Ganztagsschulen in der Migrationsgesellschaft : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Der Bildungswissenschaftler Prof. Paul Mecheril von der Universität Oldenburg erläutert im Interview die Rolle der Ganztagsschule in der Migrationsgesellschaft.

Blick in ein Klassenzimmer während des Unterrichts
© Britta Hüning

Online-Redaktion: Prof. Mecheril, Sie forschen im Bereich „Migration und Bildung“. Welche Themen interessieren Sie besonders?

Paul Mecheril: Mich interessiert, wie es Bildungsinstitutionen wie der Schule beispielsweise gelingt, dass Schülerinnen und Schüler lernen, dass sie einen Migrationshintergrund haben, dass sie Muslime sind, oder dass sie nicht anders, sondern dass sie ganz normal sind, dass sie in Ordnung sind. Und dass sie wertvoll, am rechten Platz sind, dass sie willkommen sind oder nicht. Ich betrachte die Schule als einen Ort, der die Macht hat, Identitätspositionen zuzuschreiben und diese Positionen über wiederholte Zuschreibungen wirklich werden zu lassen. Ich betrachte Schule als einen Ort, der Anerkennung sehr unterschiedlich vergibt und dadurch respektable und weniger respektable Subjekte erzeugt. Wie dies in der Schule der Migrationsgesellschaft vonstatten geht, finde ich spannend, und ich habe ein großes Interesse, insbesondere Formen symbolischer Gewalt – von denen es nicht zu wenige gibt –  in der Schule nicht nur zu untersuchen, sondern auch zu kritisieren.

Online-Redaktion: Auf einer Veranstaltung der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Hessen haben Sie über „Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft“ gesprochen. Wer muss was pädagogisch können?

Mecheril: Eine wesentliche Aufgabe pädagogischen Könnens besteht darin, der Pluralität migrationsgesellschaftlicher Positionen und Bildungsbiografien Rechnung zu tragen und dabei gleichzeitig stereotype und stigmatisierende Fest- und Zuschreibungen zu reflektieren und zu vermeiden. Diese Aufgabe kommt jedem zu, der in der Schule als Lehrkraft, Schulsozialpädagoge oder Schulleitung Verantwortung zu übernehmen hat. Differenzsensibilität und Diskriminierungskritik stellen dementsprechend grundlegende Dimensionen pädagogischen Handelns in der Migrationsgesellschaft dar.

Menschen, die in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt haben und sich selbst als ohne Migrationshintergrund wahrnehmen und auch von anderen so wahrgenommen werden, sind also ebenso als Adressatinnen und Adressaten pädagogischen Handelns in der Migrationsgesellschaft zu verstehen wie Migrantinnen und Migranten mit langfristigen, kurzfristigen und ungeklärten Bleibeperspektiven und ihre Kinder, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird. Das betrifft ebenso solche Menschen, die migrationsgesellschaftliche Diskriminierungserfahrungen machen, wie jene, die das Privileg haben, dass ihnen rassistische Herabwürdigungen in der Regel nicht widerfahren.

Zwei Schülerinnen auf dem Schulhof
© Britta Hüning

Online-Redaktion: Denken Sie, dass die Ganztagsschule Bildungschancen von Migrantinnen und Migranten verbessern kann?

Mecheril: An Ganztagsschulen sind eine ganze Reihe von bildungspolitische Erwartungen gerichtet, die von der Vereinbarung von Beruf und Familie bis hin zur Nivellierung der sozialen Ungleichheit reichen. Man muss hier sehr vorsichtig sein, da weder Halbtags- noch Ganztagsschulen gesamtgesellschaftliche Ungleichheiten eines kapitalistisch ausgerichteten Systems werden beheben können. Wir haben es mit einer auf Selektion setzenden und soziale Ungleichheiten produzierenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu tun, die gleichzeitig programmatisch auf die Egalität des Menschen setzt. Dieser Widerspruch wird zwar oft im Bildungsbereich ausgetragen, ist aber pädagogisch nicht aufzulösen, sondern nur zu reflektieren.

