Kidsmart Goes OGS: Digitalität als Chance : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Prof. Gudrun Marci-Boehncke hat den Einsatz digitaler Medien in Kitas und Ganztagsgrundschulen begleitet. Im Interview erläutert sie, warum die Professionalisierung des pädagogischen Personals wichtig ist.
Online-Redaktion: Frau Prof. Marci-Boehncke, Sie beschäftigen sich als Literaturwissenschaftlerin mit digitalen Medien. Wie das?
Gudrun Marci-Boehncke: Für mich ist Digitalität nicht nur eine Technik, sondern wesentlich eine Sprache, wie die Mathematik oder die Kunst. Zudem ist sie eine Sprache, in der sich die anderen Sprachen realisieren. Das Bewusstsein für Digitalität als Sprache verändert den Blick. Dann ist das sogenannte Coding, also das spielerisches Programmieren von Kindern im Kindergarten oder in der Grundschule nicht einfach Lego-Bauen mit Tablets, sondern eine Hinführung zu einer neuen Form der Weltwahrnehmung und zu neuen Ausdrucksmöglichkeiten von Welt.
Online-Redaktion: Was ist das Ziel ihrer Studie „Kidsmart“ gewesen?
Marci-Boehncke: Unsere Forschungsstelle Jugend-Medien-Bildung an der TU Dortmund hat 2011 ein Interventionsprojekt an 21 Dortmunder Kitas gestartet, mit rund 400 Kindern. Wir wollten Medienkompetenzen und didaktische Umsetzungshilfen für das Personal in Kitas, also Erzieherinnen und Erzieher anbieten. Denn Studien hatten gezeigt, dass das Kita-Personal noch ungenügend auf mediengestützte Bildungsarbeit vorbereitet war.
Umgekehrt gab es an Grundschulen eine pädagogische Perspektive vieler Lehrkräfte, die wir „bewahrpädagogisch“ nennen. Das heißt, dass die digitalen Medien außen vor gelassen werden, weil die Schule vor allem als Schonraum verstanden wird und Medien eher in ihrer Gefährdung gesehen werden. Schülerinnen und Schüler nutzen aber digitale Medien zu Hause bereits fleißig. Wir wollten unseren Studierenden für das Grundschullehramt einen möglichst realistischen Blick auf die Lebenswelten der Kinder ermöglichen.
So haben wir rund 20 Grundschulstudierende in Lehrveranstaltungen medientheoretisch und -praktisch, aber auch forschungsmethodisch ausgebildet. In einem Semester sind die Studierenden dann in den Kitas eingesetzt worden, um zusammen mit den Erzieherinnen und Erziehern gemeinsame Projekte zu entwickeln. Das waren Projekte, die aus den Erfordernissen und Planungen der Kitas hervorgingen, dann aber digital gedacht wurden. Die Kinder wurden also nicht an digitale Geräte gebunden, sondern die Projekte fanden so statt, wie die Kita sie konzipiert hatte, nur jetzt auch unter Verwendung digitaler Ressourcen.
Online-Redaktion: Wie kann so etwas aussehen?
Marci-Boehncke: Ein Beispiel: Die Kinder sind für das Thema „Wald‟ in den Wald gegangen. Dort haben sie zusätzlich zu ihren gewohnten Aktivitäten alles digital fotografiert. Anschließend haben sie in der Kita digitale Collagen erstellt. Und: Diese Collagen konnten sie auf einer Disc gespeichert mit nach Hause nehmen.
Online-Redaktion: Wie waren die Eltern der Kinder in Ihr Projekt eingebunden?
Marci-Boehncke: Wir haben die Eltern mit Fragebögen in sieben Sprachen befragt und damit wirklich alle Eltern, auch die mit nicht deutscher Herkunftssprache, erreicht. Die Eltern haben uns Auskunft zu ihrer Mediennutzung und zum Medienverhalten ihrer Kinder gegeben. Unsere Studierenden haben, nebenbei gesagt, unter anderem festgestellt, dass von den Vierjährigen ein Drittel unbegleitet im Internet surfte. Ein Ergebnis war auch, dass gerade Familien mit nicht deutscher Herkunftssprache die Digitalität als Chance für ihre Kinder einschätzten.
Online-Redaktion: Und die Erzieherinnen und Erzieher?
Marci-Boehncke: Die Erzieherinnen und Erzieher wurden zum einen zu ihrem eigenen Medienhabitus und zu ihren Mediengewohnheiten befragt. Zum anderen wurden sie gefragt, wie sie das Medienverhalten jedes Kind in ihrer Gruppe wahrnehmen. Es gab zwei Befragungen, jeweils am Anfang und am Ende des zweijährigen Projekts. Zusätzlich haben die Studierenden einzelne Kinder in Fallstudien beobachtet. Die Fallstudien haben sie in ihren Qualifikationsarbeiten ausgewertet. Die Kitas haben wir mit pädagogischem Material „Medienkompetenz für ErzieherInnen‟ unterstützt. Dies geschah alles in enger Absprache über regelmäßige Treffen mit dem städtischen Kita-Träger und mit den Vertreterinnen und Vertretern der Erzieherinnen.
Online-Redaktion: Das Projekt fand dann seine Fortsetzung: „Kidsmart Goes OGS‟...
