Eltern und Schule in Dänemark : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg, Peer Zickgraf
Seit mehr als 30 Jahren verpflichtet das dänische Schulgesetz die Schulen, eng mit dem Elternhaus zu kooperieren. Prof. Lars Holm, Erziehungswissenschaftler an der Universität Aarhus, berichtet im Interview, wie diese Zusammenarbeit funktioniert.
Online-Redaktion: Herr Holm, welchen Einfluss hatte die PISA-Studie in Dänemark?
Lars Holm: Einen sehr großen. Es sind viele Initiativen gestartet worden, nachdem die PISA-Studie - analog zu Deutschland - nicht die besten Resultate präsentiert hatte. Die schwachen Ergebnisse haben zu hauptsächlich zwei Maßnahmen geführt. Zum einen beginnt man, Schulen verstärkt zu evaluieren. Zum anderen sind die ganztägigen Schulversuche gestartet worden.
Online-Redaktion: Was erhoffen sich die Politiker und die Schulverwaltung von Ganztagsschulen?
Holm: Man möchte mehrere Dinge erreichen. Auf der einen Seite sollen Kinder mit Migrationshintergrund bessere Schulleistungen erreichen können, auf der anderen Seite sollen die Integration und die Zusammenarbeit mit dem Elternhaus ebenso verbessert werden wie die Gesundheitserziehung der Kinder. In den Konzepten, welche die Schulen einreichen mussten, liest man ganz unterschiedliche Motive, aber das Hauptziel ist sicherlich die Verbesserung der Schulleistungen.
Das Programm wird derzeit noch evaluiert. Die Politiker diskutieren über eine Verlängerung dieser Schulversuche und eine Etablierung der Ganztagsschulen als ganz normalen Teil des Schulsystems. Darüber sind noch keine Entscheidungen gefällt worden, aber ich bin sicher, dass sich, wenn Sie mich in einem Jahr noch einmal fragen würden, die Situation geklärt hat.
Online-Redaktion: Können Sie uns das dänische Schulsystem in groben Zügen beschreiben?
Holm: Das dänische Schulsystem ist mit dem deutschen vergleichbar. Es gibt eine Gemeinschaftsschule bis zur neunten oder zehnten Klasse, der sich eine dreijährige Gymnasialzeit anschließt. Ganztagsschulen sind bisher nur als Schulversuche zu finden, und zwar ausschließlich in der gebundenen Form. Es ist ein Experiment, das in drei bis vier Kommunen und zwölf Schulen stattfindet - allesamt in Gegenden, in denen viele Kinder aus ethnischen Minderheiten leben.
Online-Redaktion: Heißt dass, das es in Dänemark eigentlich ein Halbtagsschulsystem gibt?
Holm: Als solches würde man es nicht bezeichnen. In den ersten Jahren ist es das prinzipiell, aber von der vierten Jahrgangsstufe an nimmt die Stundenzahl bis auf in der Regel 30 Wochenstunden zu.
Online-Redaktion: Das ist interessant, denn in Deutschland haben wir den Eindruck, dass nur die Österreicher und wir über ein Halbtagsschulsystem verfügen und all die anderen europäischen Länder Ganztagsschulen besitzen.
Holm: Wenn Sie die europäische Bildungslandkarte genauer studieren, werden Sie sehen, dass die deutsche Tradition in Dänemark und in einem gewissen Maß auch in Norwegen und Schweden vorhanden ist. Es gibt eine osteuropäische und eine britisch-französische Tradition, aber in der Mitte unseres Kontinents ist die Tradition des Halbtagsschulsystems verwurzelt.
In Dänemark hängt das mit dem historischen Hintergrund eines Agrarstaats zusammen. Die Eltern benötigten die Arbeitskraft ihrer Kinder und waren nicht daran interessiert, dass diese viele Stunden am Tag zur Schule gingen. Viele Jahre lang war es in den ländlichen Gebieten üblich, die Kinder nicht jeden Tag, sondern nur alle paar Tage in die Schule zu schicken.
Online-Redaktion: Wie funktionieren die so genannten School-Home-Cooperations in Dänemark?