Wenn wir also über sinnvolle Ganztagsschulen nachdenken, dann bitte über solche, die Widersprüche des globalen migrationsgesellschaftlichen Kapitalismus so reflektieren, dass diese zu Anlässen für Allgemeinbildungsprozesse im Sinne Wolfgang Klafkis werden: Bildung für alle und Bildung im Medium des epochaltypisch Allgemeinen. Als erstes benötigen wir hierzu allgemeingebildete Lehrerinnen und Lehrer.

Online-Redaktion: Sie sprechen auch von einer „anderen Pädagogik“, die notwendig sei, um Ungerechtigkeit zu mindern. Können Sie das etwas erläutern?

Mecheril: Der erziehungswissenschaftliche Fachdiskurs hat zwar seit etwa Mitte der 1970er Jahre mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Beachtung der Migrationstatsache eine zentrale Aufgabe von Bildungspolitik, Schulorganisation und des Handelns von Lehrkräften darstellt. Die Auseinandersetzung mit dem Komplex Migration und Bildung hat allerdings im Wesentlichen aufgrund der verspäteten Anerkennung der Migrationstatsache in Deutschland erst Anfang des 21. Jahrhunderts begonnen. Bis dahin wurden Fragen der Migrationsgesellschaft und damit auch Aufgaben, die sich dem Bildungssystem in der Migrationsgesellschaft stellen, öffentlich kaum bearbeitet. Seither ist es nicht nur respektabel, über das Thema zu sprechen – binnen kürzester Zeit ist das Thema sogar in bis dahin thematisch weitgehend desinteressierten bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Diskursen zu einem relevanten Gegenstand geworden.

Schülerinnen und Schüler auf einem Klettergerüst
© Britta Hüning

Es ist bedeutsam und begrüßenswert, dass man im deutschsprachigen Raum den Zusammenhang Migration und Bildung nunmehr intensiv thematisiert, aber ich finde zugleich die Art und Weise problematisch, wie dieser Zusammenhang häufig zum Thema gemacht wird. Der öffentliche Diskurs konzentriert sich weitgehend auf die Frage, wie Bildungsdefizite von Menschen mit Migrationshintergrund ausgeglichen werden können. Dadurch trägt der Diskurs zur Bestärkung eines Schemas bei, das nicht nur überaus grob zwischen zwei Gruppen unterscheidet, sondern er verfestigt darüber hinaus die nicht nur abwegige, sondern auch gefährliche Vorstellung, dass jene „mit Hintergrund“ potenziell defizitäre Wesen seien, jene „ohne Hintergrund“ nicht. Zudem verhindert dieser Diskurs die Auseinandersetzung mit der allgemeinen und alle betreffenden Frage, was es heißen soll, in der Migrationsgesellschaft gebildet zu sein. Gebildet zu sein, heißt wohl auch, etwas über die Welt zu wissen, also über die aktuelle Ungleichheit der Welt und wie sehr diese mit dem transatlantischen Sklavenhandel, mit Kolonialismus und auch der historischen Verantwortung für die ökologische Frage zu tun hat.

Bei der Frage danach, was im Hinblick auf Fragen von Bildung in der Migrationsgesellschaft wichtig ist, geht es nicht darum, Menschen mit Migrationshintergrund zu fokussieren und damit zu erfinden. Diese „ausländerpädagogische“, zumeist auf Förderung und Defizitkompensation ausgerichtete Zielgruppenorientierung wird meiner Ansicht nach zwei Erfordernissen nicht gerecht. Erstens müssen die notwendigen Veränderungen im Feld Migration und Bildung immer als notwendige Veränderungen der Bildungsinstitutionen gedacht und konzipiert werden. Zweitens geht das komplexe Feld Migration und Bildung mit Anforderungen einher, die alle Schülerinnen und Schüler betreffen, nicht allein solche, die als „mit Migrationshintergrund“ gelten.

Beim migrationspädagogischen Ansatz, den ich präferiere, wird dies ernst genommen. Die Migrationspädagogik interessiert sich für die Beschreibung und Analyse der vorherrschenden Schemata und Praktiken der Unterscheidung zwischen einem natio-ethno-kulturell kodiertem „Wir“ und „Nicht-Wir“ und auch für die Stärkung und Ausweitung der Möglichkeiten der Verflüssigung und Versetzung dieser Schemata und Praktiken. Migrationspädagogik ist also keine „Migranten-Pädagogik“ in dem Sinne, dass es das erste Anliegen der Migrationspädagogik wäre, die Migrantinnen und Migranten zu verändern. Anders als in pädagogischen Ansätzen, die in erster Linie auf die Förderung der Migrantinnen und Migranten zielen, geht es aus der migrationspädagogischen Perspektive um institutionelle sowie diskursive Ordnungen und um die Macht, die von ihnen ausgeht, sowie Möglichkeiten ihrer Veränderung in Richtung einer Allgemeinbildung.

