"Auf die Individualität der Schülerinnen und Schüler einlassen" : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Klare politische Vorgaben, die Ressourcenanbindung an die allgemeine Schule sowie verbindliche Qualitätsstandards sind für Prof. Rolf Werning von der Leibniz Universität Hannover die Voraussetzungen für das Gelingen inklusiver Bildung.
Online-Redaktion: In Ostdeutschland werden wesentlich mehr Schüler als Förderschüler eingestuft als in Westdeutschland. Aber auch zwischen den alten Ländern gibt es erhebliche Unterschiede. Wie erklären Sie sich eine so unterschiedliche "Diagnostik"?
Rolf Werning: In den alten Bundesländern ist die Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen und insbesondere von Schülern mit Lernbeeinträchtigungen seit den 1970er Jahren immer wieder kritisch diskutiert worden, z. B. in den Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates von 1973. Eine solche kritische Auseinandersetzung hat in der DDR nie stattgefunden. Damit ist der Förderort Sonderschule bis heute in den neuen Bundesländern weniger in Frage gestellt. Gerade in den Förderschwerpunkten Lernen, Verhalten und auch Sprache sind zudem sozioökonomische und soziokulturelle Lebensbedingungen sehr bedeutsam. Individuumszentrierte Testverfahren zur Erfassung von spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen und Eigenschaften sind hier wenig sinnvoll.
Online-Redaktion: Was raten Sie?
Werning: Gerade in den Entwicklungsbereichen Lernen, Sprache und sozial-emotionale Entwicklung sollten die sonderpädagogischen Ressourcen nicht an das Kind, etwa über eine individuumszentrierte Diagnostik, sondern an das System, das heißt über eine verlässliche und verbindliche Zuweisung von sonderpädagogischen Lehrkräften an die allgemeinen Schulen gebunden werden. Statt einer Zuweisungsdiagnostik ist der Ausbau von Lernprozessbegleitung im Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler notwendig.
Online-Redaktion: Warum brauchen wir in Deutschland länger als anderswo, alle Kinder im Regelschulsystem zu unterrichten?
Werning: Deutschland hat eine lange Tradition der separierten Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Die Entwicklung eines strukturell selektiven Schulsystems, das auf dem Prinzip der Homogenisierung von Lerngruppen aufbaut, ist tief in den Köpfen von Lehrkräften, Eltern und auch Schülern verankert. Die Erkenntnis, dass heterogene Lerngruppen lernförderlich sind, setzt sich nur sehr zögerlich durch und trifft auf starke Widerstände. Zudem fürchten viele Lehrkräfte, mit dem Umbau des Systems zu mehr inklusiver Bildung allein gelassen zu werden. Diffuse und widersprüchliche bildungspolitische Vorgaben unterstützen diese Unsicherheit.
Online-Redaktion: Wie kann den an Regelschulen arbeitenden Lehrkräften die Sorge der möglichen Überforderung durch Inklusion genommen werden?
Werning: Diese Sorgen sind verständlich und nachvollziehbar. Sie spiegeln die diffusen bildungspolitischen Vorgaben wider. Es zeigt sich, dass Inklusion als Schulentwicklungsprozess angegangen werden muss. Dazu gehört, dass sich Kollegien mit den Eltern "auf den Weg machen" und gemeinsam überlegen, was es heißt, möglichst alle Kinder angemessen zu unterrichten und zu fördern. Notwendig ist die Kooperation in Teams und die Unterstützung durch die Schulleitung. Unter solchen Bedingungen kann die befürchtete Überforderung einer Aufbruchsstimmung zur Umsetzung von mehr Bildungsgerechtigkeit weichen.
Online-Redaktion: Auch viele Eltern von Kindern, die derzeit eine Förderschule besuchen, fürchten, die individuelle Förderung ihres Kindes leide in der Regelschule.
Werning: Eltern wollen berechtigter Weise die bestmögliche Bildung für ihre Kinder. Häufig haben sie erlebt, dass die allgemeinen Schulen sich nicht auf die individuellen Bedarfe ihrer Kinder einstellen konnten oder wollten. Deshalb ist es so wichtig, dass inklusive Schulen die notwendigen Ressourcen erhalten, um inklusive Strukturen aufzubauen. Dies kann nur geschehen, wenn es klare politische Entscheidungen für ein inklusives Schulsystem gibt. Die Strategie, inklusive Schulen zu wollen und Förderschulen beizubehalten, führt hier in die Sackgasse. Es muss eine klare Ressourcenanbindung an die allgemeine Schule geben, und es müssen Qualitätsstandards für die inklusive Bildung etabliert werden.
