„Digitale Zeiten sind die Alltagswelt der Schülerinnen und Schüler“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Es gibt Studien, die negative Effekte der Mediennutzung finden, aber mindestens ebenso viele, die klar die Ressourcen digitaler Medien für Kinder und Jugendliche belegen. Prof. Dagmar Hoffmann forscht dazu an der Universität Siegen.
Online-Redaktion: Frau Prof. Hoffmann, wie hat sich die Mediennutzung von Jugendlichen im letzten Jahrzehnt verändert?
Dagmar Hoffmann: Die Zahlen gehen in Summe leicht nach oben. Es gibt dabei eine Verlagerung in die Sozialen Medien und zu Video-Portalen wie YouTube. Diesen Kanal nutzen Jugendliche nicht nur zur Unterhaltung, sondern verstärkt auch zu Bildungszwecken, etwa um sich schulisches und/oder politisches Wissen anzueignen. Die Internetnutzung ganz genau zu bestimmen, ist allgemein allerdings schwierig, denn vieles ist im Stand-by-Modus theoretisch nutzbar. Das Handy ist immer eingeschaltet und überall dabei. Diese mobile Medienpraxis wird in einem lesenswerten Essay von Professor Peter Vorderer und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der Universität Mannheim als „Permanent online, permanent verbunden“ recht gut beschrieben.
Im Grunde haben wir es mit einer völlig neuen Nutzungsweise zu tun, die nicht mehr mit den Medientheorien korrespondiert, die uns lange zuverlässig zur Verfügung gestanden haben. Da wurde noch sehr in distribuierenden Medien - mit einem Sender und vielen Empfängern - gedacht. Das hat sich sehr verändert, weil sich inzwischen jeder einbringen und vernetzen kann. Jeder und jede kann zu einer Medienproduzentin oder einem Medienproduzenten werden, das heißt über verschiedene Portale und Anwendungen, Blogs oder Soziale Medien Medieninhalte in Form von Bildern und/oder Text erzeugen und für andere bereitstellen. Aber nichtsdestotrotz hat für Jugendliche das Fernsehen auch weiterhin noch einen hohen Stellenwert und genießt nach wie vor den Charakter eines Leitmediums, und vor allem gilt es, wie aktuelle Studien zeigen, als glaubwürdiges Medium.
Online-Redaktion: Nehmen Jugendliche die Realität heute anders wahr, weil sie viele Alltagserfahrungen bereits auf dem Bildschirm „durchlebt“ haben?
Hoffmann: Das denke ich nicht, denn es handelt sich um kein neues Phänomen. Viele unserer Wirklichkeitserfahrungen haben wir auch schon vor dem digitalen Zeitalter über Medien gemacht. Früher geschah dies hauptsächlich über Druckerzeugnisse, später spielte dann das Fernsehen eine große Rolle. Die erste Beerdigung – ein Beispiel, das ich gerne in meiner Vorlesung anführe – hat man meistens schon medial erlebt, bevor man selbst bei einer dabei ist. Das Geschehen ist dann nicht ganz fremd, sondern die Abläufe werden durch verschiedene mediale Formate repräsentiert.
Ein weiteres Beispiel ist das erste Bewerbungsgespräch. Man hat durch die medialen Erfahrungen immer schon die Abläufe in etwa im Kopf. Der Unterschied zur nicht digitalen Vergangenheit ist, dass die Jugendlichen heute schneller und leichter im Internet recherchieren können und solche Erlebnisse durch Erfahrungsberichte unter anderem in Internet-Foren oder über Soziale Medien präsenter sind.
Online-Redaktion: Jede Schule muss entscheiden, wie sie mit der Smartphone-Nutzung umgeht. Wie sehen Sie diese Diskussionen?
Hoffmann: Ich habe den Eindruck, dass das Handy oft als Sündenbock herhalten muss. Diese Sündenbockfunktion hat es schon immer gegeben: Früher waren es Comics und bestimmte Fernsehformate, dann Videospiele, jetzt ist es das Smartphone. Oft wird behauptet, dass, seitdem es mehr Medien gibt, die Kinder hyperaktiver geworden sind. Doch solche Kausalzusammenhänge sind oftmals äußerst fragwürdig. Man verkennt dabei die gesamtgesellschaftliche Entwicklung: Die Anforderungen, die an Kinder und Jugendliche heute gestellt werden, sind deutlich komplexer als etwa vor 30 Jahren. Die Ursachen für die beobachtete Unruhe und Hyperaktivität sind sicherlich vielfältig. Man denke an den zunehmenden Leistungsdruck, Ansprüche des sozialen Umfeldes sowie auch an überhöhte Selbstverwirklungsansprüche.
Online-Redaktion: Die Sündenbockfunktion ist aber in der Öffentlichkeit sehr präsent.
Hoffmann: Es ist halt relativ schwierig, plakativen Thesen, Schlagwörtern wie „Digitale Demenz“ und monokausalen Ausführungen etwas entgegenzuhalten. Die dystopischen Szenarien, die pessimistischen Annahmen über die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, die oftmals angeführt werden, mögen für Verantwortliche zuweilen etwas Entlastendes haben und somit halten sie gern daran fest. Nicht selten findet man sich in ihnen ja auch wieder: Die häufige Nutzung von Navigationssystemen schwächt den Orientierungssinn oder lässt einen das Kartenlesen verlernen. Handy-Speicher machen es überflüssig, Telefonnummern zu behalten.