Schulversammlung
© Britta Hüning

Online-Redaktion: Welche Aufgabe hat aus Ihrer Sicht die Schule, um Integration zu gewährleisten?

Mecheril: Das ist für mich gar keine so einfache Frage, weil sie mit einer Voraussetzung operiert, die ich nicht teile – nämlich, dass Integration etwas fraglos Erstrebenswertes sei und damit eine Aufgabe von Schule, insbesondere, wenn es irgendwie um Migration geht. Ich halte dies aber nicht nur für irreführend, sondern auch für gefährlich, aus mindestens zwei Gründen. Erstens ist Integration meines Erachtens keine angemessene normative, pädagogische Referenz. Der Begriff Integration thematisiert und versteht Individuen als Elemente, die einem größeren Ganzen einzuordnen, eben zu integrieren seien. Damit verbunden ist letztlich die Tilgung des Singulären und auch des Subjektiven. Wenn Integration mit Bezug auf Bildungsfragen zur zentralen Referenz wird, wird der pädagogische Handlungswiderspruch zwischen Handlungsfähigkeit und Nützlichkeit im gesellschaftlich Gegebenen und so etwas wie Selbstentfaltung zugunsten der Nützlichkeit aufgelöst. Dadurch reduziert Integration Pädagogik auf die Ausbildung gesellschaftlichen Nutzens.

Zweitens tendiert Integration zu einer Bekräftigung und Bestätigung des Gegebenen, da es bei Integration ja um eine Integration in XY geht, also etwa eine Integration in die Gesellschaft oder in die Schule. Die gegebene gesellschaftliche und schulische Wirklichkeit wird damit unter der Hand bejaht. Mit Bezug auf Schule geht es aber meines Erachtens nicht um die Frage, wie diese durch die Integration der vermeintlich anderen dem Prinzip nach weitermachen kann wie bisher, sondern um eine kritische Re-Vision der Schule. Nicht zuletzt die Zunahme rassistischer Artikulationen und Übergriffe sowie der enorme Zulauf sich nationalistisch-rassistisch äußernder politischen Parteien und Positionen in Europa, die AfD in Deutschland und das Salonfähig-Werden rassistischer Äußerungen machen deutlich, dass die Aufgabe der Schule in der Migrationsgesellschaft durch die einseitige Fokussierung auf Deutschförderung und Wertevermittlung verfehlt wird.

Es geht um deutlich mehr. Es geht um eine Schule, die Bildungsprozesse aller Subjekte und Gruppen in der Migrationsgesellschaft ermöglicht, in der beispielsweise individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit nicht mit Gleichgültigkeit gegenüber anderen verknüpft ist. Das ernsthafte Interesse an den anderen im Maßstab der Weltmigrationsgesellschaft ist eines der zentralen Bildungsziele der Gegenwart und einsehbaren Zukunft.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

 

Zur Person:

Prof. Paul Mecheril, geboren 1962. 1991 Promotion im Fachbereich Psychologie an der Universität Münster; 1994 bis 2000 Wissenschaftlicher Assistent an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld; seit 1997 Mitglied der Forschungsgruppe Biografie- und Kulturanalyse an der Universität Bielefeld; 2001 Habilitation an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld mit der Lehrbefähigung für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik; 2001 bis 2008 Hochschuldozent an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld; 2004 bis 2005 Vertretung der Professur „Interkulturelle Bildung und Kulturarbeit“ an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld; 2005 bis 2007 Vorstandsmitglied der Sektion Interkulturelle und International Vergleichende Pädagogik der DGfE und Sprecher der Kommission Interkulturelle Pädagogik; 2008 bis 2011 Professor für Interkulturelles Lernen und Sozialer Wandel an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Innsbruck; seit 2011 Professor für Interkulturelle Bildung am Institut für Pädagogik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

 

 

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