Jürgen Oelkers: "Auf die Qualität achten" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Er ist ein aufmerksamer Beobachter der Bildungslandschaft. Der Erziehungswissenschaftler und Bildungshistoriker Prof. Jürgen Oelkers erläutert, wie sich die Schule durch den Ganztag verändert und warum sie auch künftig nicht überflüssig wird.
Online-Redaktion: Herr Prof. Oelkers, glauben Sie, dass die Ganztagsschule das Schulsystem hinsichtlich der Schulorganisation und des Lehrerberufs verändert?
Jürgen Oelkers: Wenn man sich im europäischen Umfeld umschaut, ist die deutsche Halbtagsschule eine Anomalie. Es gibt im Ausland in der einen oder anderen Form Ganztagsschulen. Dass es in Deutschland so schwierig gewesen ist, Ganztagsschulen zu etablieren, hing vor allem mit der Familienpolitik zusammen. In den fünfziger Jahren wurde der Begriff des „Schlüsselkindes“ geprägt. Das war bedauernd gesagt und danach hielt sich lange die Betrachtungsweise, dass die Kinder am besten in der Familie aufgehoben seien, worüber man lange diskutieren kann. Aber das ist Vergangenheit. Die Arbeitssituation hat sich verändert, und auch die Eltern haben andere Zeit- und Familienvorstellungen. Ich denke daher, dass sich Ganztagsschulen, wenngleich differenziert, durchsetzen werden. Und dies wird auch den Lehrerberuf verändern, weil es an Schulen nicht mehr ausschließlich Lehrerinnen und Lehrer geben wird, sondern auch andere Berufsgruppen.
Online-Redaktion: Hat sich die Lehrerausbildung dazu schon ausreichend gewandelt?
Oelkers: Ganz klar nein. Dass sich die Schule Richtung Ganztagsschule verändert, hat die Lehrerausbildung bisher kaum erreicht. Wenn es entsprechende Angebote gibt, ist das Zufall. Sprich: Das spielt nur an Ausbildungsorten eine Rolle, in denen sich Dozentinnen und Dozenten von sich aus mit dem Thema befassen. Ansonsten wird weiterhin das Berufsfeld Unterricht und Halbtagsschule vermittelt, ohne dass das so genannt wird. Die Lehrkräfte von morgen werden ausgebildet für das Berufsfeld der Vergangenheit.
Online-Redaktion: Sie sind in der Schweiz zu Hause und kennen das schweizerische Schulsystem gut. Ist die Lehrerausbildung dort anders?
Oelkers: Der Auf- und Ausbau von Tagesschulen, wie die Ganztagsschulen hier heißen, ist Sache der Kantone und Gemeinden. In Zürich gibt es viele Tagesschulen, auf dem Lande sind sie aus vielerlei Gründen weniger verbreitet. Aber auch hier geht der Trend Richtung Ganztagsschule, und die Ausbildung reagiert darauf. Diese geschieht in der Regel an Pädagogischen Hochschulen, an denen es für das veränderte Berufsfeld entsprechende Angebote gibt.
Online-Redaktion: Wie sehen Sie die Entwicklung der Ganztagsschule generell in der Schweiz oder auch in Österreich?
Oelkers: Es geht alles in die gleiche Richtung wie in Deutschland: Die realen Familienverhältnisse, die Einbindung beider Elternteile in den Arbeitsmarkt und die begrenzte Belastbarkeit der Großeltern sind überall ein Phänomen, mit graduellen Unterschieden in Ballungsgebieten und in Großstädten.
Online-Redaktion: Die Ganztagsschule wird häufig als Gegenmodell zur "Unterrichtsschule" gesehen. Welche Rolle spielt Unterricht in der Ganztagsschule?
