Von den europäischen Nachbarn lernen : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Ende Mai lud die Botschaft des Königreiches der Niederlande deutsche und niederländische Gäste zu einem Symposium mit dem Titel "Kinderbetreuung - Deutschland und die Niederlande im Vergleich" ein.
Was führte die Niederlande nach Berlin? "Wir sind offen für gute Ideen der Nachbarn, das ist Bestandteil unserer Tradition", erläuterte Sharon Dijksma die Frage. Neugier auf die Nachbarn ist nicht überall selbstverständlich. Die niederländische Staatssekretärin für Bildung, Kultur und Wissenschaft möchte aber Akzente für mehr Qualität in der Kinderbetreuung und für eine wirkungsvollere Sprachförderung setzen. Obwohl das Königreich der Niederlande bei PISA 2003 und der internationalen Grundschulstudie IGLU zur Spitzengruppe der OECD-Länder gehörte, sucht das Land stets nach neuen Wegen.
Es gehe um die Zukunft der Kinder in Holland und Deutschland: "In beiden Ländern erleben wir eine Diskussion um die Rolle der Familie", so Dijksma während des Symposiums in der niederländischen Botschaft. Die Kinderbetreuung sei auch ein Instrument, um die Berufstätigkeit der Frauen zu erhöhen, so die Bildungspolitikerin weiter.
Mehr Selbstverantwortung in niederländischen Schulen
Sharon Dijksma besuchte Ende Mai 2007 insgesamt fünf vorschulische Einrichtungen sowie die Grundschule am Hollerbusch im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Diese Ganztagsgrundschule, die auch aus Mitteln des Investitionsprogramms "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB) gefördert wird, unterhält seit vielen Jahren enge Kontakte zu den Niederlanden und zu einer Partnerschule in Utrecht.
Diese Partnerschaft gibt zahlreiche Anstöße für die Verbesserung des Unterrichtes. So entscheiden in der niederländischen Partnerschule die Kinder mit, wie sie lernen. "Die Lehrerinnen und Lehrer geben eine Einführung in den Unterricht, und dann legen die Kinder ihre eigenen Schwerpunkte fest, an denen sie sich orientieren möchten", erläutert Schulleiterin Ronneburger. Das Bildungssystem der Niederlande zeichnet sich durch viele Stärken aus. Insbesondere können der hohe Grad der Schulautonomie, die individuelle Förderung, aber auch die Bereitschaft von den Nachbarn zu lernen, hervorgehoben werden.
Aus internationalen Vergleichen lernen
Die Niederlande sind seit vielen Jahren für internationale Vergleiche und Erfahrungsaustausche offen und ,lernen von anderen', wo sie nur können. Davon zeugen zahlreiche Projekte und nicht zuletzt die Tatsache, dass die niederländische Schulinspektion eine eigene Abteilung für Internationale Kooperation hat.
Die Bereitschaft, vom Nachbarn zu lernen, brachte die niederländische Staatssekretärin deutlich und mit großem Respekt für ihre Gesprächspartner zum Ausdruck. Während ihres Besuches an der Ganztagsgrundschule am Hollerbusch interessierte sie sich für die Organisation einer Ganztagsgrundschule unter Einbeziehung zentraler Gesundheitsaspekte wie mehr Bewegung und Entspannung im Tagesablauf einer Ganztagsschule. Die Ganztagsgrundschule mit Hort ermöglicht eine kostenlose Betreuung von 7:30 Uhr bis 16:00 Uhr. Eltern können ihre Kinder auch außerhalb dieser Kernzeit in die Betreuung geben, müssen dafür aber einen Kostenbeitrag leisten.
In Deutschland wie in den Niederlanden spielt die ganztätige Betreuung und Bildung eine zunehmende Rolle, um Familie und Beruf zu vereinbaren: "Beiden Ländern ist gemeinsam, dass sie zurzeit erhebliche Mittel für die Erziehung und Betreuung jüngerer Kinder freimachen", stellte der niederländische Bildungsexperte Serv Winders während des Symposiums fest.
