Katholische Jugendverbände und Ganztagsschule – kaum erforscht : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Das Forschungsprojekt "Katholische Jugendverbandsarbeit und Ganztagsschule" (kajuga) untersucht das Wechselverhältnis beider Kooperationspartner. Projektleiterin Prof. Judith Könemann im Interview.

Porträtfoto Judith Könemann
Prof. Judith Könemann © WWU Münster

Prof. Judith Könemann von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Prof. Claudia Gärtner von der Technischen Universität Dortmund untersuchen im Forschungsprojekt kajuga den wechselseitigen Einfluss von kirchlicher Jugendverbandsarbeit und Ganztagsschule am Beispiel des schulischen Engagements zweier katholischer Jugendverbände. Gefördert wird das Projekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Erhebungen beginnen in diesem Schuljahr 2017/2018.

Online-Redaktion: Frau Prof. Könemann, welchen Stellenwert hat religiöse Bildung heute in der Schule?

Judith Könemann: In Deutschland ist die religiöse Bildung und sogar die bekenntnisorientierte religiöse Bildung ein regulärer Bestandteil des öffentlichen Bildungssystems. In jeder Schule gibt es Religionsunterricht, konfessionell getrennt, aber zunehmend auch mit konfessionell-kooperativen Anteilen zwischen den christlichen Konfessionen. Darüber hinaus gibt es zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen seit 2011 einen bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht, daneben wird - je nach Schülerzahlen - auch alevitischer, orthodoxer und jüdischer Religionsunterricht erteilt.

Online-Redaktion: In der katholischen Kirche gibt es ein großes Engagement in Ganztagsschulen und eine hohe Professionalisierung der Zusammenarbeit. Was bewegt die Kirche zu dieser Kooperation?

Könemann: Ich glaube, man folgt hier auch der bildungspolitischen Entwicklung, aber auch die Interessen der Eltern gehen in Richtung Ganztag. Der Grund für die zunächst und teilweise immer noch abwartende Haltung der katholischen Kirche bezüglich der Ganztagsschule ist das Hochhalten des Rechts der Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder. Die Halbtagsschule ermöglicht aus dieser Sichtweise eher ein Zusammensein der Eltern mit ihren Kindern und eine gemeinsame Gestaltung des Familienlebens im Freizeitbereich. Inzwischen werden aber selbst immer mehr kirchliche Schulen auch als Ganztagsschulen organisiert, meistens mit einem Angebot als offene Ganztagsschule. Meines Erachtens macht ein Engagement der Kirchen für die Ganztagsschule, sei es die eigenen Schulen als solche zu organisieren oder aber sich in Ganztagsschulen mit einem Angebot zu engagieren, auch inhaltlichen Sinn

Wolken-Grafik der BDKJ-Kampagne: "Uns schickt der Himmel"
BDKJ-Kampagne: "Uns schickt der Himmel" © BDKJ

Online-Redaktion: Was wäre dieser inhaltliche Sinn?

Könemann: Dass qualitativ hochwertige außerschulische Angebote positive Effekte auf die gesamten Schulleistungen haben, sich aber vor allem ein Effekt in Richtung einer stärkeren Verwirklichung von Bildungsgerechtigkeit zu erwarten ist. Allerdings fehlen uns hier bisher ausreichend empirische Forschungen und Ergebnisse.

Online-Redaktion: Und dazu können auch die kirchlichen Angebote beitragen?

Könemann: Diese Fragestellung geht dann schon in Richtung unseres Forschungsprojektes, auch wenn sie dabei nur eine Frage unter vielen ist. Wir nehmen innerkirchlich natürlich wahr, dass in den katholischen Jugendverbänden durchaus kontrovers diskutiert wird, ob sie sich in Schule engagieren sollen und mit welchen Folgen. Denn die Jugendverbandsarbeit beruht von ihren Prinzipien her sehr stark auf Freiwilligkeit, Partizipation und Selbstorganisation. Diese Prinzipien scheinen dem durchorganisierten System Schule zu widersprechen.

Online-Redaktion: Was leistet die kirchliche Jugendarbeit?

Könemann: Das übergeordnete Gremium für die Jugendverbandsarbeit ist auf Bundesebene der Bund der Deutschen Katholischen Jugend, der BDKJ, in dem die meisten katholischen Jugendverbände organisiert sind, wie zum Beispiel die Pfadfinderschaft und die Katholische Studierende Jugend. Die Struktur gliedert sich bis auf die Ebene der Gemeinden herunter, wo die katholischen Jugendverbände mit ihrer Jugendarbeit, den Jugendgruppen, Zeltlagern und Ferienfreizeiten wichtige pädagogische Arbeit leisten.

