"Der informelle Spracherwerb ist eine zentrale Herausforderung für die Grundschule" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Helfen Ganztagsschulen mit ihrem erweiterten Zeitbudget, Lernerfolge und Sprachkompetenzen von Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache und Kindern aus bildungsfernen Schichten zu stärken? Prof. Dr. Hans Merkens erläutert im Interview das auf drei Erhebungen angelegte Forschungsdesign.

Porträtfoto: Prof. Merkens
Prof. Dr. Hans Merkens

Online-Redaktion: Prof. Merkens, mit welcher Motivation haben Sie Ihr Forschungsprojekt "Ganztagsorganisation im Grundschulbereich" im Januar 2007 gestartet?

Hans Merkens: Wir haben vor diesem Projekt die "Belesen"-Studie durchgeführt, bei der die Lernfortschritte von Schülerinnen und Schülern in den Klassen 1 bis 4 erhoben wurden. Dabei interessierten uns besonders die Kinder mit Migrationshintergrund. Ein Ergebnis war, dass die Leistungen, welche die Schülerinnen und Schüler zu Beginn ihrer Grundschulzeit zeigten, sich in der Relation zueinander bis zum Ende der 4. Klasse nicht wesentlich verändert hatten. Letztlich waren das Vorwissen und die Persönlichkeitsmerkmale, welche die Kinder mit in die Schule eingebracht hatten, für ihr Fortkommen in der Grundschule maßgeblich. Dieses Ergebnis hat uns damals einigermaßen bestürzt, denn es war nicht zu erwarten, dass Leistungsdifferenzen einfach durch die Schulzeit transportiert werden.

In einer Teilstichprobe konnten wir darüber hinaus überprüfen, ob der Kindergartenbesuch einen Effekt auf die Lernfortschritte im Sprachstand hat. Es stellte sich heraus, dass sich ab der 3. Klasse ein zunehmender Effekt zeigte. Wir haben das damit zu erklären versucht, dass der Kindergartenbesuch zumindest durch mehr Zeit, in der die Kinder deutsch sprechen bzw. mit ihnen deutsch gesprochen wird, förderlich ist. Daraus entstand die Kernhypothese für die aktuelle Untersuchung: Die Zeit, die auf einen Unterrichtsgegenstand und hier speziell auf die Zielsprache Deutsch verwandt wird, ist förderlich für die Sprachkompetenz. Das entspricht der "time on task"-These des amerikanischen Psychologen John Carroll von 1963. Dies führte wiederum zu der Überlegung, dass man in der Ganztagsschule ähnliche Effekte beobachten müsste - einfach weil die Kinder hier länger zusammen sind und miteinander deutsch sprechen.

Online-Redaktion: Welche Rolle könnten Unterrichtsmethoden bezüglich der Lernentwicklung der Schülerinnen und Schüler spielen?

Merkens: Im "Belesen"-Projekt haben wir auch dies geprüft. Zunächst schienen diese kurzfristig Effekte zu bringen, aber längerfristig hatte die Unterrichtsmethode keinen Einfluss auf die Lernfortschritte. Für Kinder mit Migrationshintergrund schien der lehrergesteuerte Unterricht zu Beginn die günstigste Unterrichtsmethode zu sein. Ab der 3. Klasse löste sich das alles auf, und die Unterrichtsmethode schien keine entscheidende Variable zu sein. Man muss aber auch bedenken, dass es uns nicht möglich war, über vier Jahre lang permanent den Unterricht zu beobachten.

Online-Redaktion: Nach welchen Kriterien haben Sie für Ihr Projekt die Bundesländer ausgewählt, in denen Sie Ganztagsschulen erforschen?

Merkens: Wir suchten nach Ländern mit unterschiedlichen Bedingungen, die man erfolgreich miteinander würde vergleichen können, und sind auf Berlin und Nordrhein-Westfalen gestoßen. Berlin führte zum damaligen Zeitpunkt im Grundschulbereich flächendeckend Ganztagsschulen ein. In Nordrhein-Westfalen haben wir die verlässliche Halbtagsgrundschule untersucht. Auch die flexible Schuleingangsphase, die in Nordrhein-Westfalen bereits praktiziert wurde und in Berlin eingeführt werden sollte - wenn auch nicht flächendeckend -, ließ sich vergleichen. Dazu kam Brandenburg mit seiner Kombination von Schule und Hort. Leider konnten wir hier keine Klassen mit flexibler Eingangsphase einbeziehen, da diese zur selben Zeit bereits evaluiert wurden und das Land Brandenburg eine doppelte Evaluation ablehnte.

