Herausgeforderte Eltern: „Endlich fragt mal jemand“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Das Forschungsprojekt „Herausgeforderte Eltern“ an der Universität Vechta untersucht, wie Eltern den Übergang in die Grundschule erleben. Prof.'in Dr. Christine Hunner-Kreisel im Interview über erste interessante Ergebnisse.
„Herausgeforderte Eltern“ – unter diesem Titel untersucht seit 2016 ein Forschungsteam aus Prof. Christine Hunner-Kreisel, Katharina Steinbeck, Stella März und Maike Hoffmann am Fachbereich Soziale Arbeit der Universität Vechta, wie Eltern den Übergang ihres Kindes in die Grundschule erleben. Das beginnt bei den elterlichen Erwartungen an die Schule – zum Beispiel, dass es in der Ganztagsschule keine Hausaufgaben gibt – und reicht bis zur Frage nach elterlichen Verantwortlichkeiten für die Bildung des Kindes. Schließlich lautet eine spannende Frage, ob Kinder eigentlich mitentscheiden. Das Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Online-Redaktion: Frau Prof. Hunner-Kreisel, was erforschen Sie als Kindheits- und Jugendforscherin?
Christine Hunner-Kreisel: Mich interessieren allgemein die Beziehungen zwischen Kindheit und Erwachsensein, insbesondere vor dem Hintergrund generationaler Ordnungen, also des Verhältnisses der Generationen zueinander, das ja die Gesellschaft strukturiert. Inwiefern werden Kinder gesellschaftlich als Kinder hergestellt? „Fragen sind: Wie sieht der Alltag von Kindern aus? Wie sieht es mit Herrschaftsverhältnissen aus? Und ganz wichtig, was wir heute viel stärker im Blick haben: Welche Vorstellungen von Wohlergehen sind eigentlich für Kinder selbst relevant, wenn man mit ihnen spricht?
Online-Redaktion: Welche Fragen untersuchen Sie in Ihrem aktuellen Projekt „Herausgeforderte Eltern“?
Hunner-Kreisel: Wir sind davon ausgegangen, dass mit dem Übergang von der Kita zur Grundschule grundsätzlich ein habituell-institutioneller Umbruch einhergeht, der Mütter und Väter vor neue Herausforderungen stellt. Das heißt, die Eltern müssen sich im Übergang zur Schule sowohl in ihren Alltagsorganisationen als auch zur Frage beispielsweise des Bildungswegs ihrer Kinder verhalten. Ob und wie dies zutrifft, haben wir auf einer mikro-analytischen Ebene und in einem längsschnitthaften Design, also im Zeitverlauf untersucht. Dazu haben wir Interviews mit 27 Elternpaaren beziehungsweise Elternteilen vor dem Übergang und ein Jahr nach dem Übergang geführt. Wir stellten Fragen nach ihren Erfahrungen und wollten wissen, wie sie diese Erfahrungen für sich deuten, vor allem auch, wie sie sich gegenüber den antizipierten, also den von ihnen wahrgenommenen Aufgaben der Schule positionieren konnten.
Online-Redaktion: Wie haben Sie die Eltern gefunden und ausgewählt?
Hunner-Kreisel: Die Untersuchung haben wir in einer mittelgroßen Stadt durchgeführt. Zuerst haben wir uns mit dem dortigen Bildungsbüro zusammengesetzt, uns nach Stadtteilen orientiert und sind dann zum Teil ganz pragmatisch vorgegangen: Eine studentische Mitarbeiterin hatte zum Beispiel bereits in einer Kita gearbeitet, zu der wir Kontakt aufgenommen haben. Ich selbst hatte im Rahmen der Vorstudie in zwei Kitas Feldforschung betrieben und habe dort bei den jeweiligen Leitungen angefragt. Auf Veranstaltungen der Kitas stellten wir dann unser Projekt vor. Daraufhin sind einige Eltern auf uns zugekommen, die von sich aus von ihren Erfahrungen berichten wollten. Es gab Eltern, die zu uns gesagt haben: „Endlich fragt mal jemand!“
Online-Redaktion: Wo und wie haben Sie die Eltern befragt?
Hunner-Kreisel: Wir haben jeweils zu zweit sogenannte narrative Interviews geführt, das heißt, nach einer eröffnenden Frage haben wir die Eltern hauptsächlich erzählen lassen. Unsere Leitfragen haben diese Erzählungen mehr begleitet. Die Interviews fanden in den Kitas und in den Schulen, aber auch oft zu Hause bei den Familien statt. Das war interessant, weil wir so auch etwas mehr von der Lebenswelt der Familien mitbekommen haben.
Online-Redaktion: Stichwort Lebenswelt – welche Bedeutung haben soziale Unterschiede beim Übergang in die Grundschule?
Hunner-Kreisel: Soziale Unterschiede spielen eine wichtige Rolle, es gibt jedoch vor dem Hintergrund der Herausforderungen, mit denen sich die Eltern konfrontiert sehen, auch andere Aspekte, die bedeutsam werden, wie beispielsweise der Zeitfaktor. Was Gelassenheit und Sorge betrifft, spielt die soziale Herkunft tatsächlich herein: Eltern mit einer nicht-privilegierten Herkunft blicken teilweise weniger gelassen auf den Übergang als Eltern, die sich selbst aufgrund ihrer Herkunft als bildungsstark betrachten.
Online-Redaktion: Welche Herausforderungen stellen sich denn „herausgeforderten Eltern“?
