DJI-Studie "Individuelle Förderung in der Grundschule" : Datum: Autor: Autor/in: Petra Schraml

Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) München führte in der Zeit vom 01.05.2005 bis zum 31.10.2007 die Studie "Individuelle Förderung in ganztägig organisierten Schulformen im Primarbereich" durch. Mit Kindern, Eltern, Lehrern und weiterem beteiligten Betreuungspersonal von sechs ausgewählten Ganztagsschulen in der Bundesrepublik wurden leitfadengestützte Interviews geführt, um deren Erfahrungen und Deutungsmuster zum Schul- und Betreuungsalltag sowie zu den Förderangeboten zu erfassen.

Porträtfoto: Dr. Elke Kaufmann
Dr. Elke Kaufmann

Online-Redaktion: Die Studie "Individuelle Förderung in ganztägig organisierten Schulformen des Primarbereichs" wurde an sechs Grundschulen durchgeführt. Welche Formen individueller Förderung haben sie an den Ganztagsschulen untersucht?

Kaufmann: Unsere Untersuchung beschäftigte sich mit dem gesamten Spektrum des Angebots individueller Förderung im Ganztagsprogramm an den beteiligten Grundschulen: mit dem Unterricht, mit zusätzlichen fachspezifischen Fördermaßnahmen außerhalb des Unterrichts, mit der Hausaufgabenbetreuung und den freien Angeboten, die im Ganztag vorgehalten werden. Wie individuelle Förderung umgesetzt wird, hängt von der einzelnen Schule und von der Angebotsform ab, das ist also sehr unterschiedlich.

Unter den sechs Ganztagsschulen in unserem Sample gab es offene und gebundene Ganztagsschulen. Gebundene Klassenzüge ermöglichen beispielsweise durch den rhythmisierten Tagesablauf die Integration der Hausaufgaben in den Unterricht, während das Programm an den offenen Ganztagsschulen des Samples jeweils additiv aufgebaut war: Freie Angebote und Hausaufgaben finden dann am Nachmittag statt.

Online-Redaktion: Für die Untersuchung wurden Kinder mit unterschiedlichen schulischen Leistungen und familiären Ausgangsbedingungen ausgewählt. Wie werden die Förderangebote auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kinder abgestimmt?

Kaufmann: An den beteiligten Schulen wurden zum größten Teil bereits offene Unterrichtsmethoden umgesetzt, um die heterogenen Lernausgangsbedingungen in der Schülerschaft zu berücksichtigen. Allerdings hat sich in den beteiligten Schulklassen ein unterschiedliches Ausmaß in der Verwirklichung offener Unterrichtsmethoden gezeigt. In einigen der teilnehmenden Klassen gab es vielfältig eingesetzte Methoden wie Werkstattarbeit, Projektarbeit, Partnerarbeit und Teamwork, zum Teil auch in jahrgangsübergreifenden Gruppen, in anderen Klassen hingegen wurde noch stärker oder ausschließlich am Frontalunterricht festgehalten. Der größte Teil der befragten Lehrerinnen und Lehrer zeigte sich sehr engagiert, was die Individualisierung der Unterrichts- und Lernmethoden betrifft.

Trotzdem zeigt sich deutlich, wie Lehrkräfte in ihren Bestrebungen individuelle Förderung konsequent umzusetzen, immer wieder an Grenzen stoßen. Ein zentrales Thema für Lehrkräfte ist hier der Umgang mit Leistungskontrollen und Bewertungen in Form von Noten. Die Lehrkräfte sollen zum einen alle Kinder gleichermaßen auf das erwartbare Leistungsniveau der weiterführenden Schule vorbereiten, zum anderen aber die individuellen Bedürfnisse und die Verschiedenheit der Kinder in der Unterrichtspraxis berücksichtigen. Das Austarieren dieses Spannungsverhältnisses der Erfordernisse von Gleichbehandlung einerseits, Anerkennung von Differenz andererseits ist die Basisherausforderung jeglicher Form von individueller Förderung im schulischen Kontext.

