Vom "European Sonderweg" zu neuen Perspektiven : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Die Zeitstrukturen von Erwerbsarbeit, Familie und Schule verändern sich in Europa. Mit dem Ganztagsschulprogramm des Bundes und der Initiative von Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen zum Ausbau der Kinderbetreuung ist auch Bewegung in das deutsche Bildungssystem gekommen. Die internationale Konferenz "Das deutsche Halbtagsmodell - ein europäischer Sonderweg?" ist den historischen Wurzeln gegenwärtiger Probleme nachgegangen und hat interessante Zusammenhänge zwischen Ost- und Westeuropa entdeckt. Der erste Teil des Beitrages beleuchtet die Zielstellung und die Konzeption der internationalen Konferenz in Köln vom 1. bis zum 3. März 2007.

Bildungspolitisch stand die internationale Fachtagung "The German Half-Day Model: A European Sonderweg" über die europäischen Zeitpolitiken der Kinderbetreuung und der Ganztagsschule unter einem günstigen Vorzeichen. Zwei Paradigmenwechsel zeichnen sich nämlich am Horizont des deutschen Bildungssystems ab. So sieht die Kölner Erziehungswissenschaftlerin und Mitveranstalterin der Konferenz, Prof. Cristina Allemann-Ghionda im bedarfsgerechten Ausbau schulischer Ganztagsangebote eine neue Ära der Ganztagsbetreuung in Deutschland.

Neben den vier Milliarden Euro im Rahmen des Investitionsprogramms "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB) haben viele Länder eigene Ganztagsschulprogramme aufgelegt. Darüber hinaus betonte sie die neue Dimension der öffentlichen Kinderbetreuung, die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen angestoßen hatte. Drei Milliarden Euro möchte von der Leyen investieren, um bis 2013 die Zahl der Krippenplätze von derzeit 250.000 auf 750.000 aufzustocken.

Internationaler Vergleich als Politik bildender Faktor

Dass das Rad der Geschichte sich mal nach vorne, mal nach hinten drehen kann, war den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der internationalen Fachtagung nur allzu bewusst. Angesichts der günstigen bildungspolitischen Situation waren sie sich einig, dass ihre Forschungen dazu beitragen können, "dass der internationale Vergleich immer mehr zum Politik bildenden Faktor wird", so Allemann-Ghionda. Das hätten die OECD-Untersuchungen der letzten Jahre gezeigt. Offenkundig orientiere sich das deutsche Bildungssystem immer mehr an internationalen Standards. Diesen Prozess wolle die internationale Konferenz in Köln wissenschaftlich unterstützen.

Über 30 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatten Vorträge für die dreitägige internationale und interdisziplinäre Konferenz zugesagt. Neben renommierten Forscherinnen und Forschern aus England, Frankreich, Österreich, Schweiz, Italien, Spanien, Ungarn, Tschechiens, Norwegen, Schweden und den USA referierten auch deutsche Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Erziehungswissenschaft, Soziologie und Zeitgeschichte. Zu den eingeladenen Referenten gehörte auch Dr. Ludwig Stecher, Projektkoordinator der "Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen - StEG".

Erforderlich waren zunächst theoretische und methodologische Überlegungen, unter welchen Voraussetzungen internationale Vergleiche möglich und interdisziplinäre Perspektiven realisierbar sind. Dabei wurden 20-minütige Vorträge durch Co-Kommentare ergänzt. Somit gab es genügend Raum für ausgesprochen lebhafte Diskussionen.

Ein Modell für einen internationalen wissenschaftlichen Austausch

Während das erste Panel "Gender, Child Care and Schools: Theoretical and Methodological Reflections" sich theoretischen Grundlagen widmete, standen im Zentrum des zweiten Panels ("Family Policies in Comparison") Fragen des Vergleiches. Lassen sich - etwa in Ost- und Westeuropa - Konzepte und Begriffe, Gesetze, Trägerschaften usw. überhaupt vergleichen? Wie wird in den Statistiken der verschiedenen Staaten z. B. "Tagesbetreuung" definiert?