Die katholische Kirche hat eine lange Tradition in der Jugendverbandsarbeit und damit auch in der katholischen Jugendarbeit. Neben der familiären Sozialisation sind die Jugendverbände seit vielen Jahrzehnten wichtige Orte, in denen Kinder und Jugendliche einen Teil ihrer Freizeit gestalten können. Dies war ein ganz wichtiges Moment der nichtfamiliären Sozialisation mit Peers und des Hereinwachsens in die Kirche und in das Erwachsenenleben.

Entsprechend der gesellschaftlichen Entwicklung ist das in den letzten Jahren ein bisschen in die Krise geraten. Menschen organisieren sich nicht mehr so gerne verbandlich und bevorzugen lieber offene Formen. Und eine Frage, die sich vermehrt stellt, ist die nach der Erreichbarkeit der Kinder und Jugendlichen, wenn sie zum Beispiel in der Ganztagsschule sind.

Online-Redaktion: Was war der Anlass für das Forschungsprojekt kajuga?

Könemann: Es gibt bisher so gut wie keine Untersuchungen zum Engagement von kirchlichen Verbänden in Ganztagsschulen und damit auch keine dazu, was das auf der organisationssoziologischen Ebene für die Systeme von Jugendarbeit und Schule bedeutet. Wie verändert sich die verbandliche Jugendarbeit, wenn sie sich unter den Bedingungen von Schule stattfindet, wenn sie ein Angebot im Rahmen der Ganztagsschule macht? Welche Wirkung hat das vielleicht auch auf das System Schule?

Konkret geht es dann um Fragen wie: Wir werden die außerschulischen Angebote aufgegriffen und in die Ganztagsschule integriert, existiert eine Verzahnung mit dem (Religions-)Unterricht oder nicht, fließt das Engagement im Ganztagsbereich in die Schulentwicklungspläne ein? Gibt es so etwas wie ein konzeptionelles Nachdenken darüber, wie die unterschiedlichen pädagogischen Ansätze von Jugendarbeit und Schule zusammengedacht werden können? Daneben geht es auch um die Frage, wie sich Schulpastoral, Jugendarbeit und Schule zueinander verhalten. Können diese drei Größen so bleiben, wie sie sind, oder werden sie sich konzeptionell anders aufstellen und anders als gedacht? Das beschreibt im Grunde die Fragestellungen unseres Projektes.

Online-Redaktion: Können Sie einem Laien erklären, was sich hinter dem Begriff Schulpastoral verbirgt?

Könemann: Schulpastoral ist kein Religionsunterricht, sondern eine Form der Seelsorge in Schule. Es geht nicht um unterrichtliche Prozesse und kognitives Lernen, sondern um eine Begleitung von Schülerinnen und Schülern, von Lehrkräften und von Eltern im System Schule. Das können Angebote diakonischer oder liturgischer Formate sein, beispielsweise Gespräche, Gottesdienste, Gebetzeiten oder auch einfach nur Beratungsangebote.

Das Schulpastoral gibt es an freien kirchlichen Schulen, aber auch an vielen öffentlichen Schulen, denen Vereinbarungen mit der Gemeinde oder der Diözese beziehungsweise der Landeskirche zugrunde liegen. Ein Pfarrer, ein Pastoralreferent oder ein Priester wird dann von kirchlicher Seite für eine bestimmte Zeit oder mit einem bestimmten Stundendeputat für diese Aufgabe abgeordnet.

Online-Redaktion: Wie gehen Sie methodisch vor?

Könemann: Wir arbeiten mit einem qualitativ-empirischen Ansatz. Es ist ein exploratives Forschungsprojekt, das heißt, es geht erst einmal darum, das Feld zu erschließen. Wir untersuchen an ausgewählten Schulen, wie vor Ort das Engagement der kirchlichen Verbände in der Schule funktioniert und was es für die Partner bedeutet. Dazu haben wir auf der Diözesanebene mit zwei BDKJ-Verbänden in Osnabrück und Paderborn Kontakt aufgenommen.

Teilnehmende der Sozialaktion „72 Stunden“ der katholischen Jugen
72 Stunden für die gute Sache © BDKJ Münster

Interessanterweise hat Osnabrück eine eigene Koordinierungsstelle Ganztagsschule eingerichtet. Dort geht man mit mehreren Einzelprojekten in die Ganztagsschulen, während in Paderborn die Verbände den gesamten Ganztag gestalten. Wir wollen jeweils vier Ganztagsschulen besuchen und loten nun gemeinsam aus, welche Schulen das sein werden.

Online-Redaktion: Wie werden Sie konkret an den Schulen vorgehen?

