Tagesschulen: Starke Teams mit starken Kindern : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Das Wohlbefinden in der Tagesschule stand am 4. März im Mittelpunkt einer Tagung des Verbandes Bildung und Betreuung und der Pädagogischen Hochschule in Bern.
Am 14. März wird der Zürcher Kantonsrat über das Volksbegehren „Bezahlbare Kinderbetreuung für alle“ diskutieren, über das dann am 25. September 2016 abgestimmt werden wird. Das Angebot familienergänzender Betreuung und Tagesstrukturen für Kinder im Vorschul- und Schulalter ist in den letzten Jahren in der Stadt Zürich sehr ausgebaut worden. Im restlichen Kantonsgebiet gibt es aber sowohl beim Angebot als auch bei den Kosten sehr große Unterschiede zwischen den Gemeinden. Das möchte die Initiative ändern.
Die Situation in Zürich zeigt dreierlei: In Sachen Tagesschulen, sprich Ganztagsschulen, hat sich in den vergangenen Jahren in der Schweiz erstens viel bewegt, es bleibt zweitens viel zu tun, und es kommt drittens auf die Kantone und Gemeinde an. „Wir sind auch da sehr föderal“, schmunzelt Priska Hellmüller, Bereichsleiterin Kader- und Systementwicklung an der Pädagogischen Hochschule Bern. „Die Entwicklungen sind überall unterschiedlich.“
Um überregionale Konzepte der Ganztagsbildung zu unterstützen, organisierte der Verband Bildung und Betreuung Schweiz gemeinsam mit der Pädagogischen Hochschule am 4. März die Tagung „Tagesschulen – Starke Schulen, starke Kinder, starkes Team“ in Bern. Rund 130 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Deutsch-Schweiz kamen, weitere Interessierte mussten aus Platzgründen zurückgewiesen werden. „An den Anmeldungen sehen wir die hohe Nachfrage“, meinte Priska Hellmüller.
Tagesschule als zentrales Anliegen
„Wir haben das alles ehrenamtlich vorbereitet “, berichtet Dr. Christine Flitner, die Präsidentin des Verbandes Bildung und Betreuung. Der Verband, der ohne öffentliche Mittel auskommen muss, engagiert sich für eine qualitativ hochwertige Ganztagsbildung als fester Bestandteil der Volksschule, die in der Schweiz den Kindergarten, die Primarschule und die Sekundarstufe I umfasst. „Meine Kolleginnen sind beim Münchner Ganztagsschulkongress gewesen und waren tief beeindruckt. Damit können wir hier mit unseren bescheidenen Mitteln noch nicht mithalten“, so Christine Flitner.
Mit ihrer thematisch interessanten Mischung aus Vorträgen und sechs „Ateliers“, in denen Mittagessen, Raumgestaltung, Rhythmisierung und Musik, aber auch Themen wie Beziehungsstrukturen oder Sexualisierung des (Schul)Alltags diskutiert wurden, musste sich die Veranstaltung keineswegs verstecken. Sie sorgte vor allem für einen regen Austausch zwischen Schulleitungen, Koordinatorinnen, Lehrkräften, pädagogischen Mitarbeiterinnen, Betreuerinnen sowie Leitungen von Kindertagesstätten.
Zur Begrüßung erklärte Dr. Bernard Pulver, Erziehungsdirektor im Kanton Bern, dass die Ganztagsschule seit 2006 ein „zentrales Anliegen“ in Bern sei. „Am Anfang war es eine familien- und wirtschaftspolitische Idee und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf das zentrale Argument. Wir haben aber schnell gemerkt, dass der pädagogische Aspekt auch eine Rolle spielt und die Tagesschule es besser ermöglicht, Kulturtechniken zu lernen und zu üben und Sozialkompetenzen zu unterstützen. Für Dinge, bei denen man von der Schule erwartet, sie einfach mal so nebenbei mit zu machen, ist die Tagesschule ideal“, führte Pulver aus.
