Investieren Schulen in die eigene Entwicklungsarbeit? : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Wie verändern sich in Ganztagsschulen der Unterricht und die Interaktion zwischen Schülern und Lehrern? Ein Forschungsverbund der der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und der Technischen Universität Berlin versucht dies herauszufinden. Bei dem seit Oktober 2005 bis 2008 laufenden Projekt "Lugs - Lernkultur und Unterrichtsentwicklung in Ganztagsschulen" forschen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Schulen in Berlin, Brandenburg und Rheinland-Pfalz. Im Interview stellen Prof. Dr. Sabine Reh von der TU Berlin und Prof. Dr. Fritz-Ulrich Kolbe von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz das Projekt "Lugs" vor.

Online-Redaktion: Prof. Reh, Ihr Forschungsvorhaben lautet "Lernkultur und Unterrichtsentwicklung in Ganztagsschulen - Rekonstruktionen zur Transformation schulischen Lehrens und Lernens". Was verbirgt sich dahinter?
Reh: Uns geht es darum, Entwicklungen und Veränderungen von Lern- und Unterrichtskultur, von Interaktionsstrukturen und Lernangeboten festzuhalten. Diese Veränderungen - wir gehen davon aus, dass es welche geben wird - wollen wir untersuchen. Das unterscheidet unser Forschungsvorhaben zum Beispiel von der großen StEG-Studie (Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen), die sich auf der Basis größerer Befragungen von Schulleitungen, Lehrkräften, Schülern, Eltern und außerschulischen Kooperationspartnern in 14 Bundesländern mit den Strukturen, Organisationsprinzipien, der Entwicklung und Wirksamkeit ganztägiger schulischer Angebote insgesamt befasst. Wir dagegen beobachten und untersuchen den Weg zu diesen Ergebnissen innerhalb der Schule: Was verändert sich in der unterrichtlichen Interaktion zwischen Lehrern und Schülern, wenn Schule zu einer Ganztagsschule wird?
Online-Redaktion: Um diese Transformation einordnen zu können, benötigt man ja Bezugspunkte. Stehen die Schulen, die Sie untersuchen, noch ganz am Anfang, oder sind sie schon länger Ganztagsschulen?
Reh: Das ist unterschiedlich. Es sind Schulen dabei, die im letzten oder vorletzten Schuljahr als Ganztagsschule begonnen haben. Es gibt aber auch Schulen, die schon länger offene Ganztagsschule gewesen sind und sich nun entschieden haben, gebundene Ganztagsschule zu werden, also einen neuen Entwicklungsschritt gegangen sind. Diese Ganztagsschulen verstehen sich selbst alle als Schulen in einem Entwicklungsprozess.
Online-Redaktion: Welche Schulformen sind dabei?
Reh: Es sind jeweils vier Schulen in Berlin, Brandenburg und Rheinland-Pfalz. In Berlin handelt es sich um vier Grundschulen. In Brandenburg nehmen eine Oberschule, ein Gymnasium, eine Grundschule und eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen teil, ähnlich wie in Rheinland-Pfalz, wo statt der Oberschule eine Regionale Schule untersucht wird.
Online-Redaktion: Wie haben Sie diese Schulen gefunden?
Reh: Sie haben sich auf unser Projekt beworben. In einer Ausschreibung konnten die Schulen lesen, was wir vorhaben, aber auch, wie sie von den Ergebnissen profitieren können. Wir werden unsere Beobachtungen nämlich an die Schulen zurückmelden. Mit diesen können sie dann arbeiten, ohne von uns eine Handlungsvorschrift zu bekommen. Wir sind externe Beobachter für die Schulen, die sie als Informanten nutzen können. Das ermöglicht es ihnen, einen Blick von außen auf ihren Entwicklungsprozess zu werfen.
Online-Redaktion: Als Beobachter von Unterrichtsentwicklung muss man in irgendeiner Form am Unterricht teilnehmen. Wie organisieren Sie das?