Holm: Ich halte es für ziemlich einmalig, dass seit 1974 im Schulgesetz steht, dass die Grundschulen die Verfasstheit und den Wissensstand der Kinder in Zusammenarbeit mit den Eltern verbessern sollen. Dies wird bereits im ersten Satz erwähnt. Ich glaube nicht, dass man das in vielen anderen Ländern so finden wird. Seit 1974 dauert die Diskussion darüber an, wie diese Kooperation umzusetzen und weiterzuentwickeln ist. Der Gesetzgeber hat einige Punkte vorgegeben: Die Schulen müssen eine Vertretung mit Eltern und Schülerinnen und Schülern wählen lassen. Es muss Schul-Eltern-Gespräche und Klassentreffen mit Eltern geben.
In dieser Bildungszusammenarbeit werden die Eltern grundsätzlich als Partner wahrgenommen. Eines der wichtigsten Elemente in dieser Konstruktion ist für die meisten Eltern wahrscheinlich das Schule-Eltern-Gespräch, das die Mehrheit zweimal im Jahr wahrnimmt. Nicht alle Eltern kommen zu Klassentreffen oder Schulversammlungen, nicht alle sind so engagiert, sich als Elternvertreter wählen zu lassen. Das ist ja auch leicht erklärlich: Die Schule-Eltern-Gespräche drehen sich konkret um das eigene Kind. Aber wenn es um die Klasse oder Schule insgesamt geht, lässt das Interesse nach.
Online-Redaktion: Ist die Teilnahme an den Schule-Eltern-Gesprächen verpflichtend oder freiwillig?
Holm: Freiwillig - jedenfalls nicht verpflichtend in dem Sinne, dass die Eltern von der Polizei gesucht werden, wenn sie nicht erscheinen. Den meisten Schulen, Lehrern, Eltern und auch Kindern ist aber sowieso daran gelegen, dass diese Gespräche stattfinden. Die Lehrerinnen und Lehrer geben die Einladungen an die Eltern zu diesen Gesprächen entweder den Kindern mit, oder sie schicken sie mit der Post, oder sie rufen die Eltern an. Ihnen ist daran gelegen, dass die Eltern kommen. In manchen Gegenden ist es auch üblich, dass die Lehrerinnen und Lehrer um Erlaubnis bitten, die Eltern zu Hause zu besuchen. Das funktioniert recht gut, und viele Lehrkräfte betonen, wie wichtig es ist, das Zuhause der Schülerinnen und Schüler zu sehen, um ein besseres Verständnis für ihren Hintergrund zu erlangen.
Online-Redaktion: Ist die School-Home-Cooperation ein landesweit einheitliches Programm?
Holm: Es wird überall mehr oder weniger gleich organisiert, aber die Inhalte zum Beispiel der Schule-Eltern-Gespräche können variieren. Der Gesamtrahmen ist verbindlich für alle Schulen und Teil der Abmachungen zwischen Schulen, Lehrkräften und Gemeinden. Diese zwei Treffen mit den Eltern pro Jahr sind schlicht ein Teil des Arbeitspensums der Lehrerinnen und Lehrer, zu der sie ihr Beruf verpflichtet.
Online-Redaktion: Warum möchte man die Eltern so stark einbinden?
Holm: In den 1970er Jahren gab es ganz klar den Wunsch, Gesellschaft und Bildungssystem auf allen Ebenen zu demokratisieren. In dieser Zeit erlaubte ein Gesetz sogar den Studenten, viel Einfluss auf die Universitäten zu nehmen. Dieses Gesetz existiert nicht mehr. Doch in den 1970ern bestand das Bestreben, eine Gesellschaft zu entwickeln, in der die Bürger an demokratischen Entscheidungen auf allen Ebenen einschließlich des Schulsystems mitwirken können.
Online-Redaktion: Wie beeinflussen die Eltern heute die Schulen?
Holm: Ganz allgemein können die Eltern durch ihre Wahlentscheidungen einen Einfluss nehmen: auf nationaler Ebene für eine der Parteien und deren spezifisches schulpolitisches Konzept oder auf Gemeindeebene und in den Schulversammlungen. Sehr direkt können sie ihren Einfluss in den Schule-Eltern-Gesprächen ausüben, indem sie den Lehrerinnen und Lehrern ihre Ansichten und das für sie Wesentliche vermitteln. Und sie können Einfluss nehmen, wenn sie ihre Kinder aus der Schule abmelden, mit deren Arbeit sie nicht mehr zufrieden sind.
