"Jenseits des Unterrichts": Was macht Ganztagsangebote aus? : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Das Forschungsprojekt JenUs der Universität Hildesheim und der Universität Bremen untersucht Bildungschancen und Lernkulturen im Ganztag "jenseits des Unterrichts“. Prof. Gunther Graßhoff im Interview.

Online-Redaktion: Herr Prof. Graßhoff, Sie kooperieren mit der Universität Bremen im Projekt „Jenseits des Unterrichts“ und untersuchen die außerunterrichtlichen Angebote im Ganztag. Zunächst: Wie kam es zu der Kooperation?

Gunther Graßhoff: Ich bin seit drei Jahren auf der Professur für Sozialpädagogik der Universität Hildesheim und mit der Thematik Ganztagsschule und der Perspektive der Kinder- und Jugendhilfe auf die Schule befasst. Die Kolleginnen und Kollegen aus Bremen um Anna Schütz und Till-Sebastian Idel kommen wiederum aus der Schulforschung. Wir kooperieren schon länger an der Schnittstelle zwischen Schule und außerschulischer Bildung. Die räumliche Nähe von Bremen und Hildesheim erleichtert das. Gemeinsam haben wir die Projektidee entwickelt, aus zwei verschiedenen Blickwinkeln die Angebote in der Ganztagsschule, die jenseits des Unterrichts stattfinden und bei denen multiprofessionelle Akteure kooperieren, in den Blick zu nehmen.

Online-Redaktion: Das Projekt hat den Untertitel „Ethnografische Studien zu Lernkulturen an den Rändern von Schule“. Was untersuchen Sie konkret?

Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Kirchheim beim Schach
Seit 2015 wird Schach als Wahlkurs angeboten © Gymnasium Kirchheim

Graßhoff: Unser Hauptziel ist es, grundlegend die Frage zu klären, was passiert, wenn im Kontext von Ganztagsschule auch Angebote der Jugendarbeit und andere Angebote stattfinden. Welche Möglichkeitsräume entstehen für unterschiedliche Schülerinnen und Schüler, wenn zum Beispiel Freizeitangebote von handwerklichen Tätigkeiten über musische Angebote bis zu Sportangeboten angeboten werden? Welche Bildungschancen eröffnet das und welche Lernkulturen entstehen dort?

Es gibt viel programmatisches Wissen darüber, was in der Ganztagsschule passieren soll, ein Stichwort ist die Bildungsgerechtigkeit. Aber wir wissen wenig darüber, welche pädagogischen Möglichkeitsräume ganz konkret vor Ort entstehen. Um das herauszufinden, haben wir beschlossen, uns die Angebote in der Schule anzusehen: was in diesen Settings passiert und welche Möglichkeiten von Partizipation und außerschulischer Bildung dort entstehen können.

Online-Redaktion: Was heißt „ethnographischen Studien“? Was ist das für eine Forschungsmethode, und welche Vorteile bietet sie gegenüber anderen?

Graßhoff: Die ethnographische Studie ist unser forschungsmethodischer Ansatz, eines der Hauptparadigmen, auf die wir uns beziehen. Zunächst mal heißt das, dass wir neugierig darauf sind, wie die Praxis konkret vor Ort aussieht. Wir arbeiten also nicht mit Fragebögen oder ausschließlich Interviews, sondern wollen die Angebote selbst in Augenschein nehmen. Wir beobachten, wie jeweils miteinander gearbeitet wird, und dokumentieren es. Wir erschließen die Dinge sozusagen von unten. Wir sind gerade dabei, in die einzelnen Schulen hineinzugehen und mit Hilfe von Video-Aufnahmen unsere Eindrücke festzuhalten. Das ist der größte Unterschied zu Studien wie der StEG-Studie, die in der Breite repräsentativ und im Längsschnitt angelegt sind und die festhalten wollen, was es überhaupt erst einmal in den Ganztagsschulen gibt.

Online-Redaktion: Sie möchten auch einen Beitrag zur „Theorie der Ganztagsbildung“ leisten. Wie stehen Theorie und Empirie in der Ganztagsschulforschung zueinander?

