"Viele kleine Schulen in einer großen" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Skola 2000 heißt das Konzept von etwa 60 schwedischen, norwegischen und dänischen Schulen, die sich die individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes auf ihre Fahnen geschrieben haben. Rainer von Groote erläutert im Gespräch die Philosophie und Umsetzung dieses von Ingemar Mattsson entwickelten Konzepts.
Online-Redaktion: Herr von Groote, in Finnland sind die PISA-Studien bei weitem nicht in dem Maße wahrgenommen worden wie in Deutschland. Wie sahen die Reaktionen in Schweden aus?
von Groote: Hier ist die PISA-Studie ernst genommen worden, da sie doch ein recht vielseitiges Bild von Schülerkönnen spiegelte. Über die Ergebnisse hat man sich schon Gedanken gemacht. Allerdings sind in Schweden die Schulen bereits seit 2000 verpflichtet, Kontrollen über den Leistungsstand durchzuführen, die man an die staatliche Schulbehörde sendet. Dort werden die Ergebnisse analysiert. Die Schulbehörde führt Besuche an allen Schulen durch. Die dabei geübte Kritik wird auch veröffentlicht. Von daher besteht hier ein gewisser staatlicher Druck.
Online-Redaktion: Ist das schwedische Schulsystem zentral organisiert?
von Groote: Einerseits ja, andererseits sind die Schulen Anfang der neunziger Jahre alle in die Trägerschaft der Kommunen entlassen worden. Die Gemeinden sind dafür verantwortlich, was in den Schulen passiert, und müssen diese finanzieren. Jede Kommune muss den so genannten Schulplan aufstellen, in welchem die Richtlinien für die Schulen aufgelistet sind. Von staatlicher Seite her gibt es das Schulgesetz und den Kursplan, der dem Lehrplan in Deutschland entspricht. Dort ist recht detailliert angegeben, was die Schüler in bestimmten Fächern können sollen, um eine gewisse Note zu erreichen. Noten werden bei uns allerdings erst ab der achten Klasse gegeben.
Online-Redaktion: Ist die Struktur des schwedischen Schulsystems unumstritten?
von Groote: Die Struktur ist hier sehr verankert und unumstritten - zum Beispiel was die Ganztagsschulen angeht. In Schweden besitzen wir Einheitsschulen, in denen alle Schüler bis zur neunten Klasse gemeinsam lernen. Danach kann man auf Gymnasien wechseln, die sowohl theoretische wie auch berufsausbildende Zweige haben. Die in den Schulen angewandte Pädagogik ist teilweise umstritten, weshalb sich auch die Idee der Skola 2000 entwickelt hat.
Online-Redaktion: Wie ist die Ganztagsschule in Schweden organisiert?
von Groote: Zunächst mal möchte ich vorausschicken, dass eine Ganztagsschule für sich nicht automatisch bessere Schülerleistungen garantiert. Da gehört mehr dazu. Fragte man hier Schülerinnen und Schüler, ob sie lieber nur einen halben Tag zur Schule gehen wollten, würden viele zustimmen - aber zugleich auch auf ihren langen Sommerferien bestehen...
Was den Tagesablauf betrifft, beginnt der Tag mit Unterricht. Zwischen elf und zwölf Uhr gibt es dann die Mittagspause mit kostenlosem Essen. Bis 15.30 Uhr folgt wieder Unterricht. Inzwischen gibt es Bestrebungen, wie in Deutschland nicht nur Lehrer in der Ganztagsschule arbeiten zu lassen, sondern sich auch Unternehmen und Vereine mit Kursangeboten in die Schule zu holen. Die Möglichkeit dazu besteht, denn der Stundenplan lässt noch genügend Luft. Die staatlich vorgeschriebene Mindestunterrichtszeit beträgt von den Klassen eins bis neun unter vier Stunden täglich. Die restliche Zeit entfällt auf frei gestaltbare Stunden und organisierte Freizeitaktivitäten. Ich halte Kooperationen für eine gute Sache, da so mehr Wirklichkeit in die traditionell abgeschlossenen Schulen kommt.
Skola 2000 hat nichts gegen die Ganztagsschule einzuwenden. Uns kommt es primär darauf an, die Art des Lernens und des Unterrichts zu verändern.
