„Entscheidend ist, was innerhalb der Strukturen geschieht“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Der Erziehungswissenschaftler Prof. Klaus Zierer von der Universität Oldenburg forscht zur didaktischen Qualität von Schule und Unterricht. Das Bildungsministerium Mecklenburg-Vorpommern hat seine Broschüre „Hattie für gestresste Lehrer“ (2014) allen Lehrerinnen und Lehrern des Landes zur Verfügung gestellt.
Online-Redaktion: Prof. Zierer, Sie haben 2012/2013 unter dem Titel „Was ist eine gute Schule?“ eine empirische Analyse der Daten der Niedersächsischen Schulinspektion durchgeführt. Welche Ergebnisse konnten Sie gewinnen?
Klaus Zierer: Wir haben uns die Daten im Kontext des Sachunterrichts angeschaut. Es war für uns Forscher ungeheuer schwierig, diese Daten nutzen zu können, weil Schulinspektionsbefragungen nur sehr bedingt wissenschaftlichen Standards entsprechen. Insofern war das Ergebnis, dass der Sachunterricht in Niedersachsen im Großen und Ganzen gut aufgestellt ist, aber Details konnten nicht gewonnen werden. Die ganze Diskussion über die Schulinspektion ist aus meiner Sicht nicht nur vor diesem Hintergrund zwiespältig zu sehen: Es ist sicherlich richtig, Schulinspektionen durchzuführen. Wenn allerdings die Schule schon lange im Voraus weiß, dass am Tag X die Kommission kommen wird und sich dementsprechend vorbereitet, dann findet die Kommission eine Schule vor, die sich nicht im Alltag befindet. Und kaum ist die Kommission wieder draußen, werden die Flügel wieder hängen gelassen - das ist problematisch. In der Regel fehlt ein wirkliches Feedback von der Kommission, und auch die Schule hat nur begrenzt die Möglichkeit für ein Feedback an die Kommission. Etwas Hierarchisches, Einmaliges bringt also relativ wenig.
Online-Redaktion: Sie stehen dem Sammeln dieser Daten kritisch gegenüber?
Zierer: Nein, die Empirie hat ihre Berechtigung. Ich sehe nur die Gefahr, dass man einem Optimierungswahn erliegt. Eine gute Schule kann ich nicht nur daran festmachen, was ich an ihr messen kann. Am Ende hat man womöglich ein hoch effektives Schulsystem, aber Lehrpersonen, die überlastet sind oder sogar Schülerinnen und Schüler mit hohen Burnout-Raten, wie wir das in China beobachten können. Mein Ansatzpunkt einer Schule geht in vier Richtungen: Schule muss erstens natürlich effektiv sein, sie muss zweitens aber auch Freude bereiten und eine erfüllte Lebenszeit darstellen - für Schülerinnen und Schüler sowie Lehrpersonen.Und wir wissen aus unserem alltäglichen Leben nur allzu gut, dass erfüllte Lebenszeit nicht unbedingt effektiv genutzt werden muss.
Ebenso wichtig finde ich drittens die kulturelle Passung. Wenn wir im Kontext von Schule nur auf den Output schauen, was die Lernenden können und wissen sollen, vergessen wir die Frage nach den Inhalten, nach dem Input. Da ist meine Position, dass wir Lehrpläne von gestern haben, weil zum Beispiel ein so wichtiges Feld wie die Bildung für nachhaltige Entwicklung nicht vorbereitet wird. Das taucht zwar in mancher Präambel-Lyrik auf, aber nicht zentral im Lehrplan. Und viertens geht es bei der Frage nach einer guten Schule um die systemische Passung: Wir dürfen Schule nicht nur in Anknüpfung zur Wirtschaft sehen. Es muss auch die Passung zur Familie, zur Freizeit und zu den Peers, zu allen kulturellen Faktoren, die wichtig erscheinen, insofern auch für manche zum Glauben und zur Kirche stattfinden. Und damit wird schon deutlich, dass eine gute Schule weitaus mehr ist als eine effektive Schule.
Online-Redaktion: Sie haben sich eingehend mit der vielbeachteten Hattie-Studie beschäftigt. Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus?