Starke Beziehungen
Prof. Dr. Gottfried Hodel, Leiter des Instituts für Weiterbildung und Medienbildung an der PH Bern, erklärte in seinem Grußwort, dass der Wunsch eines Kindes, „dass die Erwachsenen mir etwas zutrauen“, gut in die Ganztagsschule passe. „Wissen ist dabei nicht das Einzige. Auch Vertrauen und Selbstvertrauen sind wichtig, ebenso starke, positive Beziehungen und feste Bezugspersonen.“
Solche Bezugspersonen können Erzieherinnen und Erzieher sein. „Wobei wir in der Schweiz noch keine Definition der Arbeit dieses Berufes haben“, wie Priska Hellmüller im Anschluss an den Vortrag „Gesunde Strukturen – gesunde Mitarbeitende“ des deutschen Arbeitswissenschaftlers Prof. Bernd Rudow bedauerte.
Aus seiner Berliner Studie über die Belastungen von Erzieherinnen an Ganztagsgrundschulen folgert Rudow, dass die Bedeutung der Arbeit von Erzieherinnen und Erziehern mit ihrem erweiterten Bildungsauftrag zunimmt. Diese Arbeit werde hingegen zu wenig anerkannt. Gegen die „Semi-Professionalität“ – eine Hochschulausbildung ist noch selten, das Berufsfeld gegenüber klassischen Professionen noch wenig spezialisiert – sollten sich Erzieherinnen und Erzieher verstärkt beruflich qualifizieren. „Es braucht Fortbildungen“, so resümierte Rudow.
Was sich Schülerinnen und Schüler wünschen
„Im Betreuungsraum auf dem Sitzsack zu lesen ist tschillig“ hatte Prof. Patricia Schuler Braunschweig ihren Vortrag überschrieben. Die Erziehungswissenschaftlerin und Leiterin des Zentrums „Professionalisierung und Kompetenzentwicklung im Bildungsbereich“ an der PH Zürich, zu deren Forschungsschwerpunkt auch die Ganztagsbildung zählt, leitet unter anderem das Projekt „AusTEr – Aushandlungsprozesse der pädagogischen Zuständigkeiten in Tagesschulen im Spannungsfeld öffentlicher Erziehung“. Das Projekt geht der Frage nach, welche Art von Partnerschaft zwischen Familie, Schule und Betreuung sinnvoll ist, um in Tagesschulen eine optimale Forderung der Kinder zu gewährleisteten.
In Bern beschäftigte sich die Wissenschaftlerin mit der Frage, „wo Kinder sich in den Tagesschulen wohlfühlen“. Die wenigsten Schulhäuser seien für eine gebundene Ganztagsschule konzipiert worden, was die ganztägige Bildung erschwere. Befragungen von Schülerinnen und Schülern durch die Arbeitsgruppe Ganztagsbildung an der PH Zürich ergaben, dass sie Ruhe, Sicherheit und das Zusammensein mit ihren Peers als besonders wichtig ansehen. Die Kinder wünschten sich freie Zeiten, Rückzugsmöglichkeiten und Wechsel von Anspannung und Entspannung innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers. „Die Schülerinnen und Schüler begreifen ihr Schulzimmer als ein Stück Heimat“, fasste Patricia Schuler zusammen.
Gemeinsame Bildungsstrategie im Ganztagsteam Mooseedorf
Der Übergang von der offenen zur gebundenen Ganztagsschule stand im Mittelpunkt des Ateliers „Von der modularen Tagesschule zum gestalteten Alltag“, in dem zwei Schulen ihre Praxis vorstellten: die Tagesschule Mooseedorf und die Schule Am Wasser aus Zürich. Denn „Verzahnung von Bildung und Betreuung“ und Kooperation des pädagogischen Personals gehören auch für die Schweizer zu einer „echten Ganztagsbildung“.
