Für einen neuen Generationenvertrag : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Die Online-Redaktion sprach mit dem Familiensoziologen Prof. Hans Bertram, federführender Verfasser des 7. Familienberichts "Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit".

Hans Bertram am Rednerpult
Prof. Hans Bertram auf dem 3. Ganztagsschulkongress in Berlin. Von 2003 bis 2005 war er Vorsitzender der Siebten Familienberichtskommission des Deutschen Bundestages und Mitglied der Kommission "Familie und demographischer Wandel" der Robert-Bosch-Stiftung.

Online-Redaktion: Die Berliner Rede des Bundespräsidenten Horst Köhler akzentuiert den gegenwärtigen demografischen Wandel. Bildungsausgaben sollten auch in diesen Zeiten nicht gekürzt, sondern stattdessen noch erhöht werden. Warum spielen demographische Entwicklungen eine so große Rolle in der Bildungspolitik?
 
Bertram: Wenn es jetzt weniger Kinder gibt, besteht die Chance, mehr in diese wenigeren Kinder zu investieren. Wir wissen, dass die Eltern heute weniger Kinder haben als früher, gleichzeitig verbringen sie mit ihren Kindern sehr viel mehr Zeit.

Online-Redaktion: Was haben der Bund und die Länder davon, wenn sie mehr Chancen- und Bildungsgerechtigkeit für die Kinder herstellen?

Bertram: Wir müssten davon abkommen, dass wir die Zahl der Kinder nur damit begründen, sie seien zur Sicherung unserer Alterssysteme oder ähnliches notwendig. Dies ist eine funktionale Betrachtung. Stattdessen müssen wir einräumen, dass Kinder die gleichen Rechte haben wie die Erwachsenen, ihre eigene Zukunft zu gestalten. Das ist ganz wichtig, denn nur, wenn wir über uns selbst nachdenken, sind wir auch bereit, zu investieren. Warum verständigt sich die Gesamtgesellschaft nicht darüber, dass wir diese frei werdenden Mittel nicht zum Sparen nutzen, sondern dafür, dass Kinder besonders gut ausgebildet werden und damit besonders gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt erwerben.

Politisch gesprochen heißt das, dass ich davon ausgehe, dass die Länder, die viel in ihre Kinder investieren, viele Probleme, die wir sonst vor uns sehen, nicht haben werden. Würden wir heute zum Beispiel mehr in die Kinder der Migranten investieren, könnten wir davon ausgehen, dass sie ein höheres Maß an Chancen auf dem Arbeitsmarkt erwerben, als sie diese heute haben. Das heißt, die Kosten, die später auf uns zukommen, wenn wir jetzt nicht gut investieren, könnten wir sehr gut vermeiden.

Online-Redaktion: Steht dagegen nicht das Interesse der besser gestellten Familien, ihre Kinder angesichts der wirtschaftlichen Probleme und der Engpässe auf dem Arbeitsmarkt abzuschirmen?

Bertram: Eltern, die Kinder haben, wollen immer das Beste für ihre Kinder, und sie gehen davon aus, dass alle anderen Eltern dies auch wollen. Da gibt es eine Solidarität zwischen Eltern, die nicht explizit ist. Würde man sich in einer Stadt wie Berlin dazu durchringen, mehr in die Förderung der Kinder von Migrantinnen und Migranten zu investieren, bin ich ziemlich sicher, dass die Eltern in den wohlhabenden Bezirken ihren Anteil tragen würden.

Ein Beispiel aus den Vereinigten Staaten: Es gibt um die Universität Stanford herum zwei Stadtteile, nämlich Palo East und Palo West, und einer von den beiden ist sehr wohlhabend. Der eine Teil der Stadt hat ein exzellentes Schulsystem, der andere Teil dagegen nicht. Aber dennoch haben die Leute aus dem wohlhabenden Teil der Stadt die Einstellung, dass sie mehr in den strukturschwachen Teil investieren wollen, damit es diesem besser geht. Eltern sind in Bezug auf andere Kinder gar nicht so egoistisch, wie man das oft annimmt. Wenn Eltern sich für Kinder entschieden haben, sehen sie auch den Wert von anderen Kindern.  