Schülerinnen und Schüler der Regionale Schule mit Grundschule Gingst beim Paddeln
© Regionale Schule mit Grundschule Gingst

Graßhoff: Grundsätzlich kann man sagen, dass Theorie und Empirie immer miteinander im Kontakt, in der Irritation und im Austausch sind. In der Ganztagsschulforschung ist das wahrscheinlich noch ein bisschen mühsamer, weil wir in vielen Bereichen noch über kein großes empirisches Wissen verfügen. Auf der anderen Seite – und das wird ja auch in der StEG-Studie sehr deutlich – haben wir die Schwierigkeit, dass die Frage, was „die“ Ganztagsschule ist, in unserer föderalen Struktur nur schwer zu beantworten ist. Wenn wir von der Ganztagsschule sprechen, müssen wir uns auch immer erst darüber verständigen, was genau wir darunter verstehen. Insofern ist es gerade in der Ganztagsschulforschung wichtig, dass wir empirisch angeleitete Theoriearbeit leisten.

Online-Redaktion: Sie forschen in vier Ganztagsschulen, die sich für immerhin drei Jahre zur Teilnahme verpflichtet haben. Nach welchen Kriterien haben Sie die Schulen ausgewählt?

Graßhoff: Zu Beginn stand unsere Überlegung, wie sich Ganztagsschulen im Feld voneinander unterscheiden und welche Unterschiede wir in den Blick nehmen wollen. In Bremen haben wir zwei gebundene Ganztagsschulen und in Niedersachsen zwei offene Ganztagsschulen für die Studie gewählt. Nach einer ersten Recherche, welche Schulen in Frage kommen, mussten wir auch klären, welche Schulen ein Interesse an der Mitarbeit haben. Denn wie Sie in Ihrer Frage andeuten, ist das ja ein recht langfristiges Engagement, für das auch die Schulen Lust und Zeit mitbringen müssen. So ein Forschungsvorhaben kann auch bei den Schulen einen Lernprozess und eine eigene Irritation anstoßen. Bis jetzt läuft die Zusammenarbeit mit den Schulen für beide Seiten sehr zufriedenstellend, würde ich sagen.

Online-Redaktion: Wie oft sind Sie in den Schulen?

Graßhoff: In den Erhebungsphasen sind wir an zwei bis drei Tagen pro Woche in der Schule. Dann folgt eine Phase von zwei bis drei Monaten, in der wir komplett aus dem Feld rausgehen, um Distanz zu gewinnen und auszuwerten. Nächstes Schuljahr werden wir dann wieder für vier bis fünf Monate sehr intensiv vor Ort sein.

Online-Redaktion: Gibt es eine Arbeitsteilung zwischen Bremen und Hildesheim?

Schülerband bei der Probe
© Britta Hüning

Graßhoff: Das Design unterscheidet sich derzeit nicht: An beiden Standorten passieren die gleichen Dinge in der Erhebung und in der Auswertung. Am Ende wird es dann eher darum gehen, unsere unterschiedlichen Perspektiven miteinander in den Austausch zu bringen.

Online-Redaktion: Wie hat man es sich vorzustellen, Beobachtungen in Daten umzuwandeln?

Graßhoff: Bei der teilnehmenden Beobachtung werden Feldforschungstagebücher geführt, das ist eine klassische Methode der ethnografischen Forschung. Die Beobachtungen werden quasi „verschriftlicht“, um das Beobachtete zu analysieren und anschließend zu interpretieren. Das ist ein offener Prozess: Die Analysen und Interpretationen dessen, was wir in den Schulen sehen, werden immer wieder geprüft und immer weiter verdichtet. Dieser Prozess mündet in eine Konzeptionalisierung, das heißt eine empirisch und theoretisch stichhaltige Erklärung, was die Ganztagsangebote ausmacht. Im zweiten Hauptteil unserer Studie arbeiten wir mit Video-Material, das ebenfalls verschriftlicht wird. Die Videoprotokolle werten wir sequenzanalytisch aus, das heißt, wir interpretieren Schritt für Schritt, was wir in den Angeboten gesehen haben.

Online-Redaktion: Können Sie schon etwas über das Funktionieren von außerunterrichtlichen Angeboten sagen?