Wie in Deutschland haben auch die Niederlande einen Ausbau der Ganztagsschulen zu verzeichnen, denn die Zahl der Ganztagsschulen in den Niederlanden wächst. Ihre Errichtung geht meist "auf lokale Initiativen zurück, die ein Netzwerk pädagogischer Institutionen umfassen und von der Regierung unterstützt werden", so die Verfasser in Band 2 der BMBF-Publikation "Vertiefender Vergleich der Schulsysteme ausgewählter PISA-Staaten".
Der Trend zu mehr öffentlichen Mitteln in Westeuropa
Damit sind die Nachbarländer Teil eines westeuropäischen Trends, bei dem Serv Winders zufolge mehr Nachdruck auf öffentliche Mittel für Früh- und Vorschulerziehung aufgewandt würden. Deutschland etwa möchte zusätzlich zwölf Milliarden Euro in den bundesweiten Ausbau der Kinderbetreuung investieren, um die Zahl der Betreuungsplätze bis 2013 auf 750.000 zu verdreifachen.
Eine allgemeine Kinderbetreuung wirkt sich günstig auf die Bereitschaft von Frauen aus, Beruf und Familie zu vereinbaren, wie das Beispiel Niederlande zeigt: "Seit 1990 stieg die Geburtenrate kontinuierlich von 1,6 auf heute 1,74 Kinder pro Frau." In dieser Zeit verdoppelte sich die Erwerbstätigkeit von Frauen mit minderjährigen Kindern von 30 auf 60 Prozent. "Entsprechend stieg das Betreuungsangebot an Kinderbetreuungsplätzen von 29.000 auf 200.000 in 2004", so Stefanie Tyroller in einem Beitrag für das Zentrum für Niederlande-Studien der Universität Münster.
In den Niederlanden, in Belgien, Frankreich, Österreich, Großbritannien und Portugal sind laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung mehr als 60 Prozent der Mütter berufstätig, in Deutschland dagegen nur 44,3 Prozent. Zugleich wird in der Studie kritisiert, dass die öffentliche Kinderbetreuung in den Niederlanden, Deutschland, Großbritannien und Luxemburg gering entwickelt sei.
Im niederländischen "Mekka" der Teilzeitarbeit
Mehr Teilzeitarbeit, da ist sich Karin Ronneburger sicher, verbessert die Situation berufstätiger Mütter: "In den Niederlanden ist es möglich, dass sich zwei Frauen eine Stelle teilen. Sie arbeiten an zweieinhalb Tagen voll und den Rest der Woche verbringen sie mit den Kindern zuhause", erläutert die Schulleiterin. Im siebten Familienbericht ist zu lesen, dass sich in den Niederlanden wie in kaum einem anderen europäischen Land seit Beginn der 1980er Jahre die Teilzeitarbeit durchgesetzt hat: "Inzwischen gehen mehr als 70 Prozent der erwerbstätigen Frauen einer Teilzeitbeschäftigung nach, bei den Männern liegt die Teilzeitquote bei 21 Prozent."
Die hohe Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt spiegelt sich auch in der privaten Angebotsstruktur der Kinderbetreuung wider. Anders als in Deutschland befinden sich die Einrichtungen der Kinderbetreuung - wie die meisten Schulen - in den Niederlanden in privater Trägerschaft. Staat, Eltern und Arbeitgeber teilen sich Serv Winders zufolge die Finanzierung der Kinderbetreuung.
Stiefkind sprachliche Förderung
Nur kommen die Besonderheiten des marktgesteuerten Systems der Kinderbetreuung in erster Linie den besser gestellten niederländischen Familien zugute. Kinder mit Migrationshintergrund oder Kinder aus sozial schwachen Familien, dies hat das zuständige Bildungsministerium (Ministerie van Onderwijs, Cultur en Wetenshep) erkannt, geraten hinsichtlich der Sprachförderung ins Hintertreffen.