Online-Redaktion: Sie bezeichnen Ganztagsschule als überfällige Entwicklung. Welche Rolle spielen veränderte Zeitstrukturen für den Ausbau der Ganztagsschulen hierzulande?

Bertram: Die Zeitstrukturen von Schule, wie wir sie heute kennen, stammen aus einer anderen Zeit, in der die Familie, aber auch der Lernprozess anders strukturiert waren. Früher waren die Erwartungen an die Kinder auch anders. Mit diesem Zeitmodell können wir die Zukunft aber nicht meistern. In dem klassischen Modell sind wir davon ausgegangen, dass man rechnen, schreiben oder lesen lernen muss, um für den Arbeitsmarkt ausreichend und gut qualifiziert zu sein.

Heute muss man aber rechnen, schreiben, lesen lernen und möglichst noch eine Fremdsprache beherrschen, darüber hinaus muss man sich auch noch mit Medien auskennen, und es gibt noch viele andere Dinge, die hinzukommen. Die Vorstellung, dass diese neuen Anforderungen in den gleichen Zeitmustern an die Kinder herangebracht werden können, wie das früher der Fall war, halte ich für eine völlig absurde Sichtweise.

Die Kinder sind heute von ihrer Auffassungsgabe her nicht viel schneller als ihre Eltern und ihre Großeltern. Ihre Lernkapazität und die Lernschnelligkeit dürfte ungefähr gleich geblieben sein, und deshalb müssen wir mehr Zeit in die Kinder investieren.
 
Online-Redaktion: Und welchen Stellenwert haben moderne Kommunikationsmittel für die Schulen?

Bertram: Auch wenn die technische Kommunikation heute sehr viel besser ist, als das in früheren Jahrzehnten der Fall war - zum Lernen brauchen Kinder vor allem andere Kinder: Weil Kinder sich beim Lernen vergleichen. Außerdem brauchen sie auch die personale Kommunikation und die Unterstützung durch die Lehrkräfte und Eltern.

Wenn wir also die Anforderungen in diesem Bereich erhöhen, brauchen wir zwar moderne Unterrichtsmethoden, und die Kinder müssen sich diese auch aneignen, aber dennoch benötigen sie mehr Zeit. Der Computer war lange Zeit ein Statussymbol. Gab es in der Schule wenig Computer, haben die Jungen die Computer besetzt, weil sie diese Statuskämpfe kennen. Mädchen haben sich zurückgehalten.

Also muss eine Schule dafür sorgen, dass diese Unterschiede ausgeglichen werden. Wir erwarten von den Kindern heute viel mehr. Beispielsweise sollen 40 Prozent eines Jahrgangs Abitur machen, in meinem Jahrgang waren es noch acht Prozent. Damals sind wir mit dem Humankapital in der Gesellschaft zu nachlässig umgegangen. Wir müssen aber den Kindern und Jugendlichen, wenn wir mehr von ihnen erwarten, auch mehr Zeit geben.

Online-Redaktion: Und das geht nur in einem kooperativen Modell von Ganztagsschule?

Bertram: Das geht gar nicht anders, weil den Kindern das Lernen Spaß machen soll, andernfalls kriegen sie ja nichts Wirkliches zustande. Die Konsequenz daraus ist doch, dass das Lernen dem Biorhythmus der Kinder entsprechend organisiert werden muss. Das Lernen hat auch Elemente, das die Kinder mit hohen Anforderungen konfrontiert. Um diese Anforderungen abzumildern, brauchen die Schulen ein Modell, in dem auch Angebote enthalten sind, die nicht in dem klassischen Lehrplan vertreten sind.

Es gibt aber auch ein ganz zentrales demografisches Argument: Wenn die Kinder in bevölkerungsarmen Regionen in der gleichen Weise Bildung erwerben wollen wie in den bevölkerungsreichen Regionen, können sie dies nur über kooperative Modelle erreichen.

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Ganztagsschule sich in den bevölkerungsarmen Regionen der Bundesrepublik auf Dauer durchsetzen wird und zwar aus dem ganz einfachen Grund: den Kindern ein ausdifferenziertes Bildungsangebot zu machen. Wie das geschieht, sehen wir ja momentan in Sachsen, aber auch in Brandenburg und in anderen Bundesländern. Ich meine damit, dass das dreigliedrige in ein zweigliedriges Schulsystem umgewandelt werden wird, weil gar nicht mehr genug Kinder da sind.

