Wege zu einem deutsch-französischen Bildungsforum : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Trotz ihrer beeindruckenden Bildungstradition ist die Grande Nation nach den PISA-Erhebungen wie Deutschland in Not geraten. Lernen aus Unterschieden und gemeinsam Probleme lösen, das war der Tenor des 2. Deutsch-Französischen Expertentreffens.
Es war ein früher, sonniger Morgen, als die deutschen und die französischen Bildungsexperten das letzte Stück zum Collège Victor Hugo in Nanterre zu Fuß zurücklegten. Im Zentrum von Paris wogte das vielgestaltige Stadtleben, während am Rande der Stadt, in Nanterre, die Schule das Straßenbild prägte. Der Weg der Delegation führte vorbei an bescheidenen, aber sorgsam gepflegten Mehrfamilienhäusern. Viele Schülerinnen und Schüler kreuzten den Weg der Besucher und ein paar schlichen noch durch das Tor in die Ganztagsschule.
Vor dem Collège mit seinen weißen Säulen und dem rot bemalten Eingang kam man sich wie an einer Schnittstelle vor, in der sich Geschichte und Gegenwart begegneten. über dem Eingangstor der französischen Sekundarschule war der Kopf von Victor Hugo, seines Zeichens Namensgeber der Schule, gleich der einer griechischen Freske in die Mauer gemeißelt. Der Autor des "Glöckner von Notre Dame" und von "Les Misérables" ("Die "Elenden") forderte bereits im 19. Jahrhundert für alle Menschen Zugang zu Bildung und Wissen.
Victor Hugo (1802-1885) lebte in einer Welt voller Umwälzungen: gesellschaftliche Transformationen und politische Instabilität. Hugo, der zu den bedeutendsten französischen Schriftstellern zählt, gilt auch als ein Prophet eines geeinten Europas. Er sprach sich 1851 als einer der ersten für die "Vereinigten Staaten von Europa" aus. Im Jahre 1841 wurde Victor Hugo in den Pantheon des französischen Geisteslebens, die Académie française, aufgenommen. Ob Zufall oder nicht: Ihre Tore öffnete die Académie française eigens für die deutschen Bildungsexperten, die von Jacques Fröchen in diese exklusive Welt des französischen Geistes und der Forschung eingeladen wurden.
Gebundene Ganztagsschulen allenthalben
Bildung und Wissen entscheiden heutzutage wie nie zuvor über das Schicksal der Kinder und Jugendlichen und das ganzer Nationen. In der globalisierten Welt ist Wissen die entscheidende Ressource im internationalen Wettbewerb. Die deutschen Experten hatten Gelegenheit, im Collège Victor Hugo nachzufragen: Wie weit trägt der republikanische Ansatz in Frankreich, der Schulen als zentrale Erziehungseinrichtung für Bürger versteht? Wie ist es mit der Chancengleichheit bestellt und was bedeutet individuelle Förderung in Frankreich?
Der Vormittag am Collège Victor Hugo stand im Zeichen eines Informationsaustausches über die Ganztagsschule. Das Collège Victor Hugo ist eine prioritär eingestufte Gesamtschule im Rahmen des Réseau d'éducation prioritaire (REP). "Einheitliche Collèges wurden in den 1970er Jahren eingeführt, um die sozialen Unterschiede abzumildern", sagte der Inspektor des Oberschulamtes von Paris, Pierre Polivka. Die Schule wird von 596 Schülerinnen und Schülern besucht, von denen 160 am Mittagsessen teilnehmen.
Es war ein freundlicher Tag und noch dazu ein Mittwoch, an dem die Kinder und Jugendlichen die Schule bereits zur Mittagszeit verlassen können. Trotzdem herrschte Ruhe an der Schule. An allen anderen Tagen findet Unterricht von 8:15 bis 17:00 Uhr statt. Mittagspause gibt es von 12:15 bis 14:00 Uhr, die Schülerinnen und Schüler in der Schule oder zu Hause verbringen können.
