Demokratie in der Ganztagsgrundschule : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Von „Informiert und hört uns!“ bis zu „Lasst uns mitentscheiden!“ reichen die Wünsche von Kindern, wenn es um ihre Partizipation geht. Grundschulforscherin Prof.‘in Dr. Sabine Martschinke im Interview über ihre Kinderstudie.

„Die Sicht der Kinder ist eine eigene"
„Die Sicht der Kinder ist eine eigene" © FSPE / Sophie Thomas

Online-Redaktion: Frau Professorin Martschinke, Sie haben 2023 die „Kinderstudie zur Demokratiebildung im Grundschulalter“ durchgeführt. Wie kam es dazu?

Prof. Dr. Sabine Martschinke: Tatsächlich befassen wir uns seit vielen Jahren am Institut für Grundschulforschung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg mit der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und hier besonders mit der Mitbestimmung von Grundschulkindern nach Artikel 12. In diese Phase fiel die Möglichkeit, im Rahmen einer wissenschaftlichen Begleitung, gefördert durch die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung, Praxisbedarfe für eine qualitätsvolle und grundlegende Demokratiebildung im Grundschulalter zu identifizieren. Nach einer Desktoprecherche und einer sogenannten Delphistudie, also einer Befragung von Expertinnen und Experten aus dem (außer)schulischen Kontext, führten wir mit 61 Grundschulkindern (aus einer Schule) Einzelinterviews und kamen mit 173 Kindern (aus sechs Schulen in drei Bundesländern) in 22 Gruppendiskussionen ins Gespräch. Die Sichtweise dieser jungen Protagonistinnen und Protagonisten ist erhellend und bestärkt uns zunehmend darin, vermehrt die Perspektive der Kinder zu berücksichtigen und ihnen „das Wort zu geben“.

Online-Redaktion: Können Kinder in der Schule mitbestimmen – und wenn ja, wo?

Martschinke: Bei der Frage zu Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Schule geben die Kinder sehr dezidiert Auskunft, wo sie Möglichkeiten sehen, aber auch, wo nicht. Gerade bei der Mitbestimmung im Unterricht, der Wahl des Sitznachbarn oder der Sitznachbarin sowie bei Lernzielkontrollen finden sich jeweils mehr als die Hälfte der Aussagen dazu, dass Kinder hier ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten begrenzt ansehen. In der Art und im Niveau der Mitbestimmung fühlen sich die Kinder zwar sehr wohl informiert und gehört. Dagegen werden das Mitplanen, Mitberaten, Mitgestalten und Mitentscheiden in der Wahrnehmung der Kinder stiefmütterlich behandelt.

Online-Redaktion: Wie konnten Sie das herausfinden?

Martschinke: Gut geeignet für einen Blick in die Köpfe der Kinder ist die Frage nach ihren Wünschen in Bezug auf Mitbestimmung. Dazu haben wir als kindgerechten Zugang ein Erzähltheater genutzt, ein sogenanntes Kamishibai, in dem Tierfiguren und ihre Rollen bei der Mitbestimmung im Dschungelklassenzimmer als Erzählimpulse dienen. Die befragten Kinder wünschen sich demnach tendenziell eher mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Schule. An erster Stelle steht der Wunsch nach mehr Mitbestimmung im Unterricht bei der Wahl der Themen und auch der Fächer. Deutlich weniger Wünsche beziehen sich auf Hausaufgaben, Leistungsfeststellung, Unterrichtsgestaltung, Stundenplan, Gestaltung des Schullebens und des Klassenzimmers.

Kinder nach ihren Wünschen zur Mitbestimmung fragen
Kinder nach ihren Wünschen zur Mitbestimmung fragen © Britta Hüning

Berührt hat uns aber besonders, dass sich nur etwa die Hälfte der Kinder traut, ihre Meinung zu äußern, wenn sie mit Entscheidungen durch die Lehrkraft oder durch die Klasse nicht einverstanden sind. Die meisten Kinder, die sich eher nicht trauen, ihre Meinung zu sagen, geben keinen Grund an, einige äußern aber auch Angst vor Ärger mit der Lehrkraft.

Online-Redaktion: Wie nehmen es denn die Lehrkräfte auf, wenn Kinder ihre Ideen einbringen?

