100 Jahre Grundschule: „Eine Revolution“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Die Einführung der Grundschule zählt sicherlich zu den bedeutendsten Reformen im deutschen Schulsystem. Ein Interview mit Prof. Dr. Hans Brügelmann zum Bundesgrundschulkongress.
Online-Redaktion: Herr Prof. Brügelmann, im Themenheft „Grundschule aktuell“ fragt Ulrich Hecker vom Grundschulverband: „100 Jahre Grundschule. Ein Grund zum Feiern?“ Ist es einer?
Hans Brügelmann: Ich finde ja. Die Grundschule hat in den 100 Jahren viel erreicht: Das beginnt rechtlich beim gemeinsamen Lernen unabhängig vom sozialen Hintergrund und der Koedukation, also der gemeinsamen Schule für Jungen und Mädchen. Später kam die weitgehende Aufhebung der Konfessionsschulen dazu und die Aufnahme der sogenannten Gastarbeiterkinder. Schließlich in den letzten 20 Jahren die zunehmende Inklusion. Die Grundschule zeigt, dass sie dem Anspruch gerecht wird, den wir immer unter dem Stichwort „demokratisches Zusammenleben“ fassen. Das ist die ganz große gesellschaftliche Leistung, die die Grundschule erbracht hat.
Online-Redaktion: Wie bedeutend war die Einführung der Grundschule zu Beginn der Weimarer Republik?
Brügelmann: Noch im Kaiserreich gab es ein fast vollständig geteiltes Schulwesen. Es gab einerseits die Volksschulen und andererseits die höheren Schulen mit eigenen Vorschulen. Der Zugang zu einer höheren Bildung, besonders zu den Gymnasien, war weitgehend nur einer Minderheit möglich, lediglich rund fünf Prozent der Jungen und zwei Prozent der Mädchen. Und von diesen kamen wiederum nur neun Prozent aus den unteren sozialen Klassen. Es gab eine Trennung der Schulen nach der Ordnung der gesellschaftlichen Rangpositionen.
1919, mit der Gründung der Weimarer Republik, lag der Einführung der Grundschule die Idee zugrunde, dass man eine demokratische Gesellschaft nur erreichen kann, wenn alle Kinder gemeinsam lernen und gleiche Bildungschancen haben. Statt des Geldbeutels der Eltern sollte die Begabung des Kindes den Bildungsweg bestimmen. Das war in der Tat eine Revolution: Ab nun lernten zunehmend alle Kinder eines Stadtteils in ihrer Sprengelschule gemeinsam. Sowohl die fachlichen als auch die sozialen Erfahrungen, die sie machten, waren jetzt vergleichbar. Das hat dann bis heute dazu geführt, dass allmählich mehr Schülerinnen und Schülern ein Gymnasium besuchen konnten, auch wenn die Zahlen erst ab den 1950er Jahren nennenswert stiegen.
Online-Redaktion: In Berlin und Brandenburg lernen die Schülerinnen und Schüler sechs Jahre in der Grundschule, und in Hamburg läuft der Schulversuch „Sechsjährige Grundschule“. Gibt es Erkenntnisse, ob und wie sich längeres gemeinsames Lernen auswirkt?
Brügelmann: Es ist schwierig, so eine Frage allein empirisch aufzuklären, aber was man sicher sagen kann, ist, dass unsere Aufteilung nach Klasse vier im internationalen Vergleich die Ausnahme ist. Zweitens kann man sagen, dass die sogenannten nichtselektiven Systeme keinesfalls schlechter abschneiden. Drittens zeigt unter anderem die IGLU-Studie, dass die Grundschule leistungsstark sein kann trotz der großen Heterogenität. Manche sagen: wegen der großen Heterogenität, weil sie Kindern, die im Familienumfeld einen weniger anregungsreichen Hintergrund erfahren, hilft, ihre Potenziale zu entfalten.
Für mich ist der zentrale Punkt, dass niemand über ein zehnjähriges Kind sagen kann, wie es sich weiterentwickeln wird, und es deshalb nicht zu rechtfertigen ist, zu diesem Zeitpunkt bereits aufzuteilen. Außerdem sprechen empirische Belege eher dafür, dass das längere gemeinsame Lernen in heterogenen Lerngruppen eher leistungsförderlich ist. Insofern finde ich es bedauerlich, dass 1990 im Zuge des Einigungsprozesses das westdeutsche Schulsystem in die neuen Bundesländer exportiert wurde, statt die Erfahrungen in der DDR mit dem längeren gemeinsamen Lernen von Klasse 1 bis 10 zu nutzen, um das westdeutsche Schulsystem zu reformieren.
Online-Redaktion: Ist die Grundschule im Kiez noch die Schule für alle Kinder?
Brügelmann: Eine problematische Entwicklung ist sicher die zunehmende soziale Entmischung. Eltern möchten ihre Kinder in besonders beschützten sozialen Räumen wissen. Manche gründen sogar Privatschulen oder schicken ihre Kinder bewusst in Bekenntnisschulen. Das konterkariert natürlich die Idee der gemeinsamen Grundschule.