Die sozialwissenschaftliche Medienforschung ist in jedem Fall deutlich komplexer, als sie im öffentlichen Diskurs dargestellt wird. Und es gibt viele verschiedene Forschungszugänge, sei es in der Medienpädagogik, in der Erziehungswissenschaft, in der Soziologie und Kulturwissenschaft. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen, die Komplexität der Mediennutzung möglichst in einer Langzeitperspektive zu erfassen und zu erklären, biografische Erfahrungen und die Sozialisation und auch den Wandel von Technologien zu berücksichtigen. Als kleines Beispiel: Wie eignet man sich welches Wissen an? Wer ist dabei in welchem Umfeld wie relevant? Wie nachhaltig ist die jeweilige Wissensaneignung?
Manche Publikationen zum Thema, die in der Medienöffentlichkeit diskutiert werden, basieren gar nicht auf eigener Forschung, und bei der Vielzahl von Studien findet man natürlich sowieso immer welche, die vornehmlich negative Effekte der Mediennutzung beschreiben. Aber genauso könnten sich Studien zitieren lassen, welche die Ressourcen betonen. So gibt es Studien, die belegen, dass Computerspiele logisches Verständnis, strategisches Handeln oder eine analytische Denkfähigkeit unterstützen. Sich selektiv auf negative Studienergebnisse zu konzentrieren, ist hochgradig problematisch.
Online-Redaktion: Ist dann folglich auch die Wirkung in der Öffentlichkeit problematisch?
Hoffmann: In Vorlesungen, die ich für Lehramtsstudierende gehalten habe und auch in Lehrerfortbildungen, kannten alle die Thesen von der digitalen Demenz. Manche fanden, dass da was Wahres dran sei, denn sie könnten das schließlich auch beobachten. Gerade in der Schule werden die Nutzung von Medien und die mutmaßlichen Wirkungen aber oft auch nur oberflächlich wahrgenommen. Weniger berücksichtigt werden die Motive und Hintergründe der Zuwendung zu Medien. Kaum jemand interessiert sich im schulischem Kontext für das Expertenwissen, das sich einige Jugendliche durch bestimmte Medien aneignen. Und was weiß man jeweils über die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler, über ihre Problem- und Entwicklungsbewältigung mit Hilfe des Smartphones? Es wäre viel wichtiger, dem nachzuspüren und nicht immer gleich zu bewerten und global negativ zu urteilen.
Online-Redaktion: In Schulen wie auch in Familien wird diskutiert, wie lange ein Kind oder ein Jugendlicher am Tag das Smartphone oder das Tablet nutzen oder vor dem Computer sitzen darf. Gibt es ein richtiges Maß?
Hoffmann: Ich bin mit diesen Fragen auch häufig konfrontiert und eine absolute Gegnerin von sogenannten Medienzeiten. Überlegen Sie sich mal, Sie spielten ein Quiz oder ein Strategiespiel oder legen gerade ein Profil in den Sozialen Medien an und Sie dürften nur einmal am Tag 60 Minuten dafür verwenden. Das ist absurd. Da habe ich möglicherweise gerade angefangen, mich mit etwas zu beschäftigen, und muss das dann abbrechen. Das wäre so, als wenn man sein Kind eine Ritterburg aufbauen lässt, und kaum ist sie aufgebaut und das Kind will mit dem Spielen beginnen, sagt man ihm: So, die Zeit zum Spielen ist jetzt um!
Auch die Gegenüberstellung von Spielen mit haptischen Gegenständen und den digitalen Medien halte ich für unsinnig. Es gibt tolle digitale Lernprogramme und Strategiespiele, und auch damit muss man sich länger als nur in abgesteckten Zeiträumen beschäftigen dürfen. Man muss mit dem Kind im Gespräch bleiben, statt digitale Medien pauschal zu verteufeln.
Online-Redaktion: Wie lassen sich digitale Medien sinnvoll in den Unterricht integrieren?
Hoffmann: Wissensaneignung ist eine Sache. Aber auch Recherchearbeit muss erlernt werden. Ich halte es für sehr wichtig, dass die Lehrkräfte die Schülerinnen und Schüler anleiten, wie sie sich Informationen im Internet beschaffen und wie diese zu bewerten sind. Die digitalen Medien erleichtern beispielsweise die Kollaboration, also die Zusammenarbeit, und das sogenannte Peer-to-Peer-Lernen, also das Lernen unter Gleichaltrigen. Es gibt unglaublich viele gute Erklärvideos und interaktive Aufgaben, die Spaß machen und den Unterricht auflockern.
Es entspricht vor allem der Alltagswelt der Schülerinnen und Schüler, die ja keine anderen als die digitalen Zeiten kennen. Lehrkräfte sollten da generell eine gewisse Experimentierfreude an den Tag legen. An der Universität – und das kann ich mir für Schulen ebenso vorstellen – schreiben wir zum Beispiel seit vielen Jahren Online-Klausuren. Studierende finden das sehr komfortabel und es macht mitunter einfach mehr Freude als eine Paper&Pencil-Klausur. Das Verfahren ist zudem sehr fair, da aufgaben- und nicht personenbezogen korrigiert wird. Als Prüferin beziehungsweise Prüfer weiß man nicht, wer hinter den Antworten steckt. Jeder hat hier unabhängig vom Vornamen oder den wechselseitigen Erfahrungen, die Lehrende und Studierende möglicherweise miteinander gemacht haben, die gleichen Chancen.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Kooperationen - Lokale Bildungslandschaften
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