Reh: Unser Projekt läuft über drei Jahre. Zunächst verschaffen wir uns ein Bild von den Schulen und ihrer Entwicklungsarbeit im Ganztagsbereich. In den ersten vier Monaten sind wir daher ausschließlich in den Steuerungs- und Koordinationsgruppen vertreten, die sich mit der Entwicklung des Ganztagsangebotes beschäftigen. Wir führen darüber hinaus vertiefte Interviews mit den Schulleitern, Lehrern und Erziehern. Das ist unser Ausgangspunkt, an dem wir den Einblick in die Strukturen des Entwicklungsprozesses gewinnen. Danach wählen wir Lernangebote im Unterricht, Förder- und Hausaufgabenangebote sowie spezielle Lernangebote im Rahmen des Ganztags aus. Diese halten wir per Video fest. Wir werden mit den Schülern reden, um deren Perspektive zu erfassen, und mit den Lehrern sprechen, welche die Angebote planen, anbieten und auswerten.
Online-Redaktion: Prof. Kolbe, haben Sie die Forschung in Rheinland-Pfalz bereits aufgenommen?
Kolbe: Wir haben die ersten Erhebungen zum Kennenlernen der Schulen durchgeführt: Interviews mit den Schulleitungen und Gruppendiskussionen mit Lehrerinnen und Lehrern, die für den Ganztagsbereich zuständig sind. Daraus erarbeiten wir Schulportraits. Als nächstes beschäftigen wir uns in diesem Schulhalbjahr mit der Aufzeichnung von Angeboten und deren Analyse.
Online-Redaktion: Prof. Reh, wie hat sich die Konstellation der drei Länder Berlin, Brandenburg und Rheinland-Pfalz ergeben?
Reh: Mein Kollege Fritz-Ulrich Kolbe hat bereits die erste Phase der Ganztagsschulentwicklung in Rheinland-Pfalz erforscht und hatte Interesse, diese Entwicklung weiter im Blick zu halten. Da wir beide schon zusammen gearbeitet haben, konnten wir uns ein gemeinsames Projekt gut vorstellen. Dazu äußerte zudem ein Kollege aus der Senatsverwaltung Berlin Interesse an einer solchen Studie, da man sich wichtige Ergebnisse im Hinblick auf die Steuerung von Schulentwicklungsprozessen verspricht - in dem Sinne, dass man Bedingungen ermittelt, die Entwicklungsprozesse in dieser und jener Richtung ermöglichen.
Wir verstehen die Steuerung von Schulen nicht so, dass die Schulverwaltung oben etwas reingibt und unten kommt dann ein entsprechendes Ergebnis raus. Wir wollen vielmehr versuchen, in einer Form von generalisierten Ergebnissen Typen von Schulen oder Konstellationen in Schulen zu bilden. Dann können wir Schulen diese Konstellationen zeigen, in denen eine erfolgversprechende Entwicklung am ehesten möglich ist. Spannend finde ich dabei, dass unsere Studie parallel zu StEG läuft, da man die Ergebnisse stellenweise vergleichen können wird.
Online-Redaktion: Prof. Kolbe, was war denn der Gegenstand Ihrer Studie in Rheinland-Pfalz?
Kolbe: Wir haben uns damals - von September 2002 bis August 2004 - nicht auf die Unterrichtsentwicklung konzentriert, sondern in einer Prozessanalyse die Reformaktivitäten der Steuergruppenmitglieder in den Mittelpunkt gestellt. Die Sitzungen der Steuergruppen sind von uns nicht nur in der Vorbereitungszeit, sondern auch während der Reformmaßnahmen in den ersten zwei Jahren analysiert worden, wobei wir immer persönlich an diesen Teamsitzungen teilgenommen haben.
Online-Redaktion: Wie viele Schulen umfasste jene Studie?
