"Knapp bemessene Zeit behindert Partizipation" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Prof. Dr. Hans Brügelmann von der Universität Siegen forscht zu den Themen Demokratie und Partizipation an Schulen. Derzeit startet sein neues Forschungsprojekt "Partizipation an Ganztagsgrundschulen". Im Interview äußert sich der Erziehungswissenschaftler zur Forschungslage und den bisher gewonnenen Erkenntnissen in Sachen Mitbestimmung von Schülerinnen und Schülern in Schulen.

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Prof. Dr. Hans Brügelmann

Online-Redaktion: Prof. Brügelmann, wie schätzen Sie die Forschungslage in Deutschland zum Thema "Partizipation an Schulen und an Ganztagsschulen" ein?

Hans Brügelmann: In den vergangenen zehn Jahren - seit der TIMS-Studie und dann verstärkt durch die PISA-Studie - ist der Leistungsaspekt stärker in den Vordergrund des öffentlichen Interesses getreten. Die Frage, welche sozialen und politischen Kompetenzen Schülerinnen und Schüler in der Schule erwerben, hat dagegen aus meiner Sicht auch bei den Forscherinnen und Forschern weniger Aufmerksamkeit gefunden - trotz der Civic Education Study der IEA (International Association for the Evaluation of Educational Achievement), die ja auch als internationale Vergleichsstudie gelaufen ist.

Hinzu kommt, dass man solche Kompetenzen eben nicht einfach mit Fragebögen oder durch Tests erfassen kann. Man müsste intensive Beobachtungsstudien durchführen, die aufwendig und kontextbezogen wären und Verallgemeinerungen nur schwerlich zuließen.

Online-Redaktion: Lassen sich trotzdem Aussagen zur Rolle der Partizipation in der Schule machen?

Brügelmann: Zu der Frage, wie verbreitet Möglichkeiten für Schülerinnen und Schüler sind, in Schulen mitzubestimmen, gibt es eine Reihe von Erhebungen sowohl aus Schülerperspektive als auch aus Lehrersicht. Zu letzterem hat auch unsere Arbeitsgruppe geforscht, indem wir mehrfach Lehrerinnen und Lehrer zu ihren eigenen Ansprüchen in verschiedenen Dimensionen der Öffnung des Unterrichts und zur Umsetzung dieser Ansprüche befragt haben. Daraus lässt sich folgendes ableiten: Auf der Anspruchsebene erklären Lehrerinnen und Lehrer, dass ihnen die Mitbestimmung der Schülerinnen und Schüler wichtig sei - vor allem im sozialen, weniger im inhaltlichen Bereich. Bezogen auf die Umsetzung wird schon deutlich, dass die eigenen Ansprüche im Alltag bei weitem nicht realisiert werden. Befragt man schließlich externe Beobachter wie Lehramtsanwärter, schätzen diese die Umsetzung von Partizipationselementen noch einmal geringer ein.

Online-Redaktion: Das hört sich ernüchternd an.

Brügelmann: .ist aber wohl sehr realistisch, denn das traditionelle Bild von Schule ist eben doch das einer Lehranstalt und nicht eines Lern- und Lebensraums, in dem alle Beteiligten über Regeln, aber auch konkrete individuelle Unterrichtsvorhaben mitbestimmen.

Online-Redaktion: Ist die Partizipation ein Bestandteil der Lehrerausbildung?

Brügelmann: Das Lehramtsstudium ist nach Fächern strukturiert - im Gymnasialbereich noch stärker als im Grund- und Hauptschulbereich. Selbst im pädagogisch-psychologischen Bereich spielen Fragen nach den Methoden der Wissensvermittlung eine größere Rolle als Fragen des Zusammenlebens und der demokratischen Entwicklung. Was die Schulen an Wissen, Können und Einstellungen für die zukünftige Rolle der Schülerinnen und Schüler als Bürger in der Gesellschaft vermitteln, tritt hinter der Vermittlung von fachlichem Wissen und Können, die wir in den Lehrplänen verankert sehen, eher zurück.