Online-Redaktion: Verändert die Ganztagsschule die Grundschulen?
Brügelmann: Die Ganztagsschule ist auf jeden Fall ein großer Fortschritt, denn sie bedeutet, dass grundsätzlich mehr Zeit für die Schülerinnen und Schüler vorhanden ist. Diese zusätzliche Zeit kann genutzt werden, um den Tag anders zu rhythmisieren. Er muss jetzt nicht mehr kleingetaktet nur leistungsorientierende Arbeitsphasen enthalten, sondern kann Ruhe- und Spielphasen oder stärker sozial orientierte Aktivitäten einschließen. In vielen Ganztagsgrundschulen gibt es allerdings noch kein rundum aufeinander abgestimmtes Lernangebot, sondern einen Unterrichtsvormittag plus nachmittägliche Betreuung.
Bei der offenen Ganztagsschule entscheiden die Eltern, ob sie ihr Kind anmelden. Die freiwillige Teilnahme bedingt, dass alle wesentlichen Lerninhalte weiterhin am Vormittag abgearbeitet werden müssen. Das ist so ein Dilemma, in dem wir stecken und aus dem wir schwer herauskommen: Es gibt viele Eltern, die meinen, dass sie am Nachmittag für ihre Kinder bessere Bildungsangebote organisieren können. Wenn aber nicht alle Kinder teilnehmen, kann der Ganztag sein Potenzial nicht ausspielen. Die Schule kann gar nicht ein qualitativ so gutes Angebot machen, dass es auch die skeptischen Eltern überzeugt, ihr Kind anzumelden.
Einige Ganztagsschulen versuchen, aus diesem Dilemma zu kommen, indem sie in der Woche nur ein bis zwei gebundene Ganztage organisieren. Mit dem Kompromiss kann die Schule an diesen Tagen ihr Ganztagskonzept voll verwirklichen, gleichzeitig bleiben den Eltern und Kindern drei bis vier Tage, an denen sie flexibel entscheiden können. Ich sehe das als einen Zwischenschritt, um Eltern zu überzeugen und um einen akzeptablen Standard im gebundenen Ganztag zu erreichen.
Online-Redaktion: Was erwarten Sie vom heute beginnenden Grundschulkongress?
Brügelmann: Die Kongresse finden seit der Gründung des Grundschulverbandes 1969 alle zehn Jahre statt. Erstmals ist ein Bundespräsident bei einem Grundschulkongress zu Gast. Für mich ist das ein Zeichen, das sich auch in Umfragen widerspiegelt: Die Grundschule hat inzwischen eine starke Akzeptanz entwickelt, auch in der Anerkennung der Arbeit der Lehrkräfte. Früher war der Gymnasiallehrer anerkannter als die Grundschullehrerin. Das hat sich umgekehrt. Den Eltern ist bewusst, dass es in der Grundschule um mehr als fachliches Lernen geht. Die Zuwendung der Lehrerinnen und Lehrer zu den Schülerinnen und Schülern als Personen ist Eltern wichtig.
Die Grundschulkongresse haben sich in der Vergangenheit immer wieder um die gleichen Themen gedreht. Das spricht auf der einen Seite für die Kontinuität im pädagogisch-didaktischen Denken. Es heißt auf der anderen Seite auch, dass die Probleme die gleichen bleiben. Da ist die Frage der Leistungsbeurteilung: Was sind geeignete Formen, um Leistungen der Schülerinnen und Schüler so zu dokumentieren, dass sie als Orientierung hilfreich sind. Kann man die formalen und informationsarmen Noten beispielsweise durch kompetenzorientierte Zeugnisse oder Entwicklungsberichte ersetzen?
Online-Redaktion: Gibt es auch ein Thema, das vor zehn Jahren noch nicht auf der Tagesordnung stand?
Brügelmann: Ja, die Digitalisierung, mit der zwei Fragen verbunden sind. Wie geht die Schule damit um, dass Kinder außerhalb der Schule schon sehr viele Erfahrungen mit digitalen Medien sammeln? Muss die Schule da eher kompensatorisch, also ausgleichend wirken – praktisch entgegengesetzt zu ihren Anfängen, als Kinder noch mehr auf der Straße oder in der Natur gespielt haben und die Grundschule ihnen formale Zugänge zur Wirklichkeit eröffnete. Und die zweite Frage ist, ob digitale Medien als methodisch-didaktische Hilfe genutzt werden oder herkömmlicher Unterricht nur mit neuen Medien durchgeführt wird. Diese Sorge äußern viele Lehrkräfte: dass quasi die Arbeitshefte nur vom Papier auf den Bildschirm gewandert sind, aber die selbstständige Auseinandersetzung, ein anderes Forschen und Dokumentieren zu kurz kommen.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
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