Graßhoff: Meiner Einschätzung nach besteht in den Schulen bereits ein Konsens, dass die Angebote der außerschulischen Akteure für das Gelingen des Ganztags unabdingbar sind. Weiterhin können wir sehen, dass sich die Situation deutlich entspannt hat, was die vermeintliche Konkurrenz der Ganztagsschule zu außerschulischen Angeboten betrifft. Da bestanden ja gerade zu Beginn des Ganztagsschulausbaus bei den Kooperationspartnern viele Ängste. Die unterschiedlichen Akteure konzentrieren sich jetzt sehr stark auf die Ressourcen und die produktiven Elemente dieser Kooperationen.

Zusammenstellung von Fotos des Schulgartens
Schulgarten-AG in der Grund- und Mittelschule Mittenwald (Bayern) © Redaktion www.ganztagsschulen.org

Es ist allerdings auch schon so, dass sich für die außerschulische Bildung immer wieder die Frage stellt, wie sie innerhalb des schulischen Rahmens, der ja vom Pflichtcharakter, von gewissen Ordnungen der Schulorganisation wie Raum- und Zeitordnungen, aber auch Generationsordnungen und außerdem von räumlichen Gegebenheiten bestimmt ist, auch Freizeitangebote und jugendkulturell anschlussfähige Angebote etablieren kann. Das ist auch ein zentrales Ergebnis aus dem aktuellen Kinder- und Jugendbericht: Der Ganztag hat ganz große Schwierigkeiten, die Jugend als Zielgruppe zu adressieren. Je älter die Schülerinnen und Schüler werden, fällt es den Schulen zunehmend schwerer, diese für den Ganztag zu begeistern. Da sehe ich die große Herausforderung für Ganztagsschulen – und so wird es auch im Bericht formuliert –, Jugendliche für das Engagement in den Angeboten zu motivieren.

Online-Redaktion: Ein Ergebnis der StEG-Studie ist die oft noch ungenügende Verbindung von Unterricht und Angeboten. Untersuchen Sie das auch, oder lässt sich der Unterricht von Ihrer Fragestellung ausklammern?

Graßhoff: Nein, das kann man natürlich nicht voneinander trennen und das haben wir auch im Blick. In der Realität und in der Empirie kann man nicht trennen, wo der Unterricht aufhört und wo andere Angebote anfangen. Wir haben zum Beispiel außerunterrichtliche Angebote, die von Lehrerinnen und Lehrern angeboten werden, die den Schülerinnen und Schülern teilweise aus dem Fachunterricht bekannt sind. Da ergibt sich die Frage, wie sich das auf das jeweilige Angebot auswirkt. Gleichzeitig gibt es Angebote, wie eine Schach-AG, in denen fast schon durchdidaktisiert bestimmte Inhalte mit den Schülerinnen und Schülern erarbeitet werden, die einen klaren Unterrichtscharakter haben. Man kann diese Zweiteilung in der Praxis nicht klar voneinander trennen. Es gibt personell und didaktisch fließende Übergänge – und das ist ja auch genau die Herausforderung.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Dr. Gunther Graßhoff ist Erziehungswissenschaftler und seit April 2014 Professor für Sozialpädagogik am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Stiftung Universität Hildesheim. Er war von 2002 bis 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter in verschiedenen Schulforschungsprojekten an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. 2010/2011 vertrat er die Professur für Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, und von 2013 bis 2014 war er Professor für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt außerschulische Bildung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. die Jugendhilfeforschung und die qualitative Bildungsforschung.

Veröffentlichungen u. a.:

Schmidt, F., M. Schulz & G. Graßhoff, G. (Hg.) (2016). Pädagogische Blicke. Weinheim: Beltz Juventa.
Graßhoff, G. (2015). Konkurrenz oder Kooperation? Zur Rolle außerschulischer Bildungsinstitutionen bei der Entwicklung der Ganztagsschule. SchVw Hessen/Rheinland-Pfalz 20 (9), 233-235.
Graßhoff, G., T.-S. Idel & A. Schütz (2015). Jenseits des Unterrichts. Soziale Arbeit an Schulen als Grenzarbeit. Sozialmagazin 40 (11/12), 14–21.
Graßhoff, G. (2011). Familie und Ganztagsschule. Was kann qualitative Forschung leisten? In Soremski, R., M. Urban & A. Lange (Hrsg.), Familie, Peers und Ganztagsschule. Weinheim: Juventa, S. 259-271.

 

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