Es zeigt sich darüber hinaus, dass auch bei den Kindern und ihren Eltern mit zunehmender Nähe des Übertritts in die Sekundarstufe I die individuelle Leistungsorientierung ganz deutlich in den Vordergrund rückt. Während beide Akteursgruppen sich in der dritten Klasse noch äußerst positiv und befürwortend zu reformpädagogischen Unterrichtselementen und zu partizipativ orientierten pädagogischen Ansätzen im Unterricht äußerten, zeigten dieselben befragten Eltern sowie zum Teil auch die Kinder selbst zum Ende der 4. Klasse eine veränderte Haltung: Elemente wie Morgenkreise, Klassenkonferenzen und Lernpartnerschaften - vor allem zusammen mit leistungsschwächeren Kindern - werden zum Ende der Grundschulzeit als Lern- und Leistungsbremsen im Hinblick auf das Erreichen der Übertrittsanforderungen wahrgenommen.

Entscheidend ist hier als Begründung aber nicht eine plötzliche Ablehnung solcher reformpädagogischer Elemente an sich, sondern der Blick auf die Leistungsnorm im Sinne der Übertrittsanforderungen.

Online-Redaktion: Wie beeinflussen spezifische Förderangebote im Unterricht Erfolge und Misserfolge der Schülerinnen und Schüler?

Kaufmann: Zunächst ist zu sagen, dass wir keine Kausalzusammenhänge untersucht haben. Uns ging es um soziale Zuschreibungsprozesse aus Sicht der Akteure: Wo sehen sie selbst Ge- und Misslingensbedingungen individueller Förderung? Eine Gelingensbedingung stellt dabei, unseren Befunden zu Folge, die Integration partizipatorischer Ansätze in die Unterrichtsgestaltung dar. Kinder betrachten zum Beispiel die Möglichkeit der freien Themenwahl je nach Interesse als starken Anreiz, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen. Auch Eltern sehen in diesem Zusammenhang, wie sich das Interesse des Kindes an einem Thema positiv auf die selbstständige Auseinandersetzung mit dem Lernstoff und das Engagement des Kindes auswirkt. Auch die Anerkennung durch die Lehrkräfte ist den Kindern sehr wichtig. Lob und Bestätigung durch den Lehrer oder die Lehrerin werden in den Interviews mit den Kindern häufig als wichtige, bestätigende Erlebnisse im Schulalltag hervorgehoben.

Gerade im Hinblick auf offene und selbstregulative Unterrichtsformen ist zu sagen, dass hier auch das Einüben und Trainieren von Lernmethoden und -techniken eine wichtige Rolle spielt. Lehrkräfte, die regelmäßig an Fortbildungen zum Themenkreis "Offener Unterricht/Individualisierung" teilnehmen, sehen in höherem Maße als andere Lehrkräfte, dass Kinder einen hohen Übungsbedarf in selbstregulativen Lernmethoden haben.

Online-Redaktion: Wie werden zusätzliche Förderangebote von den unterschiedlichen Akteuren wahrgenommen?

Kaufmann: Wir haben festgestellt, dass Förder- und Nachhilfestunden, in denen einzelne Kinder für alle sichtbar aus ihrem Klassenverband temporär herausgenommen werden, von Kindern und Eltern als sehr stark stigmatisierend erlebt werden. Der Klassenverband als Sozialsystem und die Anerkennungsverhältnisse in dieser Gruppe spielen für Kinder eine wichtige Rolle und das Abweichen als Nachhilfeschüler wird dahingehend als sehr problematisch wahrgenommen. Im extremen Fall führt das dazu, dass Eltern das Kind dann trotz Förderbedarf aus der Förderung herausnehmen, um es nicht der Stigmatisierung auszusetzen.

Die befragten Lehrkräfte hingegen bekamen diese Stigmatisierungsbefürchtungen seitens der Kinder so nicht in den Blick und deuteten deren verweigerndes bzw. vermeidendes Verhalten als Motivationsdefizit oder geben an, die Kinder wollten halt lieber spielen. Interessant ist auch, dass sich die Stigmatisierungsbefürchtungen nicht nur auf Kinder beziehen, die an Defizit orientierten Fördermaßnahmen teilnehmen, sondern auch auf Kinder in der Begabtenförderung. Abweichungen von den anderen werden aus Kindersicht in beide Richtungen als problematisch erlebt.

Online-Redaktion: Welche Rolle spielen die Hausaufgaben? Wie unterscheidet sich die Sichtweise der Lehrer, Schüler und Eltern?

Kaufmann: Die Schulen, die wir untersucht haben, besaßen ganz unterschiedliche Gestaltungsformen der Hausaufgabenorganisation. Wir hatten sowohl Ganztagsklassen, bei denen die Hausaufgaben täglich verbindlich zum nächsten Tag aufgegeben wurden, im Sample als auch Schulen, die Hausaufgaben sehr selbstregulativ mit Wochenplänen angehen. Wieder andere Schulen verlegten die Hausaufgaben in den rhythmisierten Schulalltag.