Eine weitere Frage, die aus meiner Sicht zu stellen wäre: Werden die Schülerinnen und Schüler denn schon jetzt als Bürgerinnen und Bürger in der Schule respektiert? Es gibt viele, die fordern, dass die Schule auch auf das Leben in einer demokratischen Gesellschaft vorbereiten soll. Aber es gibt wenige, die der Überzeugung sind, dass die Schule ein Ort des Zusammenlebens ist, der selbst nach demokratischen Prinzipien gestaltet sein müsste. Trotz der UN-Kinderrechtskonvention, die auch von Deutschland ratifiziert worden ist und im Grunde diese Anforderungen für alle öffentlichen Bereiche als maßgeblich bestimmt, spielt das in der Lehrerausbildung eine geringe Rolle.

Online-Redaktion: Könnte die geringe Bewegung auf diesem Feld auch daher rühren, dass Lehrerinnen und Lehrer die Aufgabe der Wissensvermittlung durch die Schule in den Vordergrund stellen?

Brügelmann: Bei den Lehrerinnen und Lehrern sind die Beweggründe sehr unterschiedlich. Innerhalb der knapp bemessenen Zeit fühlen sich viele dem starken Druck ausgesetzt, alles zu bewältigen, was an fachlichen Anforderungen gestellt wird - was zum Beispiel für die Einführung von Ganztagsschulen spricht. Aber man kommt nicht umhin, auch das in Deutschland immer noch vorherrschende hierarchische Selbstverständnis in Rechnung zu stellen. Vielen Lehrerinnen und Lehrern liegt es fern, dass sie gleichberechtigt mit den Schülerinnen und Schülern über die Inhalte des Unterrichts verhandeln, statt sie einfach vorzugeben - zumal sie sich selbst ja auch noch in einer Hierarchie wahrnehmen.

Online-Redaktion: Liegt es dann am Engagement Einzelner, wenn partizipative Elemente eingeführt werden?

Brügelmann: Eine Idee wie die Partizipation müsste eigentlich die ganze Schule durchdringen und daher schon einen Konsens im Kollegium finden. Anders als beim Fachunterricht werden hier Grenzen über den persönlichen Verantwortungsbereich der Lehrerin oder des Lehrers überschritten. Es gibt pädagogische Traditionen wie die Freinet-Pädagogik oder andere reformpädagogische Ansätze, die sich zum Beispiel im Anschluss an John Dewey und Alexander Neill, den Gründer von "Summerhill", entwickelt haben und die eine Beteiligungskultur stützen. Der Verbund von Reformschulen "Blick über den Zaun" fühlt sich zum Beispiel der Idee der Demokratisierung der Schule verpflichtet, und diese Schulen - bundesweit und alle Schulformen einschließend - erklären das zu einem ihrer Standards. International sind in den letzten Jahren die Sudbury-Schulen hervorgetreten, die beispielsweise gerade beim ersten europäischen Kongress der demokratischen Schulen Anfang August in Leipzig eine wichtige Rolle spielen werden.

Online-Redaktion: Gibt es Studien, welche die Einstellung der Eltern zu Partizipation beleuchten?

Brügelmann: Es gibt viele Befragungen, in denen Eltern gebeten wurden mitzuteilen, was ihnen an der Schule wichtig ist. Man muss natürlich bei der Einschätzung vorsichtig sein: Manche Eltern finden Schule als Lernort des sozialen Zusammenlebens wichtig. Aber Eltern fragen sich auch, wie die Aussichten auf dem Lehrstellenmarkt oder auf ein Studium sind, und schauen darauf, dass ihr Kind in der Schule fachliche Basiskenntnisse erwirbt.

Online-Redaktion: In den Schulgesetzen wird ausdrücklich die Bildung und Erziehung der Schülerinnen und Schüler zu mündigen, selbstbewussten Bürgern als Aufgabe der Schule benannt. Mitbestimmung in der Schule könnte ja auch als ein Weg dazu gesehen werden.