Martschinke: In unserer Studie zeigte sich an einer kleinen Stichprobe, dass die Lehrkräfte grundsätzlich eine sehr positive Einstellung zur Mitbestimmung von Kindern haben. In einer der Kinderstudie vorausgehenden Befragung von Lehrkräften und anderen Expertinnen wurde allerdings deutlich, dass Lehrkräfte in unterschiedlichem Ausmaß auch eine gewisse Gefahr eines Macht- und Kontrollverlusts sehen. Letztendlich führt aber ihrer Meinung nach die Abgabe von „Macht“ oder „Kontrolle“ zu vielen positiven Effekten für das Lernen und die Kinder. Insofern ist sicher von Seiten der Lehrkräfte die Grundlage vorhanden, Kinder im Bereich der Mitbestimmung „zu empowern“. Notwendig erscheint den Lehrkräften als Voraussetzung aber das Formulieren klarer Grenzen und Vereinbarungen sowie die Transparenz über einen gemeinsamen Verhaltenskodex.

Online-Redaktion: Wie kann Partizipation der Kinder auch zu demokratischem Verständnis und Handeln beitragen?

Martschinke: Gerade um die Begriffe Partizipation, Mitbestimmung und Demokratiebildung gibt es ein regelrechtes Begriffswirrwarr. Im Kern beziehen sich aber alle auf eine stärkere Beteiligung von Kindern. Damit ist auch klar, dass hier zukunftsfähige Grundlagen geschaffen werden für eine demokratische Gesellschaft. Darüber hinaus zeigen Forschungsergebnisse, dass neben demokratischen Fähigkeiten auch das Selbstwertgefühl, die Motivation sowie das Wohlbefinden gesteigert werden können, wenn dieses Grundbedürfnis nach Eingebundenheit in die Klasse oder Schule erfüllt wird. Die Kinder erfahren, dass sie etwas bewirken können und erlernen dabei auch das notwendige „Handwerkszeug“ für demokratisches Denken und Handeln.

Online-Redaktion: Ihre Studie bezieht sich nicht unmittelbar auf den Ganztag. Welche Ergebnisse lassen sich aus Ihrer Sicht auf den Ganztag übertragen?

Martschinke: Alles, was für die Halbtagsgrundschule gilt, soll und kann umso mehr für die Ganztagsgrundschule gelten. Die Kinder verbringen mehr Zeit in der Schule, sodass grundsätzlich mehr Möglichkeiten für Mitbestimmung entdeckt werden können. Insbesondere weitere pädagogische und andere Partnerinnen und Partner eröffnen auch mehr und andere Chancen. Der Austausch mit verschiedenen Akteurinnen und Akteuren in unseren Studien machte deutlich, dass eine stärkere Kooperation zwischen den schulischen und außerschulischen Mitwirkenden, die im Ganztag fast automatisch vor Ort sind, einen nicht zu unterschätzenden Mehrwert darstellt.

Mehr Zeit in der Schule – mehr Möglichkeiten für Mitbestimmung
Mehr Zeit in der Schule – mehr Möglichkeiten für Mitbestimmung © Britta Hüning

Aussagen zu Nachmittagsangeboten von schulischen und außerschulischen Akteurinnen und Akteuren, wie zum Beispiel zu Hort, Mittagsbetreuung, Sport- und Musikangeboten, zeigen, dass die Kinder hier nur geringe Spielräume für Mitbestimmung erfahren und diese oft in der Qualität Wünsche offenlassen. So dürfen sie unter Umständen nur durch die Wahl des Essens, einzelner Spielformen oder einzelner Übungen mitbestimmen.

Online-Redaktion: Was ist zu tun, um Kinder wirklich zu beteiligen?

Martschinke: Grundschulkinder brauchen immer wieder Angebote, die Demokratiebildung für sie in unterschiedlichen Kontexten erlebbar und erfahrbar machen. Das heißt auf der einen Seite, dass das Bewusstsein für Mitbestimmungsmöglichkeiten bei allen Akteurinnen und Akteuren – und nicht nur bei den Lehrkräften – in der Ganztagsgrundschule gestärkt werden muss. Auf der anderen Seite sollte jedoch den Kindern bewusster gemacht werden, wo, wann und wie sie mitbestimmen können. Die Kinder müssen mit ihren Bedürfnissen und Ideen ernst genommen werden. Eine Beziehung auf Augenhöhe ist dabei entscheidend. Voraussetzung ist, dass Kinder verstehen, was Mitbestimmung bedeutet, das muss erklärt werden. Unser Vorschlag aus unserem Projekt ist es, vier Wünsche aus der Kinderperspektive zu formulieren: Informiert und hört uns! Lasst und mitplanen und beratet euch mit uns! Lasst uns mitgestalten und mitwirken! Lasst uns mitentscheiden!