Übergang zwischen Grund- und Sekundarschule
"Wie sieht der Übergang zwischen Grund- und Sekundarschule aus?" "Es gibt einen klaren Bruch. Doch wir begrüßen das, weil sich die Schülerinnen und Schüler auf einen neuen Lebensabschnitt freuen", so die Antwort der Schulleiterin Christine Franck auf die Frage von Elisabeth Bittner. In den französischen Gesamtschulen wird erst nach der neunten Klasse klar zwischen Schulformen differenziert. Doch tatsächlich setzt die Selektion auch in Frankreich bereits nach der Grundschule ein: "Für die Eltern wird nach der Grundschule ein starker Druck aufgebaut", erläuterte Eric Pateyron. Denn für viele lockt das Elitegymnasium, das eine erfolgreiche akademische Laufbahn verspricht.
Auch deshalb haben sich Pateyron zufolge zwei parallele Systeme entwickelt: Die Schule und daneben privat organisierte Nachhilfekurse, die sich zu mächtigen Wirtschaftszweigen gemausert haben. Hierauf versucht die Gemeinde mit CPE (Cours principal d'éducation) zu reagieren. Rund 40 Prozent ihrer Schülerinnen und Schüler kommen aus sozial schwachen Familien. Schulen in Nanterre, die dem CPE angehören, bekommen ein 10 Prozent höheres Stundendeputat bewilligt, was etwa drei Vollzeitstellen entspricht. Hiermit soll Schülerinnen und Schüler geholfen werden, die durch die Maschen zu fallen drohen und die Schwierigkeiten haben, die Mittlere Reife zu bestehen.
"Förderung bei Lernschwäche und Verhaltensstörungen"
An hiesigen Maßstäben gemessen, ist das Collège Victor Hugo eine strenge Schule. Viele Maßnahmen dienen der Herstellung von Disziplin und Ordnung. Die Schülerinnen und Schüler sitzen alle einzeln und in gewissen Abständen an ihrem Pult. Ruhestörer oder Verhaltensauffällige werden aus dem Klassenverband entfernt und in speziellen Räumen untergebracht und betreut.
"Wir versuchen in solchen Fällen die Schülerinnen und Schüler eher mit gemeinschaftsbezogenen Aufgaben in den Klassenverband zu integrieren", sagte Constanze Schneider, die Schulleiterin der Hermann-Ehlers-Schule in Wiesbaden ist. Dem Collège Victor Hugo ist solch ein Ansatz eher fremd. Die Schule nennt ihren pädagogischen Schwerpunkt ausdrücklich "Förderung bei Lernschwäche und Verhaltensstörungen".
Das beinhaltet ein breites Bündel von Maßnahmen, wie beispielsweise die Einrichtung von Klassen mit künstlerischen und kulturellen Schwerpunkten oder die Teilnahme an außerschulischen Projekten im Rahmen von APRES, das vom Conseil Géneral, also der Regionalverwaltung von Hauts de Seine gefördert wird. Außerschulische Partner haben sich in den Bereichen Erziehung zur Gesundheit und Staatsbürgerkunde gefunden sowie bei den Theatern, Musikeinrichtungen, Vereinen, dem Bürgermeisteramt und dem REP, das besondere pädagogische Fördermaßnahmen durchführt.
Ungebrochener Trend zur Elite
CPE gibt es seit 1982: Es ist eine Schnittstelle zwischen den Schülern und Lehrern sowie zwischen dem externen Personal und den Angelegenheiten des täglichen Lebens: "Ich strafe und tröste", sagt Mme Prost, die Erziehungsberaterin am College Victor Hugo. Der Gang ins Klassenzimmer und das Gespräch mit Lehrern und Schülern ist für Mme Prost so selbstverständlich wie die Tatsache, dass Schulen in Frankreich zentral gelenkt werden.
Doch der Staat übergibt immer mehr Aufgaben an die außerschulischen Fachkräfte. So sind auf dem Schulhof alle Schülerinnen und Schüler der Aufsicht von Mme Prost unterstellt. Die Maßnahmen von CPE sind aber nicht auf Sand gebaut: Im Rahmen einer vergleichenden Erhebung für Schulen im Bezirk Nanterre aus dem Schuljahr 2003/ 2004 schnitt das Collège Victor Hugo überdurchschnittlich gut ab.
Frankreichs zentralisiertes Schulsystem ist dem Grundsatz der Gleichheit noch vor dem der Freiheit verpflichtet, so hatte Inspektor Pierre Polivka betont. Auf der anderen Seite gibt es einen paradoxen Trend zur Selektion, wie die nachfolgende Diskussion verdeutlichte. "Es gibt einen permanenten Prozess der Selektion und ein System der progressiven Selektion", erinnerte Polivka. Viele besser gestellte Eltern schielen unentwegt zur Spitze, um ihren Nachwuchs an einem der begehrten Elitegymnasien rund um die Sorbonne unterzubringen.