Was sich allgemein herausgestellt hat, ist, dass Hausaufgaben aus der Sicht aller Akteure ein sehr hohes Konfliktpotenzial bergen. Sie führen zu Spannungen und werden oft als problematisch eingeschätzt. Wochenpläne beispielsweise funktionieren aus Sicht der Lehrkräfte fast nur dann, wenn Eltern ihre Kinder bei der Organisation der Aufgabenerledigung begleiten können. Die Integration der Hausaufgabenlösung in den rhythmisierten Ganztag wird von den Akteuren sehr unterschiedlich gesehen. Gerade berufstätige Eltern nehmen es oft als entlastend wahr, wenn ihre Kinder zu Hause keine Hausaufgaben mehr machen müssen. Ein großer Teil der Eltern merkt dann jedoch an, dass mit dem Wegfall klassischer Hausaufgaben für sie auch eine Einblickmöglichkeit in die schulischen Belange des Kindes verloren geht. Problematisch ist bei dieser Variante, dass Kinder, die ein langsameres Lerntempo haben, oft Aufgaben mit nach Hause nehmen. Der schulische Anspruch, die Hausaufgaben abgeschafft zu haben, wird von Kindern und Eltern in diesem Kontext dann auch durchaus als Mogelpackung identifiziert.

Was sich auch gezeigt hat, ist, dass das Hausaufgabenverständnis zwischen Eltern und Lehrkräften oft ein ganz unterschiedliches ist. Gerade wenn die Hausaufgabenbetreuung kostenpflichtig ist, legen Eltern verstärkt wert darauf, dass die Hausaufgaben vollständig, sauber und "richtig" mit nach Hause gebracht werden. Lehrkräfte betonen hingegen den Aspekt, die bei der Aufgabenerledigung eingeschlagenen Lösungswege nachvollziehen zu können und verbieten daher z. B. die Benutzung des Tintenkillers; ein sauberes Schriftbild ist dabei für sie ein bestenfalls nachgeordnetes pädagogisches Ziel. Was deutlich wurde ist, dass eine wertschätzende Beziehung zwischen Lehrkraft und Eltern eine wesentliche Gelingensbedingung ist, wenn es um die elterliche Bereitschaft dazu geht, das eigene Hausaufgabenverständnis zu überdenken und zu verändern.

Online-Redaktion: Welche Bildungserträge sehen die unterschiedlichen Akteure im freien Angebot im Ganztag?

Kaufmann: Die Studie zeigt, dass es kein gemeinsames Verständnis zu den Bildungserträgen des freien Angebotes gibt. Die Lehrkräfte sehen die Bildungserträge vorwiegend in einer Transferleistung im Sinne der Festigung kognitiver Wissenselemente aus dem Unterricht. Die pädagogischen Fachkräfte sehen ihren Beitrag darin, in Bereichen zu wirken, die über die kognitive Wissensvermittlung im Unterricht hinausgehen. Sie fokussieren soziale Kompetenzen, den Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten, auch die Förderung von Selbstständigkeit und des Selbstwertgefühls. Eltern legen oft einen besonderen Wert auf die qualitativ hochwertige Anleitung der Angebote und AGs.

Was sich für Kinder aus sozial benachteiligten Familien hemmend und problematisch auswirkt, ist die Kostenpflichtigkeit einzelner Angebote. Dabei ist es für die Kinder keine Lösung, noch zwischen anderen, kostenfreien Angeboten auswählen zu können, wenn ihnen der Zugang zu dem sie interessierenden - kostenpflichtigen - Angebot verwehrt bleibt. Die Kostenpflichtigkeit von Ganztagsangeboten müsste schon aus dieser Kinderperspektive her gesehen, aber auch aufgrund ihrer Stigmatisierungsfolgen und der dadurch beförderten sozial selektiven Angebotsnutzung komplett abgeschafft werden und ist wissenschaftlich ganz einfach nicht vertretbar.

Online-Redaktion: In der Studie wurde sichtbar, dass Konflikte für das Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler eine nicht unwichtige Rolle spielen. Inwiefern beeinflussen Konflikte und Arten der Konfliktbewältigung das individuelle Lernverhalten der Schüler?