Marci-Boehncke: Ja, wir fanden, dass es schade gewesen wäre, wenn die Interventionen mit dem Wechsel der Kinder zur Grundschule verpufft wären. Uns interessierte also, wie sich die erworbenen Kompetenzen der Kinder nach dem Übergang auswirken würden. In der weiteren Begleitung der Kinder sahen wir auch eine Chance, die Zusammenarbeit zwischen Kitas und Ganztagsgrundschulen zu stärken und damit den Übergang zu erleichtern. Durch die Verlängerung des Projekts konnten wir über ein Jahr lang rund 50 Schülerinnen und Schüler in den Offenen Ganztagsschulen weiter begleiten.
Analog zur ersten Phase haben wir die Eltern und die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der OGS befragt. Unsere Studie in der OGS ergab, dass je schlechter die außerschulischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter qualifiziert und mit je weniger Stunden sie eingesetzt sind, aber auch je konservativer und „bewahrpädagogischer“ ihr Habitus ist, desto weniger sind sie bereit, zusätzliche Zeitressourcen zu investieren, um sich fortzubilden oder sich in neue Medienpraktiken einzuarbeiten. Dazu sind übrigens zwei Dissertationen entstanden.
Online-Redaktion: Ist die Einstellung zu digitalen Medien eine Generationenfrage?
Marci-Boehncke: Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland und 20 weiteren Ländern erforschen wir derzeit im EU-Projekt DigiLitEY, „The Digital Literacy and Multimodal Practices of Young Children‟, den Sprach- und Schrifterwerb von Kindern im Alter bis zehn Jahren im digitalen Zeitalter. Ein Ergebnis ist, dass es in der Tat in allen Ländern generationelle Unterschiede gibt, was die Motivation betrifft, digitale Medien einzusetzen.
Aber in Deutschland haben wir doch eine besonders ausgeprägte bewahrpädagogische Grundhaltung des Erziehungspersonals gefunden. Andere Studien zeigen, dass deutsche Lehrkräfte die Potenziale digitaler Medien für partizipatives Lernen, für nachhaltiges Lernen oder für individuelle Förderung deutlich geringer einschätzen als ihre Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern und dass sie digitale Medien auch seltener im Unterricht einsetzen.
Online-Redaktion: Was würden Sie als ein zentrales Ergebnis Ihrer Interventionsstudien resümieren?
Marci-Boehncke: Mein Fokus ist es, die Instanzen entlang der sogenannten Bildungskette, also durch alle Bildungsinstitutionen, über eine projektmäßig verzahnte Struktur in ihrer Verantwortung zu begleiten und dabei immer auch die Übergänge und die Bezüge zwischen den Institutionen deutlicher werden zu lassen. Wir haben als ein zentrales Ergebnis unserer Studien feststellen müssen, dass diese Zusammenarbeit noch nicht allzu gut funktioniert. Alle anderen Institutionen der Bildungskette werden mehr oder weniger der Schule untergeordnet und nicht auf Augenhöhe wahrgenommen. Das hat natürlich auch mit der unterschiedlichen Ausbildung und Bezahlung zu tun.
Es braucht ein bildungspolitisches Bewusstsein für die qualitativen Anforderungen des Offenen Ganztags. Der darf eben keine Kinderverwahrung mit Hausaufgabenbetreuung sein, sondern er muss eine inhaltlich-qualifizierte Förderung gerade für Kinder mit Bildungsbenachteiligung bieten. Auch das Schulsystem, das zeigen alle Studien, leistet dies bisher noch nicht. Der OGS bietet sich hier eine Riesenchance, und sie hat hier auch eine Riesenverantwortung. Der kann sie nur gerecht werden, wenn dort gut qualifiziertes Personal eingesetzt wird. Dieses auch medienpädagogisch qualifizierte Personal muss ein Mitspracherecht in der Schule haben, auf Augenhöhe arbeiten.
Online-Redaktion: Was verändern digitale Medien in Schulen?
Marci-Boehncke: Wir haben meiner Ansicht nach in Deutschland noch zu wenig realisiert, dass die Digitalisierung eine wirkliche Disruption erzeugt hat. Wir können nicht weiter handeln, als wäre unsere Welt noch analog. Ein bekannter kalifornischer Medienwissenschaftler, Henry Jenkins, der sich ausführlich mit Medienkulturen als Partizipationskulturen im 21. Jahrhundert beschäftigt, meint sogar: „Die Schulen bilden aus für eine bereits abgelaufene Welt.‟
Digitalisierung heißt nicht, dass die Kinder das, was der Lehrer an die Tafel schreibt, nun in den Computer tippen. Auch nicht nur, dass ich Smartboards in die Schulen stelle oder eine Tablet-Klasse einrichte. Es verändern sich Paradigmen des Unterrichts. Lehrerinnen und Lehrer müssen zum Beispiel mehr Aufgaben formulieren, die die interaktiven Möglichkeiten digitaler Medien nutzen. Wenn ich digitale Medien einsetze, kann ich die Schülerinnen und Schüler für die Lebenswelt, die sie umgibt, bilden – mit den Ressourcen, mit den Praktiken, die sie brauchen.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Kooperationen - Eltern und Familien
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