Oelkers: Dieser Gegensatz ist völlig überflüssig. Die sogenannte Unterrichtsschule hatte halt nur einen halben Tag zur Verfügung, in den alles reingepackt werden musste. Aber dieser Halbtag galt auch nicht an allen Schulen: Es gab zum Beispiel immer mal wieder Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag. Dass das jetzt vom Gesetzgeber geregelt wird, ist neu. Jetzt stehen mehr Zeit und erweiterte Möglichkeiten zur Verfügung, Lernangebote abseits des Unterrichts zu machen. Das Problem ist, wie die Schulen diese Zeit nutzen. Wenn die Zeit allein für Hausaufgabenbetreuung gebraucht wird, hat man noch nichts gewonnen.
Online-Redaktion: Vor Ort wird am meisten die Frage der Flexibilität oder Verbindlichkeit der Ganztagsangebote diskutiert. Wie beurteilen Sie das?
Oelkers: Dass es feste, verbindliche Zeiten gibt, ist selbstverständlich, sonst bräuchte man keine Ganztagsschule. In der Regel finden die Eltern geregelte Zeiten auch gut, weil sie dann Blockzeiten haben, auf die sie sich einstellen können. Bei der Wahlfreiheit kommt es sehr darauf an, wie sich das mit dem Unterricht verbindet. Bei völliger Wahlfreiheit gäbe es keinen besonderen qualitativen Effekt. Kurse, die irgendwie nachgefragt werden oder auch nicht – das ist kein Schulbetrieb.
Online-Redaktion: Ein Argument zur Begrenzung der Ganztagsschule ist die Verschulung der Lebenswelten. In einem Vortrag haben sie in dem Zusammenhang von "German Angst" gesprochen. Ist "Verschulung" eine spezifisch deutsche Befürchtung?
Oelkers: Die Debatte um die Verschulung spiegelt eine Schulskepsis wider, die wir woanders gar nicht kennen. In unserem Nachbarland Frankreich gibt es seit jeher nur Ganztagsschulen, die in aller Regel von 8.30 Uhr bis 16 Uhr Unterricht und mehr anbieten. Dort wird niemand diese Diskussionen nachvollziehen können. Diese Schulskepsis wird von Schulkritikern befeuert, denen die ganze Richtung der Schule nicht passt und die sich freuen, wenn Eltern sich gegen die Schule aussprechen. Aber das ist nicht die Mehrheit. Umfrageergebnisse belegen, dass die Eltern beispielsweise mit dem Ganztagsangebot vor Ort mehrheitlich zufrieden sind. Fragt man diese Eltern abstrakt nach der Zufriedenheit mit dem Schulsystem in Deutschland, dann verneinen viele diese. Es kommt immer darauf an, wie konkret man fragt.
Online-Redaktion: Sie weisen in Ihren Vorträgen auf die vielen Publikationen hin, die das Scheitern des deutschen Schulsystems proklamieren. Was steckt dahinter – der gute Verkauf schlechter Nachrichten oder eine Agenda?
Oelkers: Bei den meisten Kritikern steckt die Idee dahinter, dass das Internet die Schule fundamental verändern wird. Im internationalen Vergleich hört man diese Meinung häufiger mal, dass sich mit dem Internet der Unterricht durch mehr Möglichkeiten der Individualisierung verändern wird, dass also die Schülerinnen und Schüler sich ihren Unterricht selbst zusammenstellen können und die Schule als Vermittler überflüssig wird. Dafür spricht in meinen Augen nichts, denn die Schulen haben sich schon immer neue Technologien zu eigen gemacht. Das Internet kann ein Baustein für einen flexiblen und individualisierten Unterricht sein. Dies mit einer Untergangsprognose zu verbinden, sind die üblichen Übertreibungen. Eben „German Angst“.
Online-Redaktion: Sie haben als ein Beispiel für die veränderte Zeitstruktur einer Ganztagsschule das Gymnasium Bäumlihof in Basel genannt. Was macht diese Schule anders?