Brügelmann: Untersuchungen zeigen, dass sich Erfahrungen in der Schule auf politisches Engagement außerhalb auswirken. Aber es ist forschungsmethodisch schwer, Wirkungen im Erwachsenalter zu erheben. Das würde Längsschnittstudien von 20 Jahren erfordern. Es gibt zwar immer wieder punktuelle Versuche, so etwas herauszufinden. Aber man merkt dann schnell, dass es ganz viele intervenierende Variablen gibt und man Verhalten Erwachsener nicht einfach auf bestimmte Schulerfahrungen zurückführen kann.

Online-Redaktion: Was veranlasst die Schulen, die auf Ihrer Tagung "Demokratische Grundschule" vom 19. bis 21. September 2007 in Siegen vorgestellt wurden, partizipative Elemente weit über projektbezogene Anlässe hinaus zu verankern?

Brügelmann: Das hängt mit dem Menschenbild der Beteiligten zusammen und ist insofern auch eine Frage des Engagements von Personen. Manche Pädagoginnen und Pädagogen legen besonderen Wert auf die individuelle Ebene und versuchen vor allem, das Kind in seiner Persönlichkeit zu stärken. Bei anderen steht auch die Schule als öffentlicher Lernort der Kinder im Vordergrund, an dem diese wichtige Grundfähigkeiten für ihr späteres Verhalten und für ihre Teilnahme in der Gesellschaft erwerben. Dass ich als Lehrerin und Lehrer mehr erreichen möchte, als die Kinder nur fachlich lernen zu lassen, um später im Beruf erfolgreich zu sein, ist auch Ausdruck persönlichen politischen Engagements.

Online-Redaktion: Welche partizipativen Elemente haben die Grundschulen eingeführt, die an Ihrer Tagung teilgenommen haben?

Brügelmann: Das fängt auf der sozialen Ebene mit einem Klassenrat an, der durch ein Schulparlament ergänzt werden kann. Hier verhandelt die gesamte Schule Dinge, die das Zusammenleben betreffen. Das ist der Strang, den ich als "Teilhabe an den sozialen Willenbildungsprozessen" bezeichnen würde.

Daneben gibt es aber auch auf den Unterricht bezogene Aktivitäten: Lehrerinnen und Lehrer gewähren den Schülerinnen und Schülern mehr Freiräume zu bestimmen, woran sie arbeiten und wie sie das bearbeiten, was ihnen wichtig ist. Beispielsweise hat Falko Peschel, ein Lehrer, der länger mit uns zusammengearbeitet hat, sein Klassenzimmer so organisiert, dass es als Lernumgebung mit viel Material ausgestattet ist. Morgens und mittags setzt er sich mit den Kindern in den Kreis. Alle erklären morgens, was sie sich für den Tag vornehmen, und berichten mittags, was sie geschafft haben. Dazwischen arbeiten die Schülerinnen und Schüler selbstständig. Der Lehrer steht als Lernberater zur Verfügung, aber die Kinder organisieren ihre Arbeit selbst.

Der Motor ist das Bewusstsein, dass man immer wieder in der Gruppe Rechenschaft über sein Tun ablegen muss, aber auch durch diese Gruppe Anregungen erhält. Dadurch setzt man sich mit Dingen auseinander, die einem selbst vielleicht nicht eingefallen wären. Es gibt einen sozialen Rahmen, innerhalb dessen die Individuen ein hohes Maß an Selbstbestimmung haben. Diese Selbstbestimmung des Lernens ist zu unterscheiden von der zuerst genannten Mitbestimmung der Regeln des sozialen Zusammenlebens.

Online-Redaktion: Sie haben gemeinsam mit Dr. Thomas Coelen eine Studie zur "Partizipation in Ganztagsgrundschulen" begonnen. Wie ist diese angelegt?