Online-Redaktion: Konnten sich die Schulen für dieses Projekt bewerben?

Merkens: Das wäre schön gewesen. Es ist im Gegenteil schwierig, Schulen zu finden, die bereit sind, einen solchen Aufwand mitzumachen. Wir haben Schulen in Zusammenarbeit mit der Senatsverwaltung bzw. dem Bildungsministerium in Berlin und Brandenburg sowie der örtlichen Schulverwaltung in Nordrhein-Westfalen gefunden.

Online-Redaktion: Wie viele Schulen untersuchen Sie?

Merkens: Es ist zielführender, von der Anzahl der Klassen auszugehen. In Brandenburg ist die Stichprobe mit 18 Klassen verhältnismäßig klein. In Nordrhein-Westfalen untersuchen wir 46 und in Berlin 63 Klassen. Ein Problem ist, dass aus Datenschutzgründen in Nordrhein-Westfalen nicht alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse teilnehmen, weil die Eltern hier ihre Zustimmung geben müssen. Das sorgt leider für eine gewisse Selektivität der Stichprobe. Unter solchen Bedingungen leidet die empirische Forschung in Deutschland.

Online-Redaktion: Was sind Ihre wichtigsten Untersuchungsmethoden?

Merkens: Die Schülerinnen und Schüler werden einmal im Jahr zum Schuljahresende getestet. Wir haben mit einem Test, der die kognitive Leistungsfähigkeit erhebt, begonnen. Dies war auch in der "Belesen"-Studie unser Ausgangspunkt. Dieser Prädiktor hatte sich dort als aussagekräftiger erwiesen als der Versuch, einen Sozialstatus zu konstruieren. Der Sozialstatus kann nur über Informationen konstruiert werden, die die Eltern geben. Als aussagefähige Indikatoren gelten dabei: Schulbildung und Berufstätigkeit. Kinder in der Grundschule verfügen in aller Regel nicht über diese Informationen. Im Vorgängerprojekt BeLesen ist der Sozialstatus auf der Basis von Daten gebildet worden, die bei der medizinischen Schuleingangsuntersuchung erhoben worden waren.

Online-Redaktion: Was müssen die Schülerinnen und Schüler in diesen Tests genau leisten?

Merkens: Zum einen absolvieren die Kinder den DEMAT-Mathematiktest und zum anderen die Würzburger Leise Leseprobe. Dazu kam jetzt beim zweiten Messzeitpunkt der ELFE-Test, bei dem die Schülerinnen und Schüler zu einer Geschichte Fragen beantworten müssen. Zum dritten Test werden wir noch den C-Test einsetzen. Damit kann man das Tiefenverständnis von Sprache am besten überprüfen. Bei der Vorgängeruntersuchung produzierte er die größten Differenzen und war damit sehr aussagekräftig.

Beim C-Test bekommen die Kinder eine ihnen thematisch bekannte Geschichte vorgelegt, zum Beispiel zum Thema Pause. Der erste Satz in der Geschichte wird vollständig präsentiert, und ab dem zweiten Satz wird bei jedem zweiten Wort die Hälfte des Wortes weggelassen. Auf der Basis dieser reduzierten Textpräsentation müssen sich die Schülerinnen und Schüler den Sinn der Geschichte vor Augen führen und die Lücken entsprechend ausfüllen. Dabei wird die grammatikalische, orthographische und inhaltliche Richtigkeit geprüft. Diese Rekonstruktionsleistung ist erst ab der 3. Klasse leistbar.

Online-Redaktion: Wie ist der aktuelle Stand des Projekts?

Merkens: Wir haben gerade den zweiten Messzeitpunkt abgeschlossen. In drei Monaten werden dann genaue Verlaufsanalysen der Lernzugewinne der Kinder und vieles mehr möglich sein.

Online-Redaktion: Können Sie schon über erste Ergebnisse sprechen?

Merkens: In Berlin sind die Kinder die Gewinner, die an der Ganztagsschule teilnehmen. Das scheint ein Hinweis auf die Förderlichkeit des Ganztagsunterrichts zu sein. Ein weiteres Ergebnis, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch schwach ist, sich aber abzeichnet: Leistungsschwächere Kinder profitieren vom Ganztagsunterricht besonders - unabhängig davon, ob es sich um eine offene oder gebundene Ganztagsschule handelt.