Online-Redaktion: Wie ist es zur Idee von Skola 2000 gekommen?
von Groote: 1994 kam ein neuer Lehrplan heraus, der starke Veränderungen mit sich brachte. Die Zielsetzungen für die Schüler wurden hier von Kann- zu Soll-Bestimmungen. Die Verantwortung für das Erreichen der Ziele weist der Lehrplan hauptsächlich den Schulen zu. Ingemar Mattson war damals Abteilungsleiter in der staatlichen Schulbehörde und sah das Potential dieses Lehrplans. Er wollte etwas Positives daraus gewinnen, was auch praktikabel sein würde. Für ihn sollte es nicht bei den schönen Worten - den Menschen als Ganzes zu sehen, Migranten zu integrieren, Mobbing zu unterbinden - bleiben. In Zusammenarbeit mit einer Universität versuchte er herauszufinden, wie sich eine Schule verwirklichen lassen könnte, die nach dem neuen Lehrplan funktionieren würde. Das Ergebnis war das Skola 2000-Konzept, das zunächst in der Gegend um Stockholm verwirklicht wurde und sich seitdem in vielen Schulen verbreitet hat.
Online-Redaktion: Was ist das Besondere am Skola 2000-Konzept?
von Groote: Skola 2000 beruft sich auf den staatlichen Lehrplan, der Grundwertefragen beinhaltet: Was will man mit der Schule überhaupt erreichen? Dazu spricht der Lehrplan an, wie Leistungen gefördert werden sollen. Es wird zwischen Zielen unterschieden, die man erreichen muss, und solchen, die man erstreben soll. Es besteht hier eine Offenheit, schwache wie starke Schüler zu fördern.
In Schweden müssen schwache Schüler nicht sitzenbleiben. Falls diese Schüler im Unterricht nicht mitkommen, stehen spezielle Lehrer bereit - Pädagogen, die eine besondere Kompetenz besitzen, zum Beispiel mit leseschwachen Schülern umzugehen. Die Gemeinden werden gezwungen, Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um das Erreichen der Mindestziele auch dieser Schüler zu gewährleisten. Die leistungsstarken Schüler wiederum werden so gefördert, dass sie die veranschlagten Ziele, die man anstreben soll, erreichen können. Es wird also die Möglichkeit eröffnet, sich an den individuellen Bedürfnissen der Schüler zu orientieren.
Skola 2000 möchte diese individuelle Förderung so gut wie möglich umsetzen. Zu Beginn stand die Erkenntnis, dass dies in traditionellen Klassen von 30 Schülern mit Frontalunterricht im 40 Minuten-Rhythmus nicht möglich ist. Die Skola 2000-Schulen arbeiten stattdessen mehr mit auf die einzelnen Schüler zugeschnittenen Plänen und Aufgaben. Die Lehrer überlegen zusammen mit den Schülern und teilweise auch mit den Eltern, welche Lernziele der Einzelne erreichen kann. Die Schüler beschäftigen sich daher auch jeweils mit unterschiedlichen Dingen und kommen in manchen Fächern weiter als andere.
Online-Redaktion: Welche Veränderungen bringt diese Art des Lernens noch mit sich?
von Groote: Der Verzicht auf Klassen führt dazu, dass die Schulen umgebaut werden. Bei kleineren Lerngruppen benötigt man auch kleinere Räume. Für die Lehrer bedingt diese andere Lehrart eine andere Form der Zusammenarbeit. Man muss in Teams arbeiten, um das Ziel, sich den Schülern anzupassen, zu erreichen. Der traditionelle Stundenplan, der im 45-Minuten-Rhythmus Stunde für Stunde absolviert, wird hier nicht gebraucht. Zwar kenne ich keine Schule, die keinen Grundstundenplan hat, aber die eigentliche Arbeit liegt bei den Teams. Diese müssen ihre Kurspläne so gestalten, dass die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Schüler unterstützt werden und diese so ihre gesteckten Ziele erreichen.
Online-Redaktion: Wie muss man sich das Verhältnis der Lehrer zu den Schülern vorstellen?
von Groote: Die Lehrer sind wie Mentoren, die ihre Schüler betreuen, was auch das Soziale einschließt. Jeder Schüler hat seinen Mentor. In den höheren Jahrgängen sinkt die Zahl der Lehrer, die jeder Schüler hat. Hier in Schweden ist es beispielsweise üblich, dass ein Lehrer Mathematik, Physik, Chemie und Biologie unterrichtet. Ein anderer gibt Schwedisch, Englisch und Deutsch.