Oelkers: Das Gymnasium Bäumlihof hat eine sehr gute Schulentwicklung. Die Zeitstruktur betrifft verschiedene Ebenen. Erstens die Tagesstruktur: Sie geben keine Hausaufgaben auf, sondern beginnen den Tag mit Hausaufgaben. Normalerweise werden Hausaufgaben als Nachbereitung des Unterrichts in die Freizeit der Kinder und Jugendlichen verlagert. In Bäumlihof dienen die Hausaufgaben stattdessen der Vorbereitung auf den Tag, was ich als sehr gute Lösung sehe.
Zweitens ist das gesamte Schuljahr in Epochen eingeteilt, in denen in Zeiträumen von fünf bis sechs Wochen verschiedene Fächer intensiver unterrichtet werden. Hier wird nicht sklavisch in einer Woche alles auf die gleiche Art und Weise vermittelt, sondern die Fächer werden in einem größeren thematischen Zusammenhang unterrichtet. Das erleichtert auch das Organisieren von Prüfungen. Wenn immer alles am Semesterende geprüft wird, entsteht ein Zeitstau. Beim Lernen in Epochen kann man die Prüfungen flexibler ansetzen.
Online-Redaktion: Der Ausbau der Ganztagsschulen wird in Deutschland seit 2005 durch viele Studien begleitet. Warum ist solche Forschung wichtig, und kann Bildungsforschung die Schulen verändern?
Oelkers: Ja klar. Die Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen ist ein Paradebeispiel, wie man eine solche Forschung machen muss. Das zentrale Ergebnis der StEG-Studie ist, dass nicht allein die Einführung der Ganztagsschule für eine Veränderung ausreicht, sondern dass die Qualität der Angebote und die Verbindlichkeit der Wahrnehmung durch die Schülerinnen und Schüler entscheidend ist. Das schlägt sich auf alle Befunde nieder. Man weiß, wie die verschiedenen Varianten der Ganztagsschule wirken und dass die Schulen, die sich auf den Weg zur Ganztagsschule machen, auf die Qualität achten müssen – des Unterrichts, des Schullebens und der Zusammenarbeit mit den Eltern. Entscheidend ist also, wie man das Mehr an Zeit nutzt.
Online-Redaktion: Wenn Sie die Ganztagsschulentwicklung insgesamt betrachten: Wo sehen Sie Bahnbrechendes und wo Versäumnisse?
Oelkers: Ein ungelöstes Problem bleibt die Kooperation der verschiedenen Berufe und deren Ausbildung. Von Erzieherinnen und Erziehern bis zu Gymnasiallehrern gibt es keine gezielte Vorbereitung auf den Ganztag. Da muss was passieren. Auch hinsichtlich der unterschiedlichen Besoldungsstrukturen. Dazu kommt, dass das Thema Ganztagsschule von Bundesland zu Bundesland verschieden behandelt wird und die Schulen ressourcenmäßig unterschiedlich ausgestattet sind. Da müsste es, wenn schon keinen bundeseinheitlichen Standard, zumindest bessere Absprachen der Länder untereinander geben. Föderalismus kann ja nicht heißen, dass gemacht wird, was den Ministerien gerade so einfällt und was die Haushaltslage hergibt.
Positiv finde ich, dass diese Entwicklung überhaupt angegangen worden ist und es zunehmend auch gebundene Ganztagsschulen und eine wachsende Elternakzeptanz gibt. Durch den zunehmenden Auf- und Ausbau der Ganztagsschulen werden wir einen europäischen Standard erreichen, den wir schon längst hätten erreichen sollen. Das Ganze ist dabei überhaupt nur möglich geworden, weil der Bund das finanziell getragen hat. In der Zukunft sollte sich der Bund da zumindest finanziell engagieren und Anreize schaffen, so wie in der Lehrerbildung. Ohne die bis zu 500 Millionen Euro, die der Bund in den kommenden Jahren hineingeben wird, würde da auch nicht viel passieren. Das Gleiche gilt für die Hochschullehre.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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