Online-Redaktion: Sie haben Förderschulen mit dem Schwerpunkt "Lernen" untersucht, in denen bekanntlich besonders viele Kinder aus Familien mit geringeren Ressourcen sind. Ist nicht gerade diese Schulart ein Eingeständnis, dass unsere Schulen zu wenig für die individuelle Förderung tun?
Werning: Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf Lernen kommen überwiegend aus armen und benachteiligten gesellschaftlichen Milieus. Es zeigt sich, dass gerade hier sowohl im vorschulischen als auch im schulischen Bereich eine bessere Unterstützung und Förderung dieser Kinder und Jugendlichen notwendig ist. Ihre Kompetenzen und Vorerfahrungen, ihre außerschulischen Lebenswelten sind oft weniger anschlussfähig an die schulischen Anforderungen, als dies bei sogenannten Mittelschichtkindern der Fall ist. Inklusive Schulen müssen hier eine größere Sensibilität gegenüber Kindern aus benachteiligten gesellschaftlichen Milieus entwickeln, um eine effektive individuelle Förderung zu verwirklichen.
Online-Redaktion: Kinder mit Migrationshintergrund werden überproportional Förderschulen zugewiesen, obwohl es schon manchen Jugendlichen mit Migrationshintergrund gab, der dann später noch Abitur gemacht hat. Wird da manchmal deutsche Sprachkompetenz mit "Begabung" verwechselt?
Werning: Ja, gerade bei Kindern mit Migrationshintergrund werden Sprachschwierigkeiten nicht selten als Lernbeeinträchtigungen umgedeutet. Die Betonung des "Andersseins" führt dazu, dass diese Kinder und Jugendlichen schneller und häufiger auf Förderschulen überwiesen werden. Im Vergleich zu anderen Ländern stehen oft keine ausreichenden sprachfördernden Maßnahmen zur Verfügung.
Online-Redaktion: Welches Potential hat die Ganztagsschule, um Förderbedarfen besser gerecht zu werden?
Werning: Wir haben in unseren Forschungen insbesondere die Elternpartizipation an Ganztags-Förderschulen untersucht. Hier zeigt sich ein großer Nachholbedarf. Insgesamt bieten Ganztagsschulen, insbesondere gebundene Ganztagsschulen, mehr Zeit und Raum für individuelle Förderung. Die Verbindung von schulischem Lernen, individueller Förderung und Freizeitgestaltung trägt zu einer differenzierteren Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen bei. Aber auch hier gilt: Der Ganztag allein macht es nicht. Auch an Ganztagsschulen müssen sich die Lehrkäfte und die pädagogischen Mitarbeiter Gedanken machen, was es bedeutet, sich auf die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler einzulassen und individuelle Lern- und Entwicklungsangebote für alle Kinder und Jugendlichen zu entwickeln.
Online-Redaktion: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, und wie müssen Strukturen verändert werden, damit Regelschulen Inklusion erfolgreich gestalten und leben können?
Werning: Notwendig sind allgemeine Schulen, die die Herausforderung annehmen, sich auf die Individualität ihrer Schülerinnen und Schüler einzulassen. Dazu gehört einerseits die Entwicklung einer Schulkultur, die Heterogenität akzeptiert und wertschätzt. Dazu gehört andererseits der Aufbau von Teamstrukturen, z. B. von Klassenteams oder Jahrgangsteams. Die Planung und Umsetzung eines Unterrichts, der alle Schülerinnen und Schüler gemäß ihrem Lern- und Entwicklungsstand fördert, ist eine große Herausforderung. Eine erfolgreiche Umsetzung kann nur gelingen, wenn die Kompetenzen von Lehrkräften, von Sonderpädagogen und Regelschullehrkräften, zusammengeführt werden. Eine klare Unterstützung von bildungspolitischer Seite und die Bereitstellung von Ressourcen für den Umbau der selektiven hin zu inklusiven Strukturen sind gleichfalls von entscheidender Bedeutung.
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