Wir werden uns also wir uns mit Schulformen auseinandersetzen müssen, die im Grunde genommen für die Kinder einen erkennbaren Zusammenhang im Tag ermöglichen. Und das wird in den bevölkerungsarmen Regionen sehr viel eher zum Problem, als das in einer Großstadt der Fall ist.

Online-Redaktion: Welche Instrumente besitzen Ganztagsschulen, um Beruf und Familie zu vereinbaren?

Bertram: Die Ganztagsschule hat aus meiner Sicht in Bezug auf Beruf und Familie eine zentrale Bedeutung, wenn es darum geht, sich auf der einen Seite zu überlegen, wie die Eltern ihren Alltag und den Alltag ihrer Kinder verlässlich organisieren können. Wenn die Eltern beispielsweise - was immer häufiger vorkommt - flexible Arbeitszeiten haben, dann müssen sie in der Regel ihre Zeiterfordernisse auf die Zeiterfordernisse der Kinder ausrichten. Das heißt, wenn die Schule diese Verlässlichkeit in der Bildung und Betreuung der Kinder leisten würde, wäre für die Eltern sehr viel gewonnen.

Online-Redaktion: Welche Kompetenzen brauchen die Kinder und Jugendlichen denn für die Gesellschaft der Zukunft?

Bertram: Eine der wichtigsten Kompetenzen ist die Kooperation mit anderen Kindern, und diese lernen sie im Elternhaus angesichts kleiner Familien immer weniger. Also brauchen sie andere Kinder. Hinzu kommen Sprachkompetenz und Flexibilität. Auch diese Kompetenzfelder kann man in Gruppen relativ gut lernen. Nicht umsonst sind ausgerechnet die asiatischen Länder wie Südkorea, Japan oder auch Singapur in allen Schulleistungstests sehr gut.

In diesen Ländern ist die Frage der Kooperation und Interaktion mit anderen ein ganz zentrales Element der Kultur und Schule. Wir haben diesen Aspekt bislang zu wenig betont, doch Ganztagsschulen bieten eine Möglichkeit, diesen Aspekt stärker zu akzentuieren.

Online-Redaktion: Zuletzt noch eine Frage: Was ist für Sie ein kinderfreundliches Land?

Bertram: Kinderfreundlich wäre das Land schon dann, wenn die Erwachsenen sich klar machten, dass die Kinder die gleichen Lebenschancen haben sollten wie sie selber. Mehr braucht man gar nicht zu erwarten. Dann müsste man sich nämlich in verschiedenen Bereichen zurücknehmen, weil man sonst der nachwachsenden Generation etwas wegnimmt.

Jedes Jahr gibt die Rentnergeneration 16 Milliarden Euro für die Enkelgeneration aus. Daran erkennt man, dass es in unserer Gesellschaft längst Solidaritäten gibt, die man auch abrufen kann. Die Politik reagiert in dem Punkt viel zu wenig darauf. Bei der Rentnergeneration ist ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft und Solidarität vorhanden. Unser Problem ist, dass wir diese Bereitschaft nicht abrufen. Die Gesellschaft müsste also darin übereinstimmen, mehr in die Kinder zu investieren, statt weiterhin in dem Maße in die Alterssicherung und Gesundheit zu investieren.

Prof. Hans Bertram ist Familiensoziologe und Professor für Mikrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2003 bis 2005 war er Vorsitzender der Siebten Familienberichtskommission des Deutschen Bundestages und Mitglied der Kommission "Familie und demographischer Wandel" der Robert-Bosch-Stiftung. 2004 war Hans Bertram Vorsitzender des Familienbeirats der Brandenburger Landesregierung. Seit 2005 ist er Mitglied der Enquete-Kommission des Sächsischen Landtages "Demographische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Lebensbereiche der Menschen im Freistaat Sachsen sowie ihrer Folgen für die politischen Handlungsfelder".

Kategorien: Forschung - Berichte

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