Einen Eindruck davon, in welcher Weise die Kinderbetreuungseinrichtungen in den Niederlanden Familie und Beruf vereinbaren, gibt ein Text des Zentrums für Niederlande-Studien auf NiederlandeNet: "Die Zusammensetzung der Gruppen in diesen Tagesreinrichtungen ändern sich täglich, da die Kinder nur nach dem Bedarf der Eltern, das heißt, dann wenn beide arbeiten, gebracht werden. Manche Kinder kommen nur an einem Tag, manche an zwei oder drei Tagen. Geöffnet sind die Betreuungseinrichtungen in der Regel von morgens acht bis 18 Uhr Abends, wobei lokale Abweichungen möglich sind. In Amsterdam gibt es sogar Einrichtungen, die rund um die Uhr geöffnet sind. Die Kinder finden in den Einrichtungen altersgerechte Spielangebote vor, sie können dort essen und schlafen".
Dieses System führe zu einer Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund sowie jener aus sozial schwachen Familien und - laut Peter Stein vom niederländischen Bildungsministerium - sogar zu einer Segregation der Gesellschaft. Die Schulpflicht beginnt mit dem fünften Lebensjahr und besteht bis zum Alter von 16 Jahren. Die Mehrzahl der Kinder wird jedoch bereits mit vier Jahren eingeschult. Da die meisten Niederländer zudem einer hochwertigen Bildung große Bedeutung beimessen, wie die Bereitschaft der Bevölkerung zur privaten Beteiligung an Bildungsinvestitionen zeigt, entsteht ein hoher Leistungsdruck mit Beginn der Grundschule.
Für viele Kinder kommt die Förderung zu spät
Eigeninitiative und Wettbewerb benachteiligen die Kinder mit Migrationshintergrund, ihnen droht Schulversagen und damit auf lange Sicht das gesellschaftliche Abstellgleis, da ihre Sprachdefizite im vorschulischen System nicht behoben wurden: "Das große Leistungsgefälle zwischen Schülern unterschiedlicher sozialer Herkunft konnte in den letzten Jahren zwar gemildert werden, stellt jedoch immer noch eine der wesentlichen Herausforderungen an das niederländische Bildungssystem dar" (Band 2 zur Bildungsreform). Zwar gebe es seit Ende der 1980er Jahre die Initiativen "Headstart", Instapje", "Opstap" zur sprachlichen Förderung der Kinder, die auch die Eltern einbeziehen.
Doch das niederländische Bildungsministerium versucht nun mit einem flächendeckenden Programm gegenzusteuern. Dazu führt Maike Giesbert vom Zentrum für Niederlande-Studien aus: "Nach Angaben des Ministeriums nehmen zur Zeit etwa 200.000 Kinder an dem Programm voor- en vroegschoolse educatie teil (also an der vor- und frühschulische Erziehung, kurz VWE). Der Überbegriff VWE beinhaltet verschiedene Programme, aus denen die zuständigen Gemeinden wählen können. Zielgruppe sind Kinder zwischen zwei und fünf Jahren."
"Die Regierung möchte das zweigliedrige System abschaffen"
Das Programm setze in den Kitas an und erstrecke sich auf die ersten beiden Jahre der Basisschool (das ist eine Kombination aus deutscher Vor- und Grundschule), so Giesbert. Die sprachliche Förderung könne aber nur diejenigen erreichen, die ohnehin in einer Kita oder Spielgruppe angemeldet sind und dort regelmäßig hingehen. "Doch viele Kinder, die dringend gefördert werden müssten, können erst mit Beginn der Schulpflicht erreicht werden. In zahlreichen Fällen ist es nun nicht mehr möglich, den Rückstand, den die Kinder sich vor der Einschulung eingehandelt haben, wieder aufzuholen", erläutert die Wissenschaftlerin. Fazit der niederländischen Regierung: "Wir möchten das zweigliedrige System abschaffen", bekräftigt der Abteilungsleiter im Bildungsministerium, Peter Stein.