Kaufmann: Aus Sicht der Kinder und Eltern nimmt der Umgang mit Konflikten einen wesentlichen Stellenwert ein, gerade wenn es um das kindliche Wohlbefinden an der Schule geht. Während unserer Befragung wurde deutlich, dass die Kinder Konflikterlebnisse und damit verbundene Problemlagen immer wieder einbringen, obwohl wir zunächst gar nicht danach gefragt haben. Deshalb haben wir dem Thema Konflikte in der zweiten Erhebungswelle ganz gezielt Aufmerksamkeit geschenkt. Kinder und auch Eltern berichteten häufig von Konflikten unter den Schülern und auch ganz oft zwischen Kindern und Lehrern.

Es kam oft vor, dass Schüler sich von der Lehrkraft ungerecht behandelt fühlten, wenn sie sich mit der Bitte um Unterstützung an diese wandten, die Lehrkraft das Kind dann aber auf sich selbst zurück verwies. Die Kinder interpretieren das als Ablehnung der eigenen Person. Lehrkräfte schilderten dasselbe Verhalten hingegen als pädagogisches Handlungskonzept, um die Selbstständigkeit der Kinder zu fördern. Wenn Lehrer nicht merken, dass die Kinder solche Zurückweisungen auf die eigene Person beziehen und als Ablehnung empfinden, führt dies nicht selten zu deren Rückzug aus dem Unterrichtsgeschehen. Aber auch Konflikte unter Kindern nehmen einen hohen Stellenwert ein. Das sind oft Hänseleien, aber auch körperliche Übergriffe, und auch hier reagieren die betroffenen Kinder mit Rückzug und Schulvermeidung.

Online-Redaktion: Inwieweit leisten die erweiterten Möglichkeiten individueller Förderung in Ganztagsschulen einen Beitrag zur Verbesserung der Bildungschancen unterschiedlicher Adressatengruppen?

Kaufmann: Verbesserte Bildungschancen ergeben sich zwar dadurch, dass die Lehrer zusehends neue Wege einschlagen und offene Unterrichtsmethoden umsetzen. Trotzdem stößt die konsequente pädagogische Prozessorientierung wie gesagt an jene Grenzen, welche sich bei einer leistungsindividualistischen Organisation des Schulsystems zwangsläufig ergeben. Ein Aspekt, der sich erschwerend auswirkt, ist die Ressourcenfrage. Die Lehrer und pädagogischen Fachkräfte sehen aufgrund des Mangels personeller Ressourcen Schwierigkeiten in der Umsetzung offener Unterrichtsformen. Gerade um die Möglichkeiten und Spielräume zu nutzen, die Ganztagsschule bietet - indem man zum Beispiel pädagogische Fachkräfte als Zweitkräfte in das Unterrichtsgeschehen einbezieht, um besser auf einzelne Kinder eingehen zu können -, fehlt es an ausreichendem Personal.

Aber auch die Zusammenarbeit zwischen den Lehrern und pädagogischen Fachkräften sowie eine gemeinsame Definition von Bildungserträgen erweist sich als ein Aspekt, der noch weiterer Entwicklung bedarf. Vor allem seitens pädagogischer Fachkräfte wird dafür plädiert, die Zusammenarbeit mit den Lehrkräften gerade im Hinblick auf die individuelle Förderung, zu intensivieren. Besonders in additiv angelegten Organisationsformen weisen die professionellen Akteure häufig auf mangelnde Möglichkeiten der Kontaktaufnahme hin, da die Lehrkräfte die Schule nach dem Unterricht verlassen, bevor die pädagogische Fachkraft ihre Arbeit aufnimmt.

Gerade im Hinblick auf individuelle Förderung und die Umsetzung offener Lernmethoden spielen regelmäßige Fort- und Weiterbildungen für die Lehrkräfte eine entscheidende Rolle. Zentral ist dies vor allem, wenn es darum geht, wie gut es Lehrern und Lehrerinnen gelingt, die wesentliche Umdefinition ihrer professionellen Rolle vom "Instrukteur" hin zum Moderator von Lernprozessen und Berater vollziehen zu können.

Dr. Elke Kaufmann promovierte nach Berufstätigkeit als Diplom-Sozialpädagogin (FH) im Fach Soziologie an der LMU München und ist seit Februar 2007 wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut e.V. in München. Abgeschlossene Projekte: Individuelle Förderung in ganztägig organisierten Schulformen des Primarbereichs. Aktuelles Projekt: Die soziale Konstruktion der Hausaufgabensituation

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