Mooseedorf ist eine knapp 4.000 Einwohner starke Gemeinde im Kanton Bern. Die Tagesschule, die von der 1. bis zur 9. Jahrgangsstufe reicht, arbeitet inzwischen im elften Jahr. „Als wir 2005 als Pilotprojekt starteten“, berichtete Tagesschulleiterin Franziska Frauchiger, „gab es Stimmen, dass wir die Familien bedrohen“. Doch die Idee der Tagesschule setzte sich durch. Heute können in der Schule ganztägige Angebote von 7.00 bis 17.45 Uhr und vier Wochen Ferienbetreuung genutzt werden.
Startete die offene Ganztagsschule 2005 mit 38 Schülerinnen und Schülern, so sind es heute rund 200 von insgesamt 400 Kindern und Jugendlichen im gebundenen Ganztag. Zum 20-köpfigen Team gehören die Schulleitung, Lehrerinnen und Lehrer, Betreuerinnen, eine Schulsozialarbeiterin, Aufgabenhelfer, eine Heilpädagogin, eine Asylberaterin, eine Köchin und Praktikanten. Regelmäßig findet ein fachlicher Austausch zu allgemeinen Themen, zur Erziehungsberatung sowie zu Krisensituationen statt.
Die betreute Freizeitgestaltung über Mittag und am Nachmittag umfasst unter anderem freies Spielen, Basteln, Lesen, Spiel und Sport. Am Mittwoch- und Freitagnachmittag finden Aktivitäten auch außerhalb des Schulhausgeländes statt. Schule, Tagesschule, Kindergarten und Jugendarbeit haben sich auf eine gemeinsame Bildungsstrategie verständigt und initiieren gemeinsame Projekte. „Es gibt gegenseitiges Verständnis und gegenseitige Unterstützung“, beschrieb Franziska Frauchiger die Basis für das Erfolgsrezept „Starkes Team – starke Kinder“.
Starke Lernbeziehungen in der Schule Am Wasser
Die Schule Am Wasser in Zürich liegt in einem Stadtteil, der sozial sehr gemischt ist. Zur Schule gehören Kindergärten, Unterstufen- und Mittelstufenklassen sowie sechs Mittags- beziehungsweise Abendhorte. 220 der insgesamt 340 Schülerinnen und Schüler besuchen an einem oder mehreren Tagen die Horte. Die Öffnungszeiten reichen von 7.00 bis 18.00 Uhr.
2007 erhielt die Schule einen Erweiterungsbau und damit auch eine Bibliothek, einen Musikraum und Räume für das Lehrerteam. Jetzt gibt es kein „Lehrerzimmer“ mehr, sondern ein „Teamzimmer“. Die Schule kooperiert mit den Zürcher Naturschulen und mit der Musikschule Zürich, die Instrumental- und Gesangsunterricht für die Schülerinnen und Schüler anbietet. Sportangebote, die vom Sportdepartment Zürich vermittelt werden, gehören selbstverständlich auch dazu.
„Wir möchten in der Gemeinschaft die Vielfalt nutzen und ganzheitlich bilden“, erläuterte Schulleiterin Susanne Gauch. „Die Schülerinnen und Schüler sollen das Lernen zu ihrer eigenen Sache machen. Daher haben wir Projektnachmittage eingeführt. In jeder Klasse sind außerdem zwei Lehrpersonen, die auch außerunterrichtliche Angebote anbieten. Und wir legen den Schwerpunkt auf starke Lernbeziehungen.“
Die zahlreichen Nachfragen in den Ateliers zeigten den Informationshunger der Teilnehmenden. Es war sicherlich nicht die letzte gelungene Veranstaltung des Verbandes Bildung und Betreuung, denn das Interesse an der Ganztagsschule ist auch in der Schweiz groß.
Kategorien: Forschung - Internationale Entwicklungen
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