Zierer: Zwei Kernbotschaften möchte ich nennen, die aufeinander aufbauen. Die erste Kernbotschaft von Hattie lautet, dass strukturelle Rahmenbedingungen nicht den entscheidenden Einfluss auf die Lernleistungen ausüben, sondern vielmehr entscheidend ist, was innerhalb dieser Strukturen geschieht. Das soll nicht heißen, dass Strukturen völlig belanglos sind. Es gibt zum Beispiel viele gute Gründe, die dafür sprechen, Ganztagsschulen auszubauen. Aber es lässt sich nicht argumentieren, dass solche strukturellen Veränderungen alle Probleme im Bildungsbereich lösen.
Vielmehr, und das ist dann die zweite Kernbotschaft, hängt es von den Personen ab, die solche Strukturen zum Leben erwecken. Diese Personen brauchen auf der einen Seite bestimmte Kompetenzen in Form von Wissen und Können, was wir in Deutschland derzeit auch sehr stark vorantreiben. Sie benötigen aber auch Haltungen in Form von Wollen und Werten. Laut Hattie kommt es im pädagogischen Kontext gar nicht so sehr darauf an, was man macht, sondern vielmehr wie und warum man es macht. Welche Werte und Haltungen bringt man mit? Welches Rollenverständnis hat man von sich selbst und von den Lernenden, um ihnen bestmöglich helfen zu können?
Online-Redaktion: Kann die Lehrerausbildung überhaupt leisten, Werte und Haltungen zu vermitteln?
Zierer: In Deutschland liegt der Schwerpunkt weiterhin auf dem Vermitteln von Fachkompetenzen. Die sind unbestritten wichtig, ich würde sie nie in Frage stellen wollen. Was wir aber zusätzlich brauchen, sind verstärkt pädagogisch-didaktische Kompetenzen, um einen Unterricht zu erhalten, der die Fachkompetenzen zum Leben erweckt. Und da haben wir noch viel Potenzial, gerade vor dem Hintergrund der Ganztagsschule mit ihrem speziellen Setting über den ganzen Tag zu unterrichten und pädagogisch zu wirken. Hier gewinnen die pädagogisch-didaktischen Kompetenzen nochmal eine ganz andere Bedeutung, zusammen mit den Haltungen, die man für die Schule, den Unterricht und die Lernenden mitbringt.
Online-Redaktion: Die Forderungen nach mehr didaktischen Kompetenzen in der Lehrerausbildung, auch nach mehr Praxisanteilen, hört man unabhängig von der Ganztagsschulfrage schon lange. Wessen Verantwortung ist es, Veränderungen anzuschieben?
Zierer: Entscheidend ist zweifellos die Bildungspolitik, die hier die Rahmenbedingungen setzt. Problematisch wird es immer dann, wenn sich bildungspolitische mit weltanschaulichen, zum Teil auch ideologischen Positionen überlappen und versucht wird, diese durchzudrücken, ohne sich zuvor die Empirie angeschaut zu haben. Insofern plädiere ich dafür, dass Politik auch gegenüber den erziehungswissenschaftlichen Kenntnissen und nicht nur den Parteiprogrammen offen sein muss. In den Fällen, in denen noch nicht ausreichend Daten vorliegen, sollte man einem System dann die Zeit einräumen, die es braucht, sich weiterentwickeln zu können. Nebenbei bemerkt: EIn Mehr an Praxisanteilen führt nicht per se zum Erfolg. Auch hier kommt es auf die Qualität der Praxisanteile an.
Online-Redaktion: Nehmen wir doch konkret Ihre Person. Finden Sie als Erziehungswissenschaftler mit Ihren Forschungsergebnissen in der Politik Gehör?
Zierer: Das ist unterschiedlich und lässt sich nicht verallgemeinern. Manche politische Akteure kommen auf einen zu, manche weniger. Mich hat zum Beispiel Mathias Brodkorb, der Bildungsminister von Mecklenburg-Vorpommern, angeregt, das Buch „Hattie für gestresste Lehrer“ zu verfassen. Das Buch haben alle 12.000 Lehrkräfte in Mecklenburg-Vorpommern kostenlos erhalten. Hier sind wir dabei, den Weg mit Versuchsschulen weiterzugehen, Schulen so aufzubauen, um die Kernbotschaften von Hattie aufzugreifen und als Grundlage für verändertes Lehrerhandeln optimal umzusetzen. Des Weiteren bin ich auch im Saarland, in Bayern und im Hamburg, aber auch in Österreich und Luxemburg unterwegs gewesen und habe dort mit den bildungspolitisch Verantwortlichen zusammengearbeitet.