Hunner-Kreisel: Der Übergang zur Grundschule erfordert von fast allen Eltern, mit denen wir gesprochen haben, eine deutliche Umstrukturierung des Alltags und eine Neustrukturierung der Familienaufgaben. Selbst auf Familien mit besseren finanziellen Ressourcen, die es sich eher leisten können, auf ein Einkommen zu verzichten, kommen Fragen zu, mit denen sie gar nicht gerechnet haben. So sagten einige Eltern, dass sie sich für eine Ganztagsschule entschieden hatten, aber dennoch mit ihren Kindern Hausaufgaben machen müssten. Zeit kommt als eine bedeutsame Ressource ins Spiel – und Zeit lässt sich auch mit Geld nur bedingt kaufen.
Bis Mai 2018 haben wir die Interviews in drei Bereiche geclustert, also nach bestimmten Merkmalen Gruppen von Eltern zusammengefasst und mit einer Überschrift versehen. Im Cluster „Positive Wendung“ zum Beispiel haben die Eltern den Übergang auf die Grundschule als positiv empfunden, was immer mit dem Blick auf das Kind zusammenhing. Diese Eltern hatten Sorgen, dass ihr Kind in der Schule Schwierigkeiten bekommen könnte. Traten diese Schwierigkeiten nicht ein, wurde der Übergang als positiv empfunden. Im zweiten Cluster „Übergang als eine familiale Herausforderung“, zu dem ein Drittel unserer befragten Eltern gehört, spielte die Aufrechterhaltung der Familienorganisation und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine wichtige Rolle. Das dritte Cluster haben wir „Übergang als Hintergrundgeschehen“ genannt. Hier rief der Übergang keine größeren Brüche hervor und lief quasi so mit.
Online-Redaktion: Beim Übergang in die Grundschule spielt für berufstätige Eltern der Ganztag eine entscheidende Rolle. Ist das auch Thema Ihrer Forschung?
Hunner-Kreisel: Wir haben nicht gezielt gefragt, aber das Thema ist natürlich aufgekommen, weil viele Schülerinnen und Schüler eine Ganztagsschule besuchen. Deutlich wurde bei manchen Elternpaaren, wie eben erwähnt, dass sie glaubten, dass mit der Ganztagsschule das Thema Schule für sie in der Familie keine Rolle mehr spielen würde. Für eine Mutter, die sozial nicht privilegiert ist, spielte der Ganztag wegen seiner Kosten, schon allein für das Mittagessen, eine Rolle.
Online-Redaktion: Welches Ergebnis hat sie überrascht?
Hunner-Kreisel: Bei fast allen Eltern lösten sich die zeitlichen und organisatorischen Probleme dergestalt auf, dass die Mütter entweder beruflich kürzer treten mussten oder sich als deutlich belasteter empfanden. Das halte ich für ein wichtiges Ergebnis. Wenn man mit Blick auf die Schule von „parental involvement“ spricht und damit die Zuarbeit der Eltern zur Schule meint, dann zeigt sich in unseren Interviews, dass sich zwar alle Elternteile für die Schulangelegenheiten ihrer Kinder als verantwortlich ansehen, aber häufig die Mütter stärker in Aufgaben wie beispielsweise Hausaufgabenmachen involviert sind. Diese spezifische Aufgabenverteilung zeigte sich in allen Interviews.
Ein weiteres Ergebnis, das auf alle Befragten zutrifft: Die Familie muss sich der Schule anpassen. Es gab in der Jahresspanne zwischen unseren Interviewterminen Trennungen, Scheidungen, neue Alleinerziehende und neue Patchwork-Familien. Für einige Alleinerziehende in unserem Sample zeigte sich das als eine große Herausforderung. Eher müssen sie ihr Beschäftigungsverhältnis ändern, als dass sie die Schule ihres Kindes flexibel in der Bildungs- und Betreuungszeit erleben. Die Schule zeigt da eine gewisse Starre in der Anpassung an familiale Welten, was aber von den Eltern auch nicht in Frage gestellt wird. Das finde ich auch insofern bemerkenswert, als das schon Ergebnisse der Bildungsforschung vor rund 30 Jahren waren.
Und ein Drittes, das mir als Kindheitsforscherin deutlich aufgefallen ist und das sich ebenso durch alle Interviews zog: Vor dem Hintergrund der UN-Kinderrechtskonvention gibt es die Forderung, dass Kinder bei allen sie betreffenden Fragen des Alltags miteinbezogen werden sollen. In den Interviews zeigte sich allerdings, dass es aufgrund des hohen Bildungsdrucks – dass also die Eltern mit einer gelungenen Bildungskarriere das zukünftige Wohlergehen ihrer Kinder sichern wollen – ein Gefälle gibt. Die Eltern entscheiden vieles für ihre Kinder, zum Beispiel was die Schulwahl betrifft. Da wird, wie wir das in der Forschung nennen, eine asymmetrische generationale Ordnung reproduziert, also ein eher klassisches Verhältnis zwischen Eltern- und Kindergeneration, in dem die Kinder nur bedingt Mitspracherecht haben.
Online-Redaktion: An welcher Stelle steht Ihr Projekt aktuell?
Hunner-Kreisel: Unser Team ist mitten in der Datenauswertung. Wir schreiben schon Beiträge und halten Vorträge. Mich persönlich treibt gerade die eben angesprochene Frage um, ob man noch von einem „Parental Involvement“ oder nicht eher von einem „Mother's Involvement“ sprechen muss und welche geschlechtsspezifischen Aufgabenteilungen sich in den Interviews zeigen. Im Herbst 2019 werden wir der DFG unseren Abschlussbericht vorlegen und die Ergebnisse sicher veröffentlichen.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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