Polivka griff ein Beispiel heraus: das berühmte Lycée Henry Quatre. Dort habe es in den 1960er Jahren noch Kinder aus Arbeiter- und Bauernfamilien gegeben, heutzutage hingegen tendiere deren Anteil gegen Null: "Die soziale Selektion ist heute ausgeprägter denn je", erklärte der Schulinspektor. Er erhalte unzählige Anrufe von Abgeordneten, die sich darum bemühen, ihren Nachwuchs auf ein Elitegymnasium befördern.
CPE: Förderung in Unterstützungszonen
Am Nachmittag ein Perspektivwechsel: In der Regionalverwaltung, dem Conseil Géneral des Hauts de Seine. Hier diskutierten die deutschen und französischen Bildungsexperten mit Paul-Pierre Valli, dem stellvertretenden Direktor des Schul- und Sportamtes der Regionalverwaltung, und Hans Konrad Koch, dem Leiter der Unterabteilung "Bildungsreform" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Das Département Hauts de Seine zeichnet sich dadurch aus, dass es überdurchschnittlich viel für Bildung investiert.
Alle Mittel für Betreuung nach 16:30 Uhr fließen aus diesen Töpfen. Für das CEP wendet die Regionalverwaltung jeweils 750 000 Euro auf, was 1000 Euro pro Schülerin und Schüler entspricht. "Seit 15 Jahren finanzieren wir Bildungsaktionen, die weit über das gesetzliche Minimum hinausreichen", sagte Valli. Dazu gehören 27 CEP-Collèges, Leseförderungsprojekte, Mittel für soziale Eingliederung, pädagogische Workshops und angeleitete Hausaufgabenbetreuung. Jedes Collège besitzt pädagogische Workshops: "Das Programm beginnt, wenn die Schule beendet ist."
Als "rechter Arm des Staates" werden eigens Mediatoren ausgebildet, die sich auch um die Probleme der Kinder und Jugendlichen außerhalb der Schulmauern und in den Familien kümmern. Ihr Wirkungskreis beinhaltet die Arbeit gegen Gewalt oder Missbrauch. Vergleichsdaten zwischen den Départements gibt es allerdings nicht. "Über die Arbeit in den anderen Départements sind wir schlecht informiert", antwortete Valli auf die Frage von Hans Konrad Koch.
Ein deutsch-französisches Bildungsforum in der Sorbonne
Am Anfang und am Ende des 2. Deutsch-Französischen Expertenaustausches stand die Pariser Sorbonne. Die deutsche Delegation hatte ihr Quartier gegenüber der Universität an der Sorbonne bezogen, und nun konnte sie in einem eleganten, ja prächtigen Forum, unter einer Galerie der großen Köpfe der französischen Aufklärung, den Austausch fortsetzen.
Schulen sind in Frankreich und Deutschland sehr unterschiedlich: Sie sind zwei eigenständigen geschichtlichen Traditionen und Kulturen verpflichtet. Dennoch offenbarte die Diskussion in der Sorbonne jede Menge Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Probleme, vor denen beide Bildungssyteme stehen. In beiden Ländern wächst beispielsweise die Zahl der Migrantinnen und Migranten.
Eine Schlüsselrolle in der Diskussion spielte daher die Sprachförderung. "Wie ist es zu erreichen, dass alle Kinder und Jugendlichen Landessprache sprechen", fragte Hans Konrad Koch. Alle Kinder müssten die Schulsprache erlernen. Dazu sollten der Förderbedarf festgestellt und Diagnoseinstrumente zur Feststellung des Förderbedarfs entwickelt werden.
Was kann Schule überhaupt erreichen?