Vor ähnlichen Problemen steht auch das Nachbarland Deutschland. Wenn hier zwischen dem fünften und siebten Lebensjahr die Schulpflicht einsetzt, haben Kinder mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwachen Familien insbesondere in den Großstädten geringe Chancen, mit den steigenden Anforderungen der Grundschule Schritt zu halten.
"Ich kenne viele Erzieherinnen, die resignieren vor den Sprachproblemen der Kinder. Was soll ich mit ihnen machen? fragen sie sich, statt auf die Kinder zuzugehen", so die pädagogische Geschäftsführerin der INA-Kindergärten Regine Schallenberg-Diekmann. Die Stadt Berlin hat auf diese Problematik mit verschiedenen Maßnahmen reagiert, von deren Wirksamkeit sich Sharon Dijksma und Peter Stein vor Ort ein Bild machen konnten.
So erkundigte sich die Staatssekretärin nach bestimmten Verfahren der Sprachförderung: Woran erkenne man, dass Sprachförderung nutzt? Oder in welche Verfahren lohne es sich zu investieren?
Deutsch lernen mit den "Schlaumäusen"
Eines dieser Verfahren heißt "Schlaumäuse - Kinder entdecken Sprache". Dieses Sprachförderungsprojekt wird in Kooperation mit der Technischen Universität und Microsoft Deutschland realisiert: "Die Erzieherinnen erhalten eine Schlaumäuse-Fortbildung, um die Software, die die Einrichtungen im Rahmen des Citizenengagements kostenlos beziehen, vor Ort anzuwenden", erläutert Susanne Matthiesen vom Bildungsnetzwerk Wissenswert. Um den Übergang Kita-Grundschule zu erleichtern, wurde die gleiche, aber kostenpflichtige Software unter dem Titel "Lollipopp und die Schlaumäuse" in Kooperation mit dem Cornelsen Verlag weiterentwickelt.
Über 30.000 Kitas nutzen deutschlandweit diese Software, bei dem die Kinder spielerisch den Umgang mit Sprache und Schrift lernen und noch dazu Medienkompetenz erwerben. Bis zu 25 Minuten täglich können sie mit den Schlaumäusen ihren Lernfortschritt selbstgesteuert beeinflussen. An der Kita Grünthalerstraße 34 spielt neben interkultureller Erziehung und Sprachförderung auch die Bewegungsförderung eine große Rolle. Karin Bedau nennt einen weiteren Vorteil: "Hier werden die Kinder täglich und preiswert betreut", so die Leiterin des Montessori-Kinderhauses Lissabonallee.
Das Berliner Bildungsprogramm und die Ganztagsbetreuung
Ein weiteres Instrument der Sprachförderung ist das Berliner Bildungsprogramm für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern von Tageseinrichtungen bis zu ihrem Schuleintritt. Es sieht zum Beispiel ein Sprachlernbuch vor, in dem die sprachlichen Lernfortschritte der Kinder dokumentiert werden. Seit Sommer 2006 sei die Sprachförderung in allen Berliner Kitas Pflicht. Sprachstandstests vor der Einschulung geben zudem ein Bild über zusätzlichen Förderbedarf der Kinder.
In den Augen der niederländischen Gäste hat das Berliner Bildungssystem zahlreiche Vorteile. Dazu gehört - Serv Winders zufolge - neben der Gruppenerziehung auch der Erziehungs- und Bildungsauftrag. Oder die Verlegung der gesamten Hortbetreuung in die Ganztagsgrundschulen. "Ein System für alle Kinder, wo jedem Kind mit Sprachproblemen geholfen wird, das haben wir von Deutschland gelernt", so das Fazit von Peter Stein und Sharon Dijksma.
Die Bereitschaft vom Nachbarn zu lernen und die eigenen Kitas und Schulen fortlaufend mit den guten oder besten Bildungssystemen der Welt zu vergleichen, dürfte wohl zu den größten Stärken der Niederlanden zählen.
Kategorien: Forschung - Internationale Entwicklungen
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