Online-Redaktion: Für Außenstehende ist es schwierig, die Kontroverse um die Hattie-Studie zu überschauen. Es gibt Vorwürfe, dass Aussagen aus der Studie teilweise so verkürzt dargestellt werden, dass sie das Intendierte nicht mehr treffen...
Zierer: Ich würde sogar noch weiter gehen: Da sind viel schwerwiegendere Fehler passiert. Beispielsweise gibt es die falsche Übersetzung von „open classroom“, bei dem Hattie eine Effektstärke von fast null festgestellt hat. Dieser Begriff wurde mit „offener Unterricht“ übersetzt und dann geschlussfolgert, dass ein solches Unterrichtsarrangement offenbar keinen Effekt auf die Schülerleistungen habe. Das ist eine völlig falsche Auslegung.
„Open classroom“ bezieht sich auf das Verändern der räumlichen Struktur im Klassenzimmer, zum Beispiel das Anordnen von Gruppentischen anstelle von Sitzreihen. Hier kommen die Studien zu dem Ergebnis, dass alleine diese räumlich-strukturellen Veränderungen keinen Effekt auf die Lernleistungen haben. Das lag daran, dass die Lehrpersonen ihren Unterricht genauso hielten wie zuvor und dieses neue Setting nicht nutzten, um ihren Unterricht anders zu gestalten. Offener Unterricht, wie wir ihn in Deutschland diskutieren, ist damit nicht zu vergleichen. Es gibt also in der Tat eine Reihe von Interpretationsfehlern, wenn Begriffe nicht korrekt übersetzt werden oder man sich nicht die Mühe macht, genau nachzulesen, was John Hattie zu bestimmten Punkten denn nun geschrieben hat.
Leider führt das häufig dazu, dass an den Kernbotschaften vorbeigeschrammt wird und man sich in Nebenschauplätzen verliert, ob Hattie an der Stelle denn nun richtig gerechnet hat oder wie jener Faktor anders zuzuordnen wäre. Das kann man machen. Hattie aber geht es vielmehr um die Geschichte hinter all diesen Faktoren. Um es am Beispiel offener Unterricht nochmal deutlich zu machen: Um erfolgreich zu unterrichten, ist es nicht so entscheidend, ob ich Frontalunterricht oder einen individualisierten Unterricht halte, sondern wichtiger ist es, wie und mit welchen Überzeugungen ich diesen Unterricht gestalte.
Online-Redaktion: Sie sind selbst als Lehrer an verschiedenen Schulen tätig gewesen, unter anderem in Australien. Welche Unterschiede haben Sie zwischen den Schulsystemen feststellen können?
Zierer: Um Unterschiede festzustellen, muss ich gar nicht auf Australien zurückgreifen. Ich war 2004 bis 2007 Lehrer an der Volksschule in Deining, also im ländlichen Bereich Bayerns. Dort gab es an der Schule kein einziges Kind mit Migrationshintergrund. Die Frage von Integration stellte sich damals folglich nicht, denn alle Schülerinnen und Schüler verfügten über einen ähnlichen Hintergrund. Als ich dann nach München an eine Schule an der Theresienwiese gewechselt bin, hatten dort geschätzt 40 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund. Das macht klar, wie unterschiedlich Schulen allein schon in Deutschland sind, Schulen, die nur 100 Kilometer voneinander entfernt liegen. Was in der einen Schule funktioniert, kann in der anderen nicht funktionieren.
Und dies gilt natürlich auch für einen Vergleich von Australien und Deutschland: Dort sind es wieder andere Kinder, die ganz andere Geschichten und individuelle Möglichkeiten mitbringen. Ein Schulsystem und besonders die Einzelschule muss diesen Gegebenheiten immer Rechnung tragen. Und dennoch: So unterschiedlich Schulen sind, es lassen sich allgemeine Kriterien für erfolgreichen Unterricht nennen. Auch die Kinder in Australien brauchen klare Ziele, eine intensive Lehrer-Schüler-Beziehung und Feedback, um in ihrem Lernprozess voranzukommen. Und sie brauchen eine passende Haltung des Lehrers, um motiviert zu werden. Da unterscheiden sich die beiden Länder nicht voneinander.
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