Große Priorität hat für Pierre Polivka die Situation der Migrantinnen und Migranten. In Deutschland gebe es 23 Prozent von Schülerinnen und Schülern mit großen Problemen und in Frankreich 20 Prozent. Er sah an den Schnittstellen Kindergarten, Grundschule und Sekundarschule einen wichtigen Ansatz. So sei es in Frankreich wie in Deutschland sehr schwierig geworden an die Kinder der zweiten und dritten Migrationsgeneration heran zu kommen. Obwohl in Frankreich Betreuung von 7:30 bis 18:00 Uhr gewährleistet sei, "fällt ein Teil der Schülerinnen und Schüler durch die Maschen". Deshalb müsse die Analyse vertieft werden und aus der Erfahrung beider Länder gelernt werden. "Heute wissen wir auch, dass man nur über das Budget nicht alles erreichen kann, denn es gibt Schulen, die mit dem gleichen Geld bessere Leistungen erzielen."
Für Jean Denis vom französischen Bildungsministerium sitzen die Probleme auch außerhalb der Schule. "Man muss sich ein klares Bild davon machen, was Schule überhaupt erreichen kann." Die Ursachen für die Probleme im Bildungssystem sind teilweise externer Natur, denn nur 15 Prozent ihrer gesamten zur Verfügung stehenden Zeit verbringen die Schülerinnen und Schüler statistischen Erhebungen zufolge in der Schule. "Städtebau, Wirtschaft, Arbeitsmarkt: Es gibt Probleme, die man nicht auf die Schule abwälzen sollte." Denis setzte sich dafür ein, die Fort- und Weiterbildung der Lehrer zu verbessern und die Verantwortlichkeit der Schülerinnen und Schüler zu stärken. Neue Methoden der Schulleitung brachte Gérard Willeme ins Gespräch: "Es gibt Formen, eine Schule zu leiten, die erfolgreicher sind als andere. Hier haben wir viel Erfahrung."
Die großen Probleme gemeinsam lösen
Nach einem intensiven Austausch tauchte die Frage auf, mit welchen Themen sich ein 3. Expertentreffen in Deutschland befassen sollte. Für Pierre Polivka waren das die Sprachförderung und die Lehreraus- und -fortbildung. Hans Konrad Koch sah ebenfalls in der Sprachförderung ein Schlüsselproblem. Koch sprach sich für eine Expertengruppe aus, die das Problem kontinuierlich behandelt. Doch: "Beratung, Fortbildung, Vernetzung und Evaluation: Die Hauptaktivität liegt in den Ländern."
Wolf Schwarz vom Hessischen Kultusministerium sah ebenfalls in der Sprachförderung ein Kernproblem. Er nannte aber auch andere Handlungsfelder wie die Kooperationen zwischen Schule und Jugendhilfe, den Bereich der Differenzierung, die Förderung von schwachen und starken Schülerinnen und Schülern sowie die Rolle der Schulleitung, Lehrerschaft und der außerschulischen Mitarbeiter, die berücksichtigt werden sollten. Für Elisabeth Bittner waren die frühe individuelle Förderung, die Lehrerfortbildung sowie die Diagnosefähigkeit der Lehrkräfte wichtige Themen, die ebenfalls vertieft werden könnten.
Petra Gruner vom BMBF setzte sich dafür ein, die Unterstützungssysteme für Ganztagsschulen stärker einzubeziehen: "Es gibt interessante Modelle in den Regionen in Deutschland." Und Petra Jung schlug als Thema des nächsten Treffens der deutsch-französischen Expertengruppe in Berlin Sprachförderung in Ganztagsschulen und Frühförderung unter dem Aspekt der Ganztagsschule vor. Unter den deutsch-französischen Bildungsexperten herrschte während der drei Tage in Paris und Nanterre ein ausgeprägtes Problembewusstsein und große Bereitschaft zur deutsch-französischen Zusammenarbeit. Beide Seiten wollen in diesen Zeiten des Umbruchs kein Einzelkämpferdasein führen. Die Bereitschaft, die Probleme im Bildungssystem gemeinsam zu lösen, wäre das nicht auch im Sinne von Victor Hugo gewesen?
Große Probleme im großen europäischen Maßstab anzugehen und mit den jeweils vorhandenen Erfahrungen und Lösungsmodellen aller beteiligten Länder gemeinsam zu schultern, das war vor 150 Jahren noch Utopie. Utopien bleiben es hoffentlich, hierin waren sich alle Beteiligten einig, nicht weiterhin. Es geht schließlich darum, aus Ganztagsschulen Gärten der Zukunft, also zukunftsfähige Schulen, zu gestalten.
Kategorien: Ganztag vor Ort - Bildungspolitik: Interviews
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