Panel drei "The Time Politics of Child Care and Pre School Education in Comparison" befasste sich mit der vorschulischen Kinderbetreuung und Erziehung im europäischen Vergleich am Beispiel Frankreichs, Spaniens, Großbritanniens, Tschechien und Ungarns sowie Skandinaviens. Panel vier "The Time Politics of School Education" verglich die historischen Entwicklungen schulischer Zeitstrukturen in Ost- und Westdeutschland sowie in Österreich, Italien und der Schweiz. Panel fünf schließlich ("The Social Consequences of Different Models of Time Politics in Child Care and Schools in Comparison") erörterte die sozialen Konsequenzen verschiedener Zeitpolitikmodelle etwa für die Freizeit- und Lebensgestaltung von Kindern und Jugendlichen, für die Beteiligung am Arbeitsmarkt oder für die Geburtenrate.
  
Ein zentrales inhaltliches Ziel der Veranstaltung war es, die historisch-institutionellen und kulturellen Ausgangspunkte herauszufinden und zu diskutieren, die eine Ausweitung der öffentlichen Erziehung und Bildung in Europa und in den USA begünstigen. Hiervon ausgehend sollten Impulse für weitere internationale und interdisziplinäre Forschungsbemühungen ausgehen.

Im Zuge der Kölner Konferenz sollten indes - passend zum aktuellen Durchbruch während des "Krippengipfels" - Faktoren diskutiert und gewichtet werden, "die Reformen stärken oder blockieren", so die Mitorganisatorin der Veranstaltung, Prof. Karen Hagemann von der University of North Carolina at Chapel Hill. Daher stand nicht nur die historische Entwicklung der Bildungs- und Betreuungssysteme in Ost- und Westeuropa während des "Kalten Krieges" auf dem Prüfstand, sondern auch die Frage "Was hat sich seit dem Fall der Mauer 1989/1990 wirklich verändert?". Die Zukunft des Wohlfahrtsstaates gerate in Gefahr, wenn die Politik keine Antwort auf die fallenden Geburtenraten gebe, die in Europa zu den niedrigsten weltweit zählen, so Karen Hagemann.

Ein interdisziplinärer Forschungsansatz, der soziale, politische, kulturelle Aspekte berücksichtige und mit einer systematischen Genderperspektive verbunden werde, könne der Komplexität des Themas besser gerecht werden. Die Rolle des Staates sei ebenso relevant wie Fragen der Arbeitsteilung in Familie und Gesellschaft sowie unterschiedliche kulturelle Bedingungen in Europa.   

Ideologisch begründete Unterschiede zwischen Ost und West

Dabei konnte die Kölner Fachtagung an Ergebnisse einer Vorgängertagung in Potsdam 2006 anknüpfen. Deren Quintessenz lautete: Es gibt große Unterschiede in der Ausprägung wohlfahrtsstaatlicher Strukturen zwischen Ost- und Westeuropa, die vielfach ideologisch begründet sind. Der Potsdamer Workshop war noch von methodologischen Fragen und empirischen Befunden zu den Wohlfahrtsstaaten in Ost- und Westeuropa geprägt. Es fehlte aber ein sichtbares rotes Band, das die Vorträge und Diskussionen miteinander verknüpfte.

In Köln nun waren die Forscherinnen und Forscher dank eines verbesserten organisatorischen und strukturellen Ansatzes in der Lage, einen wirklichen Vergleich der europäischen Wohlfahrtsregime vorzunehmen. Man könne sich ja auch erst dann in die aktuelle öffentliche Debatte einmischen, wenn man genügend plausible Argumente erarbeitet habe, meinte Prof. Konrad Jarausch als Mitveranstalter der Kölner Konferenz und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Solcherlei Argumente wurden in den Vorträgen, Kommentaren und Diskussionen in großer Zahl erarbeitet.