Ein zusätzliches Ergebnis in diesem Zusammenhang scheint die Abnahme der Akzeptanz des gebundenen Ganztages sowohl bei Lehrkräften wie Sozialpädagogen zu sein, was auch an wechselseitigen Enttäuschungen liegen könnte.

Online-Redaktion: Was geschieht mit den von Ihnen erhobenen Ergebnissen?

Merkens: Die Ergebnisse werden als Berichte erscheinen. Die Lehrkräfte erhalten eine zeitnahe Rückmeldung darüber, wie ihre Schülerinnen und Schüler abgeschnitten haben. Die Lehrerinnen und Lehrer sollen ja nicht nur bei unseren Befragungen mitmachen, sondern auch selbst von den Ergebnissen profitieren.

In Berlin haben wir darüber hinaus für interessierte Lehrkräfte einen Qualitätszirkel gegründet, um darüber zu diskutieren, wie sie den Leistungserfolg in der Schule verbessern können. Die Untersuchung soll ja nicht nur experimentell angelegt sein, in der Hoffnung, dass die Ergebnisse in 20 Jahren vielleicht Wirkung zeigen, sondern jetzt zu konkreten Verbesserungen führen. Am Qualitätszirkel haben sich bis zu 15 Lehrerinnen und Lehrer beteiligt, was ich schon einmal positiv finde.

Online-Redaktion: Was reizt Sie persönlich an dieser Studie?

Merkens: Erstens besteht die Herausforderung eines auf Zuwanderung angewiesenen Gesellschaftssystems wie unserem darin, Kinder aus Migrantenfamilien wie auch aus bildungsfernen Familien so zu fördern, dass sie vernünftige Chancen in dieser Gesellschaft erhalten. Zweitens hat Deutschland als rohstoffarmes Land nur eine Chance, wenn wir über eine exzellent ausgebildete Bevölkerung verfügen. Diese beiden elementaren Tatsachen begründen mein Interesse.

Was darüber hinaus interessant ist: Viele türkische Mädchen beherrschen am Ende der Grundschule die Rechtschreibung hervorragend und die Grammatik zu großen Teilen. In der Sekundarstufe I scheitern sie dann aber häufiger, wenn es um Inhalte geht. Es kommt also offensichtlich darauf an - und dafür sprechen jetzt auch unsere ersten Ergebnisse -, die kommunikative Kompetenz der Kinder zu fördern.

Das ist immer dann mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, wenn die Kinder zu Hause einen Mix aus verschiedenen Sprachen sprechen. Ich rede hier nicht der Ausschließlichkeit das Wort, die Kinder sollten nur deutsch sprechen - das halte ich für völlig falsch. Aber es fehlt häufig einfach an informellen Deutschkenntnissen. Der Schulunterricht konfrontiert die Schülerinnen und Schüler mit einer formalen Sprachvariante und vertraut darauf, dass sie außerhalb der Schule, v. a. in der Familie, eine informelle Sprachvariante gelernt haben.

Die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund stehen vor der Schwierigkeit, dass sie die neuen Begriffe zwar verstehen und schreiben können, aber das Verständnis für den Umgang mit diesen Worten fehlt. Ein Beispiel: Jedes Kind versteht den Begriff "Sonne". Aber zu verstehen, was ein "sonniges Gemüt" ist, ist schon sehr viel schwieriger. Und die Wendung "Hab Sonne im Herzen" ist noch einmal schwerer zu begreifen. Es sind aber diese Sprachvarianten und Kontextualisierungen, die ab der Sekundarstufe I eine immer größere Rolle spielen. Kinder darauf besser vorzubereiten, scheint mir eine der zentralen Herausforderungen der Grundschulzeit zu sein.

Prof. Dr. Hans Merkens lehrt seit 1975 Empirische Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin und ist Sprecher des an der FU angegliederten Interdisziplinären Zentrums für Lehr- und Lernforschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind Evaluationsforschung, Bildungsqualität von Schule und Schulentwicklung, Organisationslernen und Weiterbildung sowie die Integration von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien. Merkens war von März 2002 bis März 2006 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft und wurde 2006 Gründungsrektor der Erfurt School of Education.

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