Brügelmann: Unsere Mitarbeiterin Anna Lena Wagener wird über ein Jahr lang etwa zehn Grundschulen in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz besuchen und Befragungen mit verschiedenen Gruppen durchführen. Es geht also um die Beziehung zwischen unterschiedlichen Perspektiven, die wir einerseits über standardisierte Fragebögen, andererseits über qualitative Interviews zu erfassen versuchen. Fragen sind zum Beispiel, welche Mitbestimmungsmöglichkeiten den Beteiligten wichtig sind und in welchem Maße sie diese auch als realisiert erleben. Zusätzlich wird die verantwortliche Mitarbeiterin für ihre Dissertation Beobachtungen in ausgewählten Schulen durchführen. Uns interessieren die Bedingungen, die zur Realisierung der Mitbestimmung führen, und wie diese im Vor- und im Nachmittagsbereich verwirklicht sind. Ganztagsschulen bestehen leider häufig aus zwei nebeneinander existierenden Welten. Es gibt aber auch Ganztagsschulen, an denen sich ein ganzer Tag in neuer Rhythmisierung entwickelt.

Wir möchten wissen, ob die Mitbestimmung in den Ganztagsschulen auf den Nachmittag beschränkt bleibt oder da sogar weniger ausgeprägt ist. Zudem: Greifen partizipative Elemente dann am Vormittag, wenn durch mehr Zeit und den Wechsel von Fachunterricht und offenen Angeboten die Möglichkeit, gemeinsam miteinander zu verhandeln, besser realisiert werden konnte, als dies in einem stark strukturierten Vormittag möglich ist?

Online-Redaktion: Wenn Sie unbegrenzt Mittel zur Verfügung hätten, um in diesem Bereich forschen zu können, was würde Sie interessieren?

Brügelmann: Mich interessiert, wie sich ein solcher Prozess entwickelt. Man kann nicht davon ausgehen, dass Partizipation von heute auf morgen umgesetzt oder verordnet werden kann. Das ist ein Entwicklungsprozess, bei dem die Beteiligten lernen, indem sie partizipieren. Wie kann man seine Teilhaberechte wirksam wahrnehmen, ohne andere zu beeinträchtigen? Diesen Prozess müsste man länger beobachten, auch um lernen zu können, wie Schulen mit wenig Erfahrung unterstützt werden können.

Prof. Dr. Hans Brügelmann, Jahrgang 1946, geb. in Berlin, aufgewachsen in Köln und Abitur am dortigen altsprachlichen Friedrich-Wilhelm-Gymnasium. 1966 bis 1968, 1969 bis 1970 Studium der Rechts- und Sozialwissenschaften in Berlin, Bonn und Tübingen (1. jur. Staatsexamen 1970). 1968 bis 1969 Studium am London Institute of Education (Political Education). 1970 bis 1974 Aufbaustudium Erziehungswissenschaft in Konstanz (Grundschuldidaktik, Curriculumtheorie). 1975 Promotion zum Dr. rer. soc. in Konstanz ("Strategien der Curriculumreform in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland"). 1975 bis 1977 wiss. Leiter des Grundschul-Projekts EVI CIEL der Stiftung Volkswagenwerk am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster. 1977 bis 1980 Evaluation der einstufigen Juristenausbildung in Konstanz als wiss. Mitarbeiter des Justizministeriums Baden-Württemberg (zusammen mit Rüdiger Söhnen). 1980 bis 1993 Professor für Anfangsunterricht mit dem Schwerpunkt Erstlesen/ Erstschreiben an der Universität Bremen. Seit 1993 Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität- Gesamthochschule Siegen. 1995 Gründung und Leitung des Forschungs- und Entwicklungsprojekts OASE ("Offene Arbeits- und Sozialformen entwickeln"), ab 1996 mit der "ElternSchule an der Uni" und ab 1997 mit der "Werkstatt für Kinder" an der Universität-Gesamthochschule Siegen (mit Erika Brinkmann, Sandra Langer, Britta Müermann und Falko Peschel).

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