Der wissenschaftliche Blick auf die Geschlechterfrage

Dass die systematische interdisziplinäre Erforschung der Wohlfahrtsregime in Ost- und Westeuropa noch in den Anfängen steckt, verdeutlichen die Desiderata der Forschung, die Karen Hagemann zusammenfasste. Untersuchungsbedürftig sei die Nähe oder Distanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen gegenüber dem Staat. Außerdem müssten bundesstaatliche Institutionen von zentralstaatlichen oder demokratische von autoritären unterschieden werden. Geographische Aspekte, wie regionale, städtische und ländliche Strukturen, bedürften ebenso der Differenzierung wie das Verhältnis Zentrum-Peripherie. Auch würden die Kategorien Krieg und Frieden eine große Rolle spielen für eine vergleichende Betrachtung der Bedingungen in Ost- und Westeuropa. Sogar die Rolle der Eltern sei in der vergleichenden Forschung relativ ungeklärt. Welche Rolle haben sie in den jeweiligen Ländern im Bereich der Kinderbetreuung oder in der Schule? Haben sie Mitspracherechte oder nicht?
 

Karin Gottschall
Prof. Karin Gottschall von der Universität Bremen

Eine gute theoretische Basis für die Diskussion lieferte Prof. Karin Gottschall von der Universität Bremen. Sie verortete das deutsche Bildungssystem im Zusammenhang mit anderen zentralen Institutionen des Wohlfahrtsstaates: Familie, Berufsbildung und Arbeitsmarkt. "Als Arbeitskräfte sind Frauen in der Forschung unterbelichtet", stellte Gottschall fest. Dies habe mit einem Arbeitsmarkt zu tun, der aufgrund seiner historischen Entwicklung geschlechtsspezifisch segmentiert sei. So sei auch das Bildungssystem eng mit anderen Institutionen des Wohlfahrtsstaates verbunden.

Duales Bildungssystem: Männliche Arbeitskräfte für die Industrie

Im deutschen Bildungssystem gebe es zwar eine gleiche Beteiligung mit Bezug auf das höhere Bildungswesen. Doch die Geschlechtersegmentierung setze bereits auf der Ebene des Arbeitsmarktes ein. Die Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer in der Grundschule sei weiblich: "Sie verdienen weniger und sind in ihrer Karriere eingeschränkt", so die Wissenschaftlerin. Der Bereich der Kindergärten und der Vorschule zeichne sich durch Semiprofessionalität aus, die Sekundarbildung dagegen durch volle Professionalität. Das deutsche Schulsystem und die duale Berufsbildung seien Teil einer Status reproduzierenden Struktur. Die Industrie, die durch das duale Bildungssystem versorgt werde, sei stets eine Quelle der Allokation männlicher Arbeitskräfte gewesen.

Zum Abschluss ihres Vortrages plädierte Gottschall dafür, die Produktionsregime aus komparativer Perspektive mit dem Bildungssystem in Verbindung zu bringen, die Berufsausbildung auch unter geschlechtsspezifischem Blickwinkel zu betrachten und den Staat als Arbeitgeber stärker zu fokussieren. "In Deutschland müssen die Reformen die Professionalisierung der zukünftigen Arbeitskräfte im Auge behalten" schlussfolgerte Gottschall.

Perspektiven der Frauen differieren

In ihrem anschließenden Vortrag fügte Prof. Allemann-Ghionda hinzu, dass auch die Medien daran beteiligt seien, bestimmte Standards zu konstruieren. Außerdem würden viele soziale Gruppen sich dem sozialen Wandel verschließen, was auch an dem - nach wie vor vorhandenen Muttermythos - ablesbar sei. Österreich, Deutschland und Slowenien verzeichneten das geringste Niveau in der Ausbildung der Erzieher.

Die Historikerin Sonja Michel von der University of Maryland kommentierte die beiden Vorträge. Sie hielt fest, dass interne und externe Faktoren gleichermaßen von der komparativen Forschung berücksichtigt werden müssten. Eine Modernisierung des deutschen Bildungssystems sei unübersehbar und es gäbe berechtigte Hoffnungen auf einen Politikwechsel. Für die Ganztagsschulen sei es von Bedeutung, die Elternerwartungen und die Perspektive der Kinder zu berücksichtigen. Man müsse auch feststellen, dass Perspektiven und Interessen der Frauen nicht homogen seien.

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