Diese Mitbestimmungsfacetten scheinen in der schulischen Realität lange noch nicht ausgeschöpft zu sein. Das Zuhören und Informiertwerden findet noch am ehesten Anwendung, während die anderen Facetten noch Potenzial „nach oben“ haben. Demokratiebildung muss also mehr sein als nur eine Unterrichtsstunde. Sie muss als elementares Prinzip für die Gestaltung von Unterricht und Schule gelebt werden – in der Halbtags- und in der Ganztagsschule.

Online-Redaktion: Was gewinnen Pädagoginnen und Pädagogen, wenn sie Kinder mitreden lassen?

Martschinke: Lehrkräfte können viel gewinnen, sie lernen Kinder neu kennen und knüpfen positive Beziehungen zu ihren Schülerinnen und Schülern auf Augenhöhe. Das setzt voraus, dass sie auch schon Kindern Mitbestimmungsmöglichkeiten zutrauen und sich auch selbst mit dem Thema und dem Verständnis ihrer eigenen Rolle auseinandersetzen. Unsere Botschaft an Lehrkräfte lautet: Es lohnt sich – für Lehrkräfte, für die Kinder und für die Zukunft unserer Gesellschaft! Trauen Sie sich Mitbestimmung zu!

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Prof.‘in Dr. Sabine Martschinke, Jg. 1960, leitet seit Oktober 2007 das Institut für Grundschulforschung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) und hat den Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und ‑didaktik mit dem Schwerpunkt Heterogenität inne. Nach dem Studium des Lehramts an Grundschulen an der FAU Erlangen-Nürnberg und der 1. und 2. Staatsprüfung war sie von 1986 bis 1988: Lehrerin an der Loschge-Grundschule in Erlangen und dort auch Betreuungslehrerin für LehramtsanwärterInnen 1988 wurde sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin und später Akademische Rätin am Institut für Grundschulforschung der FAU Erlangen-Nürnberg, wo sie 1997 bei dem renommierten Grundschulforscher Prof. Dr. Wolfgang Einsiedler promoviert wurde. Von 2003 bis 2007 war sie Professorin für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Passau. Seit 2020 leitet sie das Fachreferat Grundschulforschung im Grundschulverband.

Von 2021 bis 2022 führte sie das von der Deutschen Kinder- und-Jugendstiftung geförderte Forschungsprojekt „Demokratiebildung im Grundschulalter – eine Bedarfsanalyse“ durch. Aktuell läuft in ihrem Fachbereich das Forschungsprojekt „Kinderrechte und Mitbestimmung in der Grundschule (KiMi)“ mit den Teilprojekten KiMi-U (Mitbestimmung und Unterrichtsqualität: Zusammenhänge zwischen der Umsetzung des Kinderrechts auf Mitbestimmung und gutem Unterricht in der Grundschule) und KiMi-L (Kinderrechte und Mitbestimmung in der Grundschule als Ziel der Lehrer*innenbildung).

Veröffentlichungen u. a.:

Cejvan, S, Gerbeshi, L., Martschinke, S., Ertl, S. & Grüning, M. (2024, im Druck). Mitbestimmung in der Grundschule – Anregungen aus der Praxis für die Praxis. Weinheim: Beltz Juventa.

Grüning, M., Martschinke, S., Häbig, J., & Ertl, S. (Hg.) (2022). Mitbestimmung von Kindern: Grundlagen für Unterricht, Schule und Hochschule. Weinheim: Beltz Juventa.

Martschinke, S., Ertl, S. u.a. (2022). Abschlussbericht zur wissenschaftlichen Begleitung „Demokratiebildung im Grundschulalter“ im Auftrag der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Nürnberg: FAU.

Martschinke, S., Ertl, S. u.a. (2023). Abschlussbericht zur Folgestudie „Demokratiebildung im Grundschulalter" im Auftrag der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung – Ergebnisse aus der Kinderstudie „Kinder reden mit“ (Teil II). Nürnberg: FAU.

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: https://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000