Dass Lehrer in fünf- bis achtköpfigen Teams arbeiten und eine gemeinsame Verantwortung für ihre Schülergruppen von durchschnittlich 80 Schülern übernehmen, ist ein Hauptmerkmal der Skola 2000-Schulen und in Schweden durchaus nicht allgemein üblich. Es gibt quasi mehrere kleine Schulen in der großen. Ein Vorteil ist, dass die Lehrer ihre Schüler so gut kennen lernen und auch besser kontrollieren können. Dennoch herrscht bei den Schülern ein größeres Freiheitsgefühl vor, da ihnen eine größere Eigenkontrolle über ihr Lernen und eine höhere Mitbestimmung bei Projekten zugestanden wird.
Aktuell liegt ein Gesetzesvorschlag des neuen Schulministers vor, der den Eltern von gemobbten Schülern das Recht zuweist, die Gemeinde zu verklagen. Damit wird der Schule noch größere Verantwortung für das Wohlbefinden ihrer Schüler zugewiesen. In Skola 2000-Schulen ist das Mobbing allerdings ein relativ geringes Problem. Man tut hier viel dafür, dass sich die Kinder und Jugendlichen wohlfühlen, auch von der Einrichtung her: Statt dunkler Korridore gibt es hier viel Glas und Licht, und ein Erwachsener ist immer in der Nähe.
Online-Redaktion: Sind die Lehrer, die dermaßen große Verantwortung für das soziale Wohl der Schüler übernehmen sollen, denn von ihrer Ausbildung her darauf vorbereitet?
von Groote: Es ist einiges in der Ausbildung passiert, wenn auch noch nicht genug, wie manche einwenden.
Online-Redaktion: Was geschieht denn, wenn Lehrer den Anforderungen, die Skola 2000 an sie stellt, nicht gewachsen sind?
von Groote: In Schweden herrscht Lehrermangel. Nur gute Schulen wie die Skola 2000-Schulen haben sich inzwischen einen Ruf erworben, der besonders viele Lehrer anzieht, sodass es diesen Schulen möglich ist, nur geeignete Bewerber anzustellen, die zu diesem Modell passen. Sollte es aber mal so sein, dass sich ein Lehrer als nicht geeignet herausstellt, muss sich die Schulleitung bemühen, die Kompetenz des Betreffenden durch Weiterbildung oder Gespräche zu erhöhen. Das gelingt natürlich nicht immer, aber in Skola 2000-Schulen habe ich solche Probleme noch nicht erlebt.
Online-Redaktion: Werden die Lehrerinnen und Lehrer nach Leistung bezahlt?
von Groote: Bei einer Anstellung gilt das Prinzip des individuellen Lohns, der zwischen dem Lehrer und dem Schulträger ausgehandelt wird. Der Gemeindeverbund und die Lehrergewerkschaft haben ausgehandelt, dass nach Leistung bezahlt wird: Wie erfolgreich ist jemand im Unterricht? Wie ist die Bereitschaft, sich weiterzubilden? Es sind nicht nur Fachkenntnisse gefragt, sondern auch Kompetenzen wie Teamfähigkeit.
Online-Redaktion: Sie sprachen das Thema Migration an. Gibt es an schwedischen Schulen Probleme mit Schülerinnen und Schülern, die die schwedische Sprache nicht beherrschen?
von Groote: Schüler aus Einwandererfamilien erhalten parallel zum Schulunterricht verstärken Schwedischunterricht. Die Schule leistet so ihren Beitrag zur Integration. Darüber hinaus gilt aber sicherlich auch für diese Kinder, dass die Schule sie so fördern muss, dass sie ihre Lernziele erreichen.
Online-Redaktion: Wie können deutsche Schulen das Skola 2000-Konzept kennen lernen?
von Groote: Erstens kann man die Skola 2000-Schulen besuchen und anschauen, wie sie funktionieren. Zweitens können wir in Deutschland Tagungen organisieren und Vorträge halten. Zum Dritten kann man sich bei uns auch telefonisch erkundigen. Ich selbst bin so eine Art Freier Mitarbeiter bei Skola 2000. Ich finde das Konzept gut, besonders, dass nichts vorgeschrieben wird, sondern jede Schule ihren eigenen Weg finden kann. Der gemeinsame Nenner ist lediglich die Organisation in kleinen Arbeitseinheiten.
Kategorien: Ganztag vor Ort - Lernkultur und Unterrichtsentwicklung
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