Kolbe: In der Fragebogenstudie war ein Viertel der gesamten Gruppe, die im September 2002 begann, vertreten - das waren 25 Ganztagsschulen. In der Rekonstruktion des Entwicklungsprozesses haben wir vier Ganztagsschulen unterschiedlicher Schulformen betrachtet. Diese Schulen hatten sich ebenfalls auf eine Ausschreibung beworben.
Online-Redaktion: Sind die vier Schulen, die jetzt an der "Lugs"-Studie in Rheinland-Pfalz teilnehmen, dieselben, die sie in jenen zwei Jahren begleitet haben?
Kolbe: Nein, wie Kollegin Reh vorhin angedeutet hat, wählen wir diesmal die Schulen aus dem Kreis der an der StEG-Studie teilnehmenden, dass heißt auch den mit IZBB-Mitteln geförderten Ganztagsschulen aus und haben deshalb andere Schulen angeschrieben, um zur Mitarbeit einzuladen.
Online-Redaktion: Worin besteht für Sie der Anknüpfungspunkt zwischen der Rheinland-Pfalz-Studie und der "Lugs"-Studie?
Kolbe: Der lokalen Entwicklungsarbeit in den einzelnen Ganztagsschulen kommt ein besonderer Stellenwert zu. Am Anfang ist die Tendenz an Ganztagsschulen groß, das fortzuschreiben, was man bisher gekannt hat: Morgens Unterricht, nachmittags Betreuung. Die Frage, ob Ganztagsschule im Sinne von mehr Förderung und Unterstützung sowie neuen Erfahrungsmöglichkeiten für die Schülerinnen und Schüler wirklich gelingt, hängt entscheidend davon ab, ob man in den Schulen eigene Entwicklungsarbeit investiert. Und dies ist genau der Fokus der neuen Fragestellung. Wir gehen davon aus, dass sich Gelingen oder Misslingen zentral an dieser Stelle entscheiden, und interessieren uns sehr für die Bedingungen und die Gelenkstellen, die eine solche Entwicklungsarbeit ermöglichen.
Online-Redaktion: Teilen Sie - auch vor dem Hintergrund Ihrer Studie von 2002 bis 2004 - die Einschätzung von Prof. Reh, dass Sie Veränderungen in der Lehr- und Lernkultur und den Interaktionsstrukturen im "Lugs"-Projekt der Schulen beobachten werden?
Kolbe: Wir haben damals das Potential, den Möglichkeitsspielraum von großflächigen Veränderungen wahrgenommen, der noch nicht in der Breite ausgeschöpft wurde. Dieses Potential ist allerdings schon ein großer Gewinn, und bei näherem Hinsehen stellt man fest, dass es auch gar nicht anders sein kann, denn wirklich tragfähige Lösungen brauchen ihre Zeit.
Gesichert kann man feststellen, dass in einer Ganztagsschule schon allein durch das gemeinsame Mittagessen und die Freizeitgestaltung andere Erfahrungsräume für Kinder und Jugendliche entstehen können. Ebenso sind die Möglichkeiten vorhanden, unterrichtsbezogene Ergänzungen in innovativer Form durchzuführen, die eine intensivere Zuwendung zur einzelnen Schülerin und zum einzelnen Schüler erlauben. Vor allem werden durch themenbezogene Vorhaben und Projekte, wie das in Rheinland-Pfalz heißt, interessante Möglichkeiten deutlich: Manche Schulen ermöglichen den Schülerinnen und Schülern eine eigenständige Projektdurchführung, die bei einer Orientierung an der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen eher für Lernmotivation sorgt als der übliche Frontalunterricht.
Online-Redaktion: Prof. Reh, was geschieht mit den Ergebnissen des "Lugs"-Projekts?
Reh: Wir werden diese Ergebnisse veröffentlichen und haben auch eine große Tagung geplant.
Kategorien: Forschung - Ganztagsschulforschung: Interviews
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