseren Ausgangsbedingungen zu haben. Spezifika des Ostens bleiben ein starker Wegzug der jungen Generation und eine damit einhergehende Überalterung der Bevölkerung. Zudem ist die Zivilgesellschaft nicht so umfassend vorhanden. Die ökonomische Lage ist allgemein schlechter. Das zeigt sich sowohl auf der individuellen Ebene als auch im Umfang öffentlicher Mittel. Umso wichtiger erscheint es, dass die Strukturen und Angebote im Rahmen der kulturellen Bildung zumindest erhalten bleiben und sich weitere Initiativen auf den Weg in und durch den ländlichen Raum machen.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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