Könemann: Wir werden dort Dokumente analysieren und Experteninterviews führen. Unter Experten verstehen wir die für das Konzept Verantwortlichen wie die Schulleitung, die Ganztagskoordinatoren, die Partner der Jugendverbände und die Durchführenden der Angebote. Dazu kommen Gruppeninterviews mit Schülerinnen und Schülern. So erfassen wir die Perspektiven der Teilnehmenden, der Durchführenden und der Verantwortlichen. Zudem werden wir teilnehmende Beobachtungen in einzelnen Angeboten durchführen. Mit einigen Vertretern der Verbände haben wir bereits Interviews geführt, und nach den Herbstferien wird es dann in die Schulen gehen.

Online-Redaktion: Welche Fragen und mögliche Ergebnisse reizen Sie persönlich?

Könemann: Der Reiz des Projekts liegt in der Untersuchung des Zusammenspiels von Formen der unterrichtlichen Bildung und der nicht unterrichtlichen Bildung. Wir möchten wissen, wie an dieser Stelle die formale und nonformale Bildung zusammen funktionieren, ob es wechselseitige Bezüge oder Beeinflussungen gibt. Und inwieweit es ein sinnvolles Zusammenspiel ist, das sich positiv auf die gesamte Bildung auswirkt oder nicht. Was das dann konzeptionell für die einzelnen Felder bedeutet, interessiert uns besonders.

Online-Redaktion: Wenn die ersten Ergebnisse vorliegen, werden wir gern darüber berichten. Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Judith Könemann ist seit Mai 2009 Professorin für Praktische Theologie (Religionspädagogik) an der Katholisch-Theologischen Fakultät der WWU Münster und Mitglied im Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU Münster. Nach dem Studium der katholischen Theologie, der Soziologie und Erziehungswissenschaft in Münster und Tübingen, der Promotion in katholischer Theologie (2002) und Lehraufträgen für Pastoraltheologie und Religionspädagogik sowie für Religionssoziologie war sie u. a. von 2005 bis 2009 Direktorin des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts St. Gallen/Schweiz und Geschäftsführerin der Pastoralplanungskommission der Schweizer Bischofskonferenz. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Grundlegung und Begründung religiöser Bildung, die außerschulische Bildung, Armut und Bildung (Bildungsgerechtigkeit) sowie Schulpastoral und Schulentwicklung.

Veröffentlichungen u. a.

Judith Könemann, Clauß Peter Sajak & Simone Lechner (2017). Einflussfaktoren religiöser Bildung. Eine qualitativ-explorative Studie. Wiesbaden: Springer.

Judith Könemann & Saskia Wendel (Hg.) (2016). Religion, Öffentlichkeit, Moderne. Transdisziplinäre Perspektiven. Bielefeld: transcript.

Judith Könemann (2015). Schulpastoral an öffentlichen Schulen. Ein Beitrag zur zivilgesellschaftlichen Bedeutung kirchlichen Engagements im öffentlichen Bildungsbereich. Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 67 (4), DOI: https://doi.org/10.1515/zpt-2015-0408.

Norbert Mette & Judith Könemann (Hg. (2013). Bildung und Gerechtigkeit. Warum religiöse Bildung politisch sein muss (Bildung und Pastoral, Bd. 2). Ostfildern: Grünewald.

Prof. Dr. Claudia Gärtner ist seit 2011 Professorin für Praktische Theologie an der TU Dortmund. Nach dem Studium der Katholischen Theologie an der Universität Paderborn war sie unter anderem von 1997 bis 2001 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Systematische Theologie und ihre Didaktik sowie der „Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, theologische Ästhetik und Bilddidaktik“ an der Katholisch-Theologische Fakultät der WWU Münster und von 2006 bis 2011 abgeordnete Lehrkraft am Lehrstuhl für Systematische Theologie und ihre Didaktik, Katholisch-Theologische Fakultät der WWU Münster. 2010 habilitierte sie in Religionspädagogik/Didaktik der Systematischen Theologie.

Veröffentlichungen u.a.

Claudia Gärtner (2015). Interreligiöses Lernen mit Bildern. Schwerpunkt Islam. Einfach Religion. Interpretationen. Unterrichtsmodelle. Paderborn: Schöningh.

Claudia Gärtner (2015). Religionsunterricht - ein Auslaufmodell? Begründungen und Grundlagen religiöser Bildung in der Schule, Paderborn: Schöningh.

Rita Burrichter & Claudia Gärtner (2014). Mit Bildern lernen. Eine Bilddidaktik für den Religionsunterricht. München: Kösel.

Rita Burrichter & Josef Epping & Claudia Gärtner (2013). Zukunft. Lehrerkommentar zu sensus Religion. Schulbuch für die gymnasiale Oberstufe. München: Cornelsen

Kategorien: Service - Kurzmeldungen

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