In Dänemark hat man seit einigen Jahren die Möglichkeit, die Schule frei zu wählen. Wenn man mit seiner örtlichen Schule nicht zufrieden ist oder glaubt, die Nachbarschule sei besser, kann man sein Kind an einer anderen Schule anmelden. Und da wir gerade nicht allzu viele Schülerinnen und Schüler haben, findet sich auch immer ein freier Platz. So wechseln Eltern recht häufig die Schule - und zwingen diese dadurch, sich zu verändern.
Online-Redaktion: Warum halten Sie die Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern für notwendig?
Holm: Weil wir es hier mit der Sozialisation von Kindern zu tun haben. Die Schule ist wohl eine der wichtigsten Sozialisationsinstitutionen der Gesellschaft. In einer demokratischen Gesellschaft ist es wesentlich, dass ein Dialog zwischen Schule und Lehrern, Vorgesetzten, Eltern und Schülern - also allen am Schulleben Beteiligten - stattfindet.
Demokratisierung und Kooperationen auf der Ebene der einzelnen Schule können durch aktive Partizipation die soziale Integration verbessern. Es ist wichtig festzuhalten, dass die Erziehung von Kindern die gemeinsame Aufgabe von Elternhaus und Schule ist, dass beide ihren Teil dazu beitragen müssen. Und auch aus der Sicht des Kindes ist es wichtig zu wissen, dass diese Zusammenarbeit stattfindet.
Online-Redaktion: Halten Sie die in Deutschland aufgebauten Ganztagsschulen für einen Weg, das Schulsystem zu verbessern?
Holm: Mehr Schulstunden bieten mehr Möglichkeiten, besonders für Kinder mit Migrationshintergrund, und die verschiedenen Ganztagsmodelle in Deutschland weisen mehr Flexibilität auf als diejenigen in Dänemark. In vielen Bezirken und unter ganz unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen haben die Ganztagsschulen die Chance, die schulischen Leistungen der Kinder verbessern zu helfen. Je länger die Schule täglich dauert, desto wichtiger wird allerdings auch die Zusammenarbeit mit dem Elternhaus. Das rührt an der alten Diskussion, wem die Kinder gehören: Der Schule oder dem Elternhaus.
Je mehr Zeit die Kinder in öffentlichen Einrichtungen verbringen, desto wesentlicher wird es, einen Dialog mit diesen Einrichtungen zu führen, um den Stimmen der Kinder Gewicht zu verleihen. Wir benötigen diesen intensivierten Austausch aller Beteiligten über die Weiterentwicklung dieser Institutionen in der Zukunft noch dringlicher. Schulen und Ganztagsschulen müssen demokratische Organisationen sein, in denen man etwas über die Gesellschaft lernt. Besonders in den Ganztagsschulen besteht die Zeit und die Möglichkeit, Schülerinnen und Schülern demokratische Rechte einzuräumen. Es ist eine ziemlich gute Idee, dies zu versuchen.
Online-Redaktion: Welche Aufgabe kommt der Forschung in diesem Gebiet zu?
Holm: Wir könnten von genaueren Untersuchungen lernen, wie Schulen gestaltet werden. Man könnte sich da viele verschiedene Forschungsstrategien ausdenken. Eine Forschung, die uns in den letzten Jahren viel beschäftigt hat, waren die PISA-Erhebungen. Aber das ist nur ein Baustein. Meiner Ansicht nach wäre es viel gewinnbringender, die Abläufe in den Schulen zu vergleichen. Eine Schule zu leiten, ist ein komplexer Prozess. Wie läuft dieser in den Schulen genau ab?
Das wäre ein qualitativer, kein quantitativer Vergleich. Man benötigt sowohl eine Evaluation der Schulen von oben nach unten wie von unten nach oben, um sie weiterzuentwickeln. Momentan hat meiner Ansicht nach die Evaluation von oben nach unten die höchste und eine möglicherweise zu hohe Priorität. Ich würde mich auch für den umgekehrten Weg aussprechen. Ich lese Ihre Website sehr häufig und sehe, dass gegenwärtig